Der Wiederaufbau ist ein Reizwort, weil das natürlich bedeutet, dass man vermeiden möchte, dass der Eindruck entsteht, dass man jetzt das Assad-Regime anerkennt und Geld ins Land bringt, damit dort die Infrastruktur wieder aufgebaut werden kann
Aus europäischer Perspektive ist es natürlich vor allem wichtig, dann die Situation in den Flüchtlingslagern in den angrenzenden Staaten zu lindern, wo sich die Lage ja nicht verbessert hat und für viele Syrer auch die Hoffnung auf Rückkehr nicht wirklich erhärtet hat. Das ist im europäischen Eigeninteresse
Tobias Armbrüster: Der Krieg in Syrien – Experten sagen immer wieder, dieser Krieg sei in seiner Endphase. Der Islamische Staat und auch die anderen Gegner des Assad-Regimes, sie seien am Ende, sie lieferten sich nur noch vereinzelt Gefechte. Aber gekämpft wird natürlich immer noch, und wie der Frieden in Syrien jemals aussehen soll, das ist immer noch völlig offen. Seit zwei Tagen beraten nun wieder einmal Experten in Brüssel darüber, wie die übrige Welt dem Land helfen kann – bei einem Neuanfang, bei einem Neuaufbau. Und klar wird bei diesen Beratungen und im Umfeld dieser Beratungen auch, was viele Menschen in Syrien derzeit noch so alles umtreibt.
Am Telefon ist jetzt der Nahost-Experte und Publizist Daniel Gerlach. Er ist unter anderem Chefredakteur des Fachmagazins "Zenith". Das ist eine Zeitschrift, die sich vor allem mit dem Nahen Osten beschäftigt. Schönen guten Morgen, Herr Gerlach.
Daniel Gerlach: Ja! Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Herr Gerlach, kann so eine Konferenz wie die, die da gerade in Brüssel läuft, kann so eine Konferenz mehr als nur Hilfsorganisationen an einen großen Tisch zusammenbringen?
Gerlach: Ja, selbstverständlich kann sie das. Sie kann natürlich vor allem die Geber mobilisieren – dafür, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen und humanitäre Hilfe zur Verfügung stellen. Allerdings gibt es natürlich folgendes Problem: Die europäischen Staaten sind sich manchmal nicht ganz einig darüber: Erstens, wie sie mit dem syrischen Regime und dem Syrien-Konflikt insgesamt verfahren sollen, aber auch, wo die humanitäre Hilfe aufhört und wo dann der Wiederaufbau anfängt. Der Wiederaufbau ist ein Reizwort, weil das natürlich bedeutet, dass man vermeiden möchte, dass der Eindruck entsteht, dass man jetzt das Assad-Regime anerkennt und Geld ins Land bringt, damit dort die Infrastruktur wieder aufgebaut werden kann. Das versucht natürlich das syrische Regime, und da ist die Europäische Union sich nicht einig, was die Beziehungen anbelangt, und sie ist sich auch nicht einig, was es bedeutet, Wiederaufbau ja oder nein.
Armbrüster: Das heißt, wir wissen gar nicht, ob diese Milliarden, die da jetzt eingesammelt werden in Brüssel, ob die jemals am richtigen Ziel ankommen?
Gerlach: Das ist bei humanitärer Hilfe natürlich in Konfliktgebieten, wenn man mit solchen Systemen wie dem syrischen zu tun hat, insbesondere, aber auch mit diesen ganzen dschihadistischen Rebellenorganisationen, die dort zum Teil unterwegs sind, immer das Problem: Wie effizient ist die humanitäre Hilfe? Wieviel Geld verschwindet in korrupten Kanälen? Inwiefern unterstützt sie auch die bestehenden Kräfte? Das ist ein großes Problem, was man natürlich in Syrien besonders drastisch sieht und was man da nicht lösen kann und was man gewiss auch auf so einer Geberkonferenz nicht lösen kann.
"Das ist im europäischen Eigeninteresse"
Armbrüster: Können denn diese Milliarden, die da jetzt eingesammelt werden, können die irgendwie mehr sein als ein Tropfen auf den heißen Stein? Sorry für dieses Klischee.
Gerlach: Ich denke schon, dass sie mehr sein können, denn das sind ja beträchtliche Summen, mit denen man da rechnet. Das sind Milliardensummen. Jedes Jahr braucht man diese Summen. Aus europäischer Perspektive ist es natürlich vor allem wichtig, dann die Situation in den Flüchtlingslagern in den angrenzenden Staaten zu lindern, wo sich die Lage ja nicht verbessert hat und für viele Syrer auch die Hoffnung auf Rückkehr nicht wirklich erhärtet hat. Das ist im europäischen Eigeninteresse. Aber man sieht in der derzeitigen Situation natürlich ganz besonders drastisch, dass es hier keine Einigkeit gibt. Es gibt Staaten wie zum Beispiel Deutschland und Frankreich, die eine etwas härtere Linie fahren. Es gibt Italien, das eigentlich sagt, wir sollten möglichst schnell da wieder eine Botschaft eröffnen und die Beziehungen zum Assad-Regime normalisieren im Eigeninteresse. Andere Staaten wie Österreich, Ungarn, Tschechien fordern Ähnliches. Da gibt es natürlich keine gemeinsame europäische Position und das ist letztendlich auch das alte Lied. Man hat jetzt das Problem, dass die Amerikaner sich politisch ziemlich zurückgezogen haben, auch gestern angekündigt haben, dass man sämtliche Stabilisierungsmaßnahmen, die natürlich auch auf die humanitäre Lage Einfluss haben, in Syrien einstellen möchte, so einen Act in den Kongress einbringen möchte, der sämtliche Stabilisierungshilfe für Syrien stoppt. Die Amerikaner sind ein ganz unsicherer Partner in dieser Angelegenheit. Man weiß überhaupt nicht, was sie politisch in Syrien wollen, und das verschlechtert natürlich die Situation – vom Brexit und den Diskussionen, die natürlich auch die Konferenz gestern überschattet haben, ganz zu schweigen.
"Einfach mal politische Vorschläge machen"
Armbrüster: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann bleibt es auf völlig unabsehbare Zeit dabei, dass die Europäische Union bei der Lösung dieses Konflikts, beim Frieden in Syrien keine Rolle spielen wird?
Gerlach: Sie kann schon eine Rolle spielen. Dann müsste sie einfach mal politische Vorschläge machen, wie sie sich eine Lösung dieses Konflikts vorstellt. Man hat ja das Mandat ganz klar den Vereinten Nationen übertragen, eine politische Lösung zu erreichen. Da gibt es einen neuen Sondergesandten, Geir Pedersen, der vor einigen Monaten angetreten ist und der an einigen Stellen immer noch seine Antrittsbesuche macht. Der sitzt ja unter anderem dieser Konferenz da in Brüssel auch vor. Die EU hat gesagt, wir unterstützen ganz klar die Versuche der Vereinten Nationen, das irgendwie zu lösen.
Man hat es ja auch in einigen Bereichen geschafft, die Eskalation runterzufahren und dafür zu sorgen, dass es weniger Blutvergießen gibt, was man natürlich auch damit verbinden kann, dass das Assad-Regime einfach in bestimmten Teilen gewonnen hat. Aber es steht noch ein ganz großer Konflikt bevor, und das ist unter anderem die Provinz Idlib, wo der Konflikt eingefroren ist - die einzige Provinz, die noch maßgeblich von Rebellen und zum Teil auch dschihadistischen Gruppen kontrolliert wird -, und da wird irgendwann es wieder die große Eskalation geben. Da fallen jetzt schon wieder Bomben. Die Türkei kontrolliert dieses Gebiet zum Teil. Russland hat jetzt einige Militäroperationen wieder dort geflogen. Da gibt es vier Millionen Menschen und dieser Konflikt wird irgendwann wieder eskalieren, und ich denke, das könnte spätestens im Sommer der Fall sein.
"Die Russen wollen sich jetzt nicht einfach zurückziehen"
Armbrüster: Herr Gerlach, da müssen wir gleich noch drüber sprechen. Zunächst noch eine Frage ganz kurz zur Diplomatie: Kann man eigentlich über einen Frieden in Syrien, über Hilfe für Syrien, so wie jetzt gerade in Brüssel das passiert, kann man darüber sprechen, ohne dass dabei die anderen Mitmischer in diesem Konflikt mit am Tisch sitzen, Länder zum Beispiel wie die Türkei, wie Russland oder auch wie Saudi-Arabien?
Gerlach: Die Türkei sitzt ja mit am Tisch und mit Saudi-Arabien kommuniziert man natürlich auch auf anderer Ebene, mit Russland sowieso. Ich habe auch den Eindruck, dass man in der Diplomatie immer noch große Hoffnungen in die russische Rolle steckt. Das ist ganz interessant, weil zu Beginn des Konfliktes glaubten viele in Europa nicht, dass die Russen irgendetwas bewerkstelligen können, politisch, außer dass sie militärisch eingreifen, um das Assad-Regime zu stützen. Aber ich merke doch immer wieder, je mehr auch die Amerikaner sich zurückgezogen haben und eigentlich als Ansprechpartner ausfallen, dass es eine große Hoffnung gibt, dass die Russen doch irgendwie gesichtswahrend aus der Sache rauskommen wollen und eine politische Lösung finden. Ich habe aber auch den Eindruck, dass die Russen mittlerweile ausgesprochen frustriert sind, was das Assad-Regime anbelangt, und nicht wirklich den Eindruck haben, dass da ein Wille zu erkennen ist, in irgendeiner Form den Russen zu helfen, aus der Sache rauszukommen. Denn die Russen wollen sich jetzt nicht einfach zurückziehen und sagen, wir haben Syrien, wir haben das Assad-Regime gerettet, aber die Hälfte des Landes geholfen zu zerstören, sondern sie wollen tatsächlich in irgendeiner Form politisch was bewerkstelligen. Das könnte vielleicht auf eine Machtteilung hinauslaufen, darauf, dass das Assad-Regime bestimmte Kompromisse macht, bestimmte Personen an der Macht beteiligt. Aber ich sehe noch nicht wirklich die politische Strategie und auch nicht die Ergebnisse seitens Russlands.
Armbrüster: Können Sie denn irgendwie skizzieren, wie eine Lösung, wie eine Struktur, eine Friedensstruktur in Syrien in Zukunft aussehen könnte, wie das Land geordnet werden könnte, um in Frieden zu leben?
Gerlach: Ja, und ich denke, diese Lösung – und die ist vielleicht sehr langfristig gedacht -, die kommt aus der syrischen Gesellschaft, die ein Akteur ist, der hier bisher eigentlich in diesen internationalen Konferenzen von der EU schon wichtig genommen wird, aber insgesamt eigentlich eher nicht in Erscheinung getreten ist. Da gibt es viele Kräfte, und zwar auf beiden Seiten, in dem vom Regime kontrollierten Gebiet, aber auch im Ausland; die wollen diese Logik Regime gegen Opposition überwinden und sagen, das Assad-Regime ist furchtbar und dieser Krieg war entsetzlich, aber wir wollen uns nicht spalten lassen. Ich denke, wenn man nicht mit dem Regime unmittelbar zusammenarbeiten möchte, dann muss man versuchen, mit diesen Kräften in der Gesellschaft zusammenzuarbeiten.
"Auf lokaler Ebene mit gesellschaftlichen Akteuren in Kontakt kommen"
Armbrüster: Herr Gerlach! Entschuldigen Sie, wenn ich Sie da unterbreche! Wie geeint ist denn die syrische Gesellschaft?
Gerlach: Die syrische Gesellschaft ist selbstverständlich gespalten, aber das ist ja keine Überraschung. Die syrische Gesellschaft wurde in Loyalitätslager getrieben, zum Teil die konfessionellen Minderheiten, die sich zu einem Teil dem Assad-Regime zugewandt haben, und die sunnitische Mehrheit, die zum großen Teil sich der Opposition zugewandt hat. Aber das Überraschende ist ja nicht, dass man gespalten ist nach sieben oder acht Jahren Krieg, sondern das Besondere ist, dass man es schafft, aufeinander zuzugehen und wirklich einen neuen Gesellschaftsvertrag für das Land schreiben möchte. Ich denke, das ist eine gute Nachricht, und wenn man mit dem Regime nicht direkt zusammenarbeiten möchte, was ich durchaus verstehen kann – diese Politik, die kann ich nachvollziehen -, dann muss man alles versuchen, um mit diesen gesellschaftlichen Kräften im Land zusammenzuarbeiten. Das erleben wir jetzt in den kurdischen Gebieten, die so halb unter Regime-Kontrolle sich befinden. Das sieht man auch in vielen anderen Teilen des Landes, dass es nützlich sein kann, auf lokaler Ebene mit gesellschaftlichen Akteuren in Kontakt zu kommen und enge Beziehungen zu pflegen.
Armbrüster: Die aktuell stattfindende Syrien-Geberkonferenz in Brüssel und mögliche Strukturen für ein Syrien in Frieden – wir haben darüber gesprochen mit Daniel Gerlach, dem Chefredakteur des Nahost-Fachmagazins "Zenith". Vielen Dank, Herr Gerlach, für Ihre Zeit heute Morgen.
Gerlach: Ich danke Ihnen!
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