Naharija liegt im Norden Israels, rund zehn Kilometer südlich der libanesischen Grenze. 2006 im Libanonkrieg beschoss die schiitische Terrormiliz Hisbollah die Region mit Raketen. Kriegsverletzte kennt man hier. Seit zwei Jahren aber werden im Krankenhaus von Naharija immer wieder Patienten aus Syrien eingeliefert: Die israelische Armee ruft kurz zuvor an und informiert das Krankenhaus über die Neuzugänge. Sara Paperin von der Klinikverwaltung:
"Wir haben keine Ahnung, wie sie an die Grenze kommen und wie sie nach Israel gelangen. Wir fragen nicht danach, und normalerweise erzählen sie uns auch nichts. Anfangs wurden hier Syrer eingeliefert, die wurden - eingewickelt in Teppiche - an der Grenze abgelegt. Und obwohl dieser Grenzverkehr mittlerweile bekannt ist: Die Patienten bewahren später in Syrien ihr Geheimnis."
"Er ist der Patient - nur darum geht's"
Dabei muss es gute Kontakte geben zwischen dem israelischen Militär und Menschen auf der syrischen Seite. Mittlerweile steht meist schon ein Militär-Krankenwagen bereit, wenn ein Schwerverwundeter am Grenzzaun abgelegt wird. In Naharija wird dann nicht nach dem Namen oder der Herkunft des Patienten gefragt, das sei unerheblich, sagt Sara Paperin:
"Wenn ein verletzter Patient hier über die Krankenhausschwelle kommt, dann ist es egal, ob er Jude oder Araber ist, ob er politisch rechts oder links steht. Er ist der Patient, und wir sind Ärzte oder Pfleger. Nur darum geht's bei unserer Arbeit im Krankenhaus und nur darum geht's bei den verletzten Syrern."
Die Verletzungen sind meist gravierend: Es geht um abgetrennte Gliedmaßen, Erblindungen durch Granatsplitter, schwere Kopfverletzungen. Sara Paperin erzählt von Schüssen auf den Bauch schwangerer Frauen, von jungen Mädchen, die gelähmt sind nach gezielten Angriffen auf die Wirbelsäule.
"Wir bekommen hier alles zu sehen: Wunden durch Kopfschüsse, Hirnverletzungen, wie sie nur auftreten, wenn man jemanden hinrichten will. Verletzungen durch Bomben, Brandwunden, alle Arten von Wunden. Aber unsere Chirurgen können die bestmögliche Behandlung bieten."
Ali kam mit halbem Gesicht
Einer dieser Chirurgen ist Ohad Ronen. Der 44-jährige ist Leiter der Kopf- und Halschirurgie. Sein schwierigster Patient ist Ali, ein junger Mann, dessen Haus durch eine Bombe getroffen wurde, abgefeuert von einem Piloten der syrischen Luftwaffe. Bevor er das erste Mal nach Naharija gebracht wurde, kämpfte er zehn Tage mit dem Tod. Er war bewusstlos, als Ohad Ronen ihn zum ersten Mal sah:
"Seine Verletzung war sehr kompliziert. Er wurde hier eingeliefert ohne Unterkiefer, mit halbem Gesicht. Er konnte nicht essen, das Atmen war schwierig, Reden unmöglich. Es brauchte einige Operationen, um Gewebe aufzubauen, wo später ein Kieferknochen Platz finden könnte. Gefragt waren plastische Chirurgen, Kiefer- und Gesichtschirurgen und Hautärzte. Wir haben Teile seines Wadenbeins entnommen und damit Teile seines Halses und Gesichts aufgebaut. Wir mussten Blutgefäße am Hals schaffen, aus Beinknochen formten wir den Unterkiefer, mit Gesichtsgewebe haben wir versucht, Lippen und Zunge zu rekonstruieren."
Vier Mal musste Ali den geheimen Weg über die syrisch-israelische Grenze gehen. Und die Behandlung ist längst noch nicht abgeschlossen, sagt sein Arzt Ohad Ronen.
"Wahrscheinlich passiert er mit Hilfe des Roten Kreuzes oder mit wem auch immer die Grenze. Er versucht, wann immer er kann, die Behandlung hier fortzusetzen. Aber wir können nicht einen Termin mit ihm ausmachen, an dem er hier erscheinen muss. Wir können ihm zwar sagen, dass wir ihn in ein paar Monaten wiedersehen wollen, aber wir können nie sicher sein, dass er wieder kommt."
Meinung über Israel vollkommen geändert
Ali steht an der Rezeption in der Kopfchirurgie. Er spricht mit zwei Krankenschwestern. Sie sind arabische Israelinnen. Alis Unterkiefer ist mit Verbänden dick umwickelt. Er lacht mit den jungen Frauen. Sie verstehen ihn, auch wenn die fehlende Zunge das Reden fast unmöglich macht.
"Ich wollte anfangs auf keinen Fall nach Israel. Früher sagte jeder, dass dort unsere Feinde sind und dass es sehr gefährlich dort ist. Aber nachdem man hier mein Leben gerettet hat und ich viele Monate im Krankenhaus war, habe ich meine Meinung vollkommen geändert."
Ali sagt, er habe keine Angst vor den Rebellen in Syrien. Alle wüssten, dass in Israel Nothilfe geleistet wird. Angst mache ihm der Gedanke, das Regime von Baschar al-Assad könnte an der Macht bleiben.
"Ich habe kein Problem, bei mir zu Hause zu erzählen, dass ich in Israel behandelt werde. Die meisten meiner Freunde und Nachbarn haben mittlerweile ihre Meinung über Israel geändert. Ich bin ja nicht der Einzige, dem hier geholfen wird. Alle in meiner Umgebung hoffen, dass eines Tages Frieden ist mit Israel."
Bis dahin aber gilt für die meisten der medizinischen Grenzgänger: Alles muss geheim bleiben, sagt der Kopfchirurg Ohad Ronen.
"Ich habe gehört, dass sie jedes hebräische Dokument zerstören, bevor sie zurück nach Syrien gehen. Sie verbrennen alles oder werfen es weg. Es darf keinen Beweis geben, dass sie in Israel gewesen sind."