"Bedenkt man, dass die erste Entdeckung der orientalischen Literaturen, ausgehend von Herder und Goethe, gipfelnd in den Übersetzungen von Friedrich Rückert, sich bereits im 18. und 19. Jahrhundert vollzog, hat es bis zu dieser Wiederentdeckung recht lange gedauert. Anders als vor 200 Jahren ist es diesmal vor allem die zeitgenössische Literatur, die im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Wir lesen die Romane und Gedichte von Autoren unserer Lebenszeit, wir laden sie ein, hören ihnen zu, diskutieren mit ihnen, während weder Goethe noch Rückert einen einzigen muslimischen Autor ihrer Gegenwart kannten, geschweige denn gelesen oder getroffen hätten."
Das schreibt der Kölner Islamwissenschaftler und Schriftsteller Stefan Weidner im Vorwort zu der Anthologie "Wortgesang" des berühmten syrischen Lyrikers Adonis. Der wird hierzulande vergleichsweise viel gelesen. Doch es gibt zahlreiche weitere, wesentlich jüngere Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Syrien, die jetzt gerade hier in Deutschland leben, wie die 31-Jährige Rasha Abbas. Die hat aktuell ihren Erzählband mit dem Titel "Die Erfindung der deutschen Grammatik" veröffentlich. Es ist ein Buch über das Ankommen in der neuen Heimat. In Rasha Abbas' Geschichten geht es um deutsche Superhelden, um das Asylverfahren als Videospiel und um Wohnungsbesichtigungen. Es ist der Blick eines Fremden auf unser Eigenes – und eben dieser neue Blick ist interessant.
"Ich bin Rasha Abbas, ich komme aus Syrien und schreibe Kurzgeschichten. Ich bin 31 Jahre alt und lebe seit September 2014 in Deutschland. Als Autorin arbeite ich jetzt in Berlin – meine erste Station hier in Deutschland war Stuttgart. Dort habe ich drei Monate lang im Rahmen des Jean-Jacques Rousseau-Stipendiums gelebt. Danach musste ich mich um meinen Asylantrag kümmern, eine Wohnung finden und versuchen, die deutsche Sprache zu lernen. Erst jetzt ist es ein bisschen ruhiger."
Rasha Abbas kam mithilfe eines Stipendiums
Die Kurzgeschichtenautorin Rasha Abbas ist nicht mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer nach Europa gekommen. Sie hat auch nicht den beschwerlichen Weg über die berüchtigte Balkanroute nehmen müssen. Rasha Abbas lebte bereits mit ihrem Freund, einem libanesischen Schriftsteller, in Beirut, als die Stipendieneinladung aus Stuttgart kam. Fünf Tage hatte sie damals Zeit, um ihren alten Job zu kündigen und ihre Sachen zu packen, um sehr, sehr schnell ins unbekannte Deutschland zu fliegen – wo sie endlich wieder schreiben konnte, Geschichten schreiben, wie daheim, in Syrien.
"Ich habe Syrien 2012 verlassen. Ich war dort nicht mehr sicher. Viele meiner Freunde sind in jenen Tagen verschwunden, einer nach dem anderen. Ich bekam Angst. Deshalb zog ich 2012 nach Beirut. Ich wollte eigentlich nicht lange bleiben, nur so lange, bis sich die Lage in Damaskus wieder beruhigt hätte. Doch je länger ich im Libanon war, umso unsicherer wurde meine Rückkehr. Am Ende habe ich zwei Jahre in Beirut gelebt, bevor ich direkt nach Deutschland weitergereist bin."
In Stuttgart war Rasha Abbas endlich in Sicherheit. Aber mit dem Gefühl der Sicherheit vermischte sich nun ein neues, ein Gefühl der Schuld – man kennt es aus den Erzählungen von Exilanten aller Jahrhunderte. Im September 2014 saß Rasha Abbas im grünen Gras, schaute in den deutschen Wald hinein und dachte daran, was zur gleichen Zeit im weit entfernten Syrien geschah. Sie dachte an ihre Freunde und an all jene, die nicht das gleiche Glück wie sie hatten. Und dann kam das Asylverfahren.
"Im Asylverfahren sind alle gleich. Das finde ich großartig, weil es mein Schuldgefühl ein wenig kleiner macht. Es ist eine Lehre für eine Frau wie mich, die in Damaskus wie in einer Blase gelebt hat. Ich traf mich damals nur mit meinen Collegefreunden – von der Armut der vielen anderen Menschen hatte ich nur gehört. Ich hatte keinen Kontakt zu den Leuten außerhalb meiner Komfortzone in diesem saturierten Mittelstand. Und das ist einer der wichtigsten Gründe, warum es in Syrien eine Revolution gegeben hat. Wenn man dann hier in Europa ist, wird klar, dass wir alle gleich sind. Diese dummen Klassenschranken sind endlich aufgehoben. Hier habe ich die große Chance, die anderen Menschen aus Syrien zu treffen, mit ihnen zu sprechen – es war eine wunderbare Lehre, diese anderen Syrer kennenzulernen, hier in Kontakt zu treten mit denen, die ich daheim nie kennengelernt habe."
Humorvoller Blick auf Deutschland
In ihren Geschichten, die unter dem Titel "Die Erfindung der deutschen Grammatik" beim Berliner Verlag mikrotext erschienen sind, erzählt Rasha Abbas auf humorvolle Weise von ihrem neuen Leben in der Fremde – von den kleinen und großen Problemen und von den Dingen, die ihr hier in Deutschland besonders auffallen; Dinge, über die Einheimische vermutlich niemals nachdenken würden.
"Ich habe zum Beispiel überlegt, warum es keinen deutschen Superhelden gibt wie Superman oder Batman. Ich glaube, dass die Deutschen deshalb keine Superhelden haben, weil die Kraft der Anpassung hierzulande sehr groß ist. Deshalb erfand ich einen Superhelden, der die Regeln bricht, einfach indem er bei Rot über die Ampel geht oder ohne Ticket Straßenbahn fährt."
//- "Guten Tag, entschuldigen Sie die Störung: Sie sind sicher der Herr, den man beauftragt hat, die Bankfiliale vor dem Überfall zu retten, richtig?"
- "Ja, der bin ich."
- "Haben Sie denn auch eine Bankrettungsgenehmigung?"
- "Nein, was soll das überhaupt sein?"
- "Kein Problem. Ich bräuchte nur schnell ein paar Informationen von Ihnen. Dann lasse ich Sie auch gleich wieder zur Tat schreiten."
- "Natürlich."
- "Könnten Sie bitte dieses Formular ausfüllen? Ich brauche Ihren Vor- und Nachnamen und bitte hier auch die Postleitzahl."//
Da will ein deutscher Superheld nicht nur bei Rot über die Ampel gehen, sondern auch die Welt retten; doch er scheitert an der Formulargläubigkeit seiner Landsleute. Die Autorin Rasha Abbas sieht natürlich auch, dass ihr Superheld überzogen ist, aber das Überzogene, das Überdeutliche hat Tradition in der arabischen Literatur, zu deren vornehmsten Ziel die Verständlichkeit gehört; von den Anfängen im 8. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Wenn man bedenkt, dass es nur 70, 80 Jahre her ist, dass deutsche Autoren wie Anna Seghers und Thomas Mann, Irmgard Keun und Lion Feuchtwanger ins Exil gehen mussten, wundert es nicht, dass die Wünsche von Leuten wie Rasha Abbas die gleichen sind, die unsere deutschen Autoren umgetrieben haben. Sie wollen ankommen, dort, wohin es sie gerade verschlagen hat.
Sie kommen also hierhin, viele syrische Autorinnen und Autoren, oft mit Unterstützung des Goethe Instituts, des Literarischen Colloquiums in Berlin, des Schloss Solitude in Stuttgart. Rasha Abbas ist eine von ihnen. Doch es sind noch viel, viel mehr: wie der oben genannte Syrer Aboud Saeed oder der promovierte Zahnarzt und Oppositionsschriftsteller Assaf Alassaf oder die bereits mit Preisen ausgezeichnete Rosa Yassin Hassan. Sie alle mussten nicht mit Schlauchboot nach Europa reisen, sondern bekamen ein Flugticket und ein Visum. Die Übersetzerin Sandra Hetzl erinnert abschließend daran, dass dieser glückliche Weg nicht allen offensteht, nicht einmal allen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Obwohl sie in einer privilegierten Situation sind.
"Ich bin sicher, dass auch einige Autoren mit dem Schlauchboot kommen. Es kommt halt darauf an, ob sie Glück haben. Das Ding ist, dass Leute, die schreiben oder Kunst machen allgemein natürlich allgemein auf der Welt sichtbarer sind, als Leute, die keine Kunst machen. Und wenn Leute schreiben und schon ein paarmal die Möglichkeit hatten, was zu veröffentlichen, dann finden sie vielleicht eher Leute, die sich dann auch die Mühe machen und sagen: Moment mal, fahre jetzt nicht mit dem Schlauchboot, harre noch ein bisschen aus, vielleicht finden wir eine bessere Möglichkeit. Schreiben wir doch mal diese und diese Institutionen an. Aber es gibt jetzt keinen institutionellen Weg, es gibt Versuche, die in die Richtung laufen, aber es gibt kein spezielles Asylverfahren für Schriftsteller."
Buchinfos:
Rasha Abbas: "Die Erfindung der deutschen Grammatik", übersetzt von Sandra Hetzl, mikrotext Berlin, 160 Seiten, Preis: 3,99 Euro
Rasha Abbas: "Die Erfindung der deutschen Grammatik", übersetzt von Sandra Hetzl, mikrotext Berlin, 160 Seiten, Preis: 3,99 Euro