Neudeck sagte, bisher habe die seit einer Woche offiziell geltende Feuerpause nur einen Tag richtig gehalten. Zumindest in dem Sinn, dass man von Waffenruhe sprechen könne: "Dass man aufatmen kann, dass Kinder rausgehen können und Fußball spielen können." Aktuell sei es auch nur großen, in Damaskus akkreditierten Hilfsorganisationen möglich, den Menschen direkt vor Ort zu helfen. Die Grünhelme hätten es aber geschafft, von der Grenze zur Türkei Konvois nach Syrien zu bringen.
Der Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur betonte: "Die Hälfte der syrischen Bevölkerung hat unter heroischen Bedingungen es geschafft, im Lande zu bleiben." Es sei unglaublich, was diese Bevölkerung geschafft habe im Aushalten von Bombenangriffen, Terror, Konflikt und Vertreibung. Er fürchte aber ein Szenario: Wenn die Konfliktparteien sich entschlössen, die Feuerpause zu beenden, "dann kann es sein, dass uns 1,5 Millionen Menschen noch mal über die Türkei und Lesbos und die Balkanroute - ganz gleich wie zu sie ist - nach Mitteleuropa kommen." Das sei durchaus möglich. "Und dann gute Nacht Europa."
Das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Nicht überall ruhen in Syrien die Waffen. Syrische Kurden haben in dieser Woche einen strategisch wichtigen Hügel nahe der umkämpften Großstadt Aleppo von der islamistischen Nusra-Front erobert. Das berichten Aktivisten und syrische Staatsmedien übereinstimmend.
Das zählt nicht als Bruch der seit einer knappen Woche geltenden Waffenruhe in Syrien, denn die Nusra-Front und die Terrorbande IS sind in dem Abkommen ausdrücklich ausgenommen worden. Unterdessen verzögern sich Hilfskonvois für belagerte Gebiete. Die UN nennt logistische Probleme zur Begründung.
In den Schatten dieses Krieges ist der eigentliche Nahost-Konflikt getreten. Am Sonntag berät die Organisation islamischer Staaten auf Antrag von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas über die Lage der Palästinenser. Über beides haben wir vor dieser Sendung mit Rupert Neudeck gesprochen, dem Gründer der Hilfsorganisationen "Cap Anamur" und "Grünhelme". Die Grünhelme hatten sich nach einer Entführung von Mitarbeitern, die sich später dann haben befreien können, aus Syrien zurückgezogen.
Die Hilfsorganisation hat aber weiterhin den Kontakt nach Syrien gehalten. Deshalb habe ich Rupert Neudeck zunächst gefragt, ob er die Waffenruhe als tragfähig einschätzt.
Rupert Neudeck: Ich denke, dass sie bisher nur einen ganzen Tag richtig gehalten hat in dem Sinne, wie man von Waffenruhe sprechen kann, dass man aufatmen kann, dass Kinder rausgehen können, Fußball spielen können. Ansonsten ist das ganze Waffenruhekonzept abhängig von den Bedingungen, die die Kriegsparteien, die Konfliktparteien gestellt haben, und sie ist abhängig von dem Mächtigsten, der das Ganze Land beherrscht, nämlich von Moskau und Putin.
Heinemann: Was heißt das für Humanitäre jetzt? Könnten Sie sich vorstellen, in der jetzigen Situation mit Ihrer Organisation nach Syrien zurückzukehren?
Neudeck: Das kann man noch nicht in der aktuellen Situation. Das was gesagt wird von den humanitären Korridoren, das betrifft immer nur die in Damaskus akkreditierten großen Organisationen, als da sind das Rote Kreuz, der Rote Halbmond, die großen kirchlichen Organisationen. Das ist alles für uns natürlich nicht gedacht.
Dennoch muss man sagen, sowohl vorher wie jetzt bei der Waffenruhe haben wir immer es geschafft, von der Grenze der Türkei Konvois nach Syrien reinzubringen. Die waren manchmal bitter notwendig.
Als Aleppo vor vier Monaten die Versorgung mit Babynahrung durch den UNHCR und die UNO nicht mehr hatte, haben wir es geschafft, einen Riesenkonvoi - mit wir meine ich jetzt Grünhelme und die syrische Organisation Barada, mit der wir das zusammen machen -, 1.900 Paletten nach Aleppo und Hama zu bringen. Das war für die Menschen, glaube ich, wirklich die Hilfe in letzter Not. Das kann man heute auch noch mal machen. Die Leute, die an der Grenze sind, sind praktisch die Mithelfer, die Aktivisten, die sich im Lande bewegen und die auch solche Konvois noch aufgrund ihrer Findigkeit, ihrer Schlauheit durchbringen können.
"Es wird eine wahnsinnige Arbeit sein"
Heinemann: Irgendwann und hoffentlich bald wird man Städte wieder aufbauen müssen, können hoffentlich. Wie macht man das, wie geht man das praktisch überhaupt an?
Neudeck: Ich hatte jetzt das Erlebnis, eine andere große Stadt in der Nachbarschaft, nämlich in Sindschar im Nord-Irak, die Hauptstadt der Jesiden, zu besuchen, die total in den Boden eingestampft ist, weniger durch Bombenangriffe als durch Artillerie der IS. Und da kann man erkennen, was ein solcher Wiederaufbau einer Großstadt bedeutet.
Einmal muss eine Minen-Räumkampagne beginnen, denn es liegen natürlich Sprengkörper und Minen in den Straßen und Gassen dieser Großstadt, dieser Megacities herum, und die müssen erst entschärft und gefunden werden, ehe man praktisch die Innenstädte freigeben kann. Wenn man das geschafft hat, dann kann der Aufbau beginnen. Die Älteren unter den Zuhörern werden das noch wissen aus der Zeit _45, _46, _47, wie man die Grundstücke aufgeräumt hat, die Trümmerfrauen damals und so. Das wird man alles dann beginnen müssen, aber es wird eine wahnsinnige Arbeit sein.
"Dann gute Nacht, Europa"
Heinemann: Wie wichtig wäre es, dieses Signal jetzt auszusenden, dass der Aufbau beginnt, damit die Menschen auch im Land bleiben?
Neudeck: Das wäre das Allerallerwichtigste, und ich frage mich, warum das nicht geschieht, warum das jedenfalls nicht in der Weise geschieht. Die Hälfte der syrischen Bevölkerung hat unter heroischen Bedingungen es geschafft, im Lande zu bleiben. Das ist unglaublich, was diese Bevölkerung geleistet hat im Aushalten von Bombenangriffen, von Terror, von Beschuss, von Konflikten, von Vertreibung.
Die könnten aber jetzt - und das ist das Szenario, das ich fürchte in den nächsten Tagen und Wochen. Es kann natürlich noch mal passieren: Wenn die Konfliktparteien sich entschließen, die Feuerpause nicht weiterzumachen - das ist ja auch möglich -, dann kann es sein, dass uns 1,5 Millionen Menschen noch mal über die Türkei und Lesbos und die Balkan-Route, ganz gleich wie zu sie ist oder so, dass die uns noch mal nach Mitteleuropa kommen. Das ist durchaus möglich, und dann gute Nacht, Europa.
Heinemann: Sie haben, Herr Neudeck, sich in den vergangenen Tagen in Israel aufgehalten. Wie blicken die Menschen dort auf den Krieg, der ja nur jenseits der Landesgrenzen stattfindet?
Neudeck: Einmal mit einem schlechten guten Gewissen, was die Israelis angeht. Sie behandeln verletzte, verwundete Rebellen und Kämpfer und Zivilisten in Krankenhäusern auf den Golan-Höhen, die ja völkerrechtlich zu Syrien gehören, nehmen aber niemanden auf.
Zugleich in Palästina, bei den Palästinensern ist das Interesse eher gedämpft. Das muss man aber verstehen, kann man auch verstehen, weil die haben so viel mit ihrer eigenen Existenz und mit ihrer Perspektive für ihr Leben, für ihre Familie, für ihre Kinder zu kämpfen, dass sie sich um diesen Krieg kaum kümmern können.
"Wir haben immer viele, viele Hindernisse aufseiten der Bürokratie"
Heinemann: Und Sie haben sich jetzt genau mit dem Alltag dieses Ur-Nahost-Konflikts beschäftigt. Ihre Organisation plant den Bau einer Berufsschule für Palästinenser in den besetzten Gebieten. Welche Hürden müssen Sie bei solchen Projekten überwinden?
Neudeck: Je weniger Vollmacht und Verantwortung und Kompetenz eine sogenannte Regierung hat, desto mehr Schwierigkeiten hat man als Organisation, wenn man ein solches gewaltiges Unternehmen beginnen will. Wir haben immer viele, viele Hindernisse aufseiten der Bürokratie. Wir haben aber auch gute Freunde in Palästina, die uns dabei sehr gut helfen können, weil sie Beziehungen haben.
Wir haben einen Arzt in Bed Saru, den ich seit 15 Jahren kenne. Der hat uns versprochen, dass er uns bei den Genehmigungen helfen wird. Und es gibt auch schon ein Gelände, was ausgeguckt ist. Es wäre aufs Innigste zu wünschen, weil das braucht das Land sowieso, ganz gleich wie es in den nächsten Wochen, Monaten, Jahren existieren wird, ob als zweiter Staat oder als weiter besetztes Gebiet.
"In den letzten 40 Jahren ist nichts geschafft worden für die Herstellung einer Souveränität des palästinensischen Staates"
Heinemann: Sie sprachen von der geringen Kompetenz einer Regierung. Welche war da genau gemeint?
Neudeck: Ich meine natürlich die Autonomiebehörde. Da läuft einfach seit 40 Jahren, seit 1967, seit der Eroberung dieser Gebiete fast alles falsch, im Sinne des Völkerrechts sowieso. Ein Freund in Palästina hat mir jüngst eine wunderbare Lösung des Problems geliefert. Er hat gesagt: Weißt du, wir sind das regierungsreichste Volk der Erde. Wir haben drei Regierungen. Wir haben eine in Ramallah.
Wir haben eine in Gaza. Und wir haben eine in Israel im Gefängnis. Und wenn diese drei Regierungen sich diese Nacht verständigen würden und sich klar machen würden, dass in den letzten 40 Jahren nichts geschafft worden ist für die Herstellung einer Souveränität des palästinensischen Staates, dann sollten sie doch sagen, wir geben den ganzen Schwindel zurück an den Gründer des Staates, sowohl Israel wie Palästina, und das ist die UNO. Und wenn man das täte, dann wäre was los in der Welt, und vielleicht wären wir dann auch einen großen Schritt weiter auf dem Weg zur Lösung dieses wahnsinnigen Problems.
Heinemann: Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation "Grünhelme". Das Gespräch haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.