Irgendwo in Damaskus: Die Fassade eines Mehrfamilienhauses, von Einschüssen durchlöchert. Geborstene Außenwände, dahinter schemenhaft die Reste von Wohnungseinrichtungen. Auf dem Grau in Grau, wie hingegossen, ein unwirklich anmutender riesiger Farbfleck in leuchtendem Gelb. In quietschbunten Farben zwei Liebende, die einander leidenschaftlich küssen. Wer genauer hinsieht, erkennt das Motiv. Es ist "Der Kuss“ von Gustav Klimt. Ein romantisches Gemälde auf ganz unromantischem Hintergrund. Die Collage des syrischen Künstlers Tammam Azzam fand im Februar 2013 über den Internetdienst Twitter weltweit Verbreitung. Jetzt ist sie Teil einer Ausstellung, in London und im Libanon.
"Ich möchte für Irritation sorgen. Die Betrachter sollen sich fragen: Wie wäre es, wenn diese Fassade tatsächlich so aussähe?"
Azzams Werke ziehen viele Besucher an
Tammam Azzam, 1980, geboren ist einer der erfolgreichsten jungen Künstler aus Syrien. Ich treffe ihn in der libanesischen Hauptstadt Beirut, mitten im schicken Geschäftszentrum, in der Kunstgalerie Al Ayyam. Die Galerie, die bis zum Krieg in Syrien auch eine Filiale in Damaskus hatte, stellt neue Arbeiten von Azzam aus. Titel: "I, the Syrian". Der Geräuschpegel ist heftig. Über einhundert Besucher sind gekommen.
"Ich habe Syrien sieben Monate nach Beginn der Revolution verlassen und bin nach Dubai gegangen. Dort hatte ich zunächst kein Studio. Deshalb habe ich angefangen, mit digitalen Medien zu arbeiten. Es war nicht ganz einfach, es ist ein neuer Ort."
Schätzungsweise neun Millionen Syrer sind auf der Flucht - innerhalb Syriens oder in den Nachbarländern. Allein im winzigen Libanon leben mittlerweile offiziell gut eine Million Flüchtlinge aus Syrien, und es werden täglich mehr. Die meisten hausen unter erbärmlichen Umständen und mit schrecklichen Bildern im Herzen. Sie mussten mit ansehen, wie Angehörige und Freunde starben; wie ihre Häuser, ihre Straßen, ja ganze Dörfer und Stadtteile komplett zerstört wurden.
"Es gibt keinen Ort mehr, an den man zurückkehren kann. Nicht nur die Häuser sind zerstört. Auch den geographischen Ort gibt es nicht mehr. Er existiert nur noch in der Phantasie."
Zerstörung und Leid sind unfassbar
Auf vielen Fotocollagen von Tammam Azzam sind ausgebombte, zerschossene Häuser und Wohnungen zu sehen. Orte, die einmal ein Zuhause waren, warm, vertraut, familiär. Orte, die es nicht mehr gibt. Die Zerstörungen, die körperlichen Verletzungen und das menschliche Leid sind unfassbar. "Wie kann man sich mit Kunst beschäftigen, wenn in Syrien an einem Tag mehr als 200 Menschen getötet werden?" fragt Tammam Azzam.
"Ehrlich gesagt, es gibt im Moment keine Visionen in bezug auf Syrien. Optimismus und Zuversicht sind reine Phantasie. Verzweiflung ist die einzige Wahrheit."
Dennoch gelingt es Azzam mit seinem künstlerischen Einfallsreichtum, Funken der Hoffnung und der Liebe zu entzünden. Mit Photoshop baut er in die schwarzweißen Bilder syrischer Ruinen Ausschnitte aus Gemälden weltberühmter Künstler ein – knallbunt und provozierend fröhlich. Man sieht die berühmten orangeroten Figuren von Matisse in ovaler Formation in den Ruinen tanzen; Südseeschönheiten von Gauguin sitzen in einem Flüchtlingslager. Azzam nutzt Verfremdung und Satire. Eine Serie von Collagen zeigt ein ausgebombtes syrisches Mehrfamilienhaus, das von bunten Luftballons gehalten wird und am Himmel schwebt – gänzlich entrückt, mal über London, mal über New York. Die Welt soll nicht vergessen, was in Syrien passiert.
Azzam will aufrütteln
"Wir müssen als Künstler die Wirklichkeit herausfordern, auch wenn die Kunst dem nicht gewachsen zu sein scheint. Angesichts der aktuellen Geschehnisse und der Politik hat die Kunst eigentlich keine Chance. Dennoch sind wir als Künstler gefordert, uns zu positionieren."
Bis zum Beginn des Krieges in Syrien malte Tammam Azzam hauptsächlich abstrakt. Mit seinen grafischen, plakativen aktuellen Arbeiten will der Künstler die Menschen aufrütteln. Die Botschaft ist unmissverständlich: Schaut nicht länger weg, sondern öffnet die Augen für das Leid der Menschen in Syrien.