Flucht und Migration
Von Armenien in die Eifel

„Wir schaffen das.“ Der Satz von Angela Merkel ist umstritten. Die Flüchtlingspolitik sorgt seit Jahren für Streit. „Schaffen“ müssen es vor allem die Menschen, die nach Deutschland gekommen sind. Schaffen? Nur wie? Das Beispiel einer Familie.

    Illustration eines Mannes, der rechts und links an den Händen gehalten wird
    Mut und Hilfe: Zur erfolgreichen Integration braucht es einige Faktoren. (Deutschlandradio)
    Gekommen sind sie aus Armenien. Vater, Mutter und drei Kinder: Narek, heute 31, sein jüngerer Bruder Khoren, 21, und ihre Schwester Ani, 15 Jahre alt. Wir haben mit der Familie über ihre Geschichte gesprochen, über ihr Ankommen in Deutschland. Weil diese Geschichte typisch ist für das, was Menschen erleben, die aus anderen Ländern zu uns kommen. Wir nennen auf Wunsch der Familie nur ihre Vornamen.
    2015. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht Worte, die bis heute für Kontroversen sorgen: „Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land. Und das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“ Ein Satz mit großer Tragweite. Wenige Tage vorher hatte es Zahlen aus dem Bundesinnenministerium gegeben. Damals war die Rede davon, dass in dem Jahr 2015 mit bis zu 800.000 Geflüchteten gerechnet werden muss. Und am Ende waren es dann sogar noch mehr. Wenn es um die Aufnahme von Geflüchteten geht, dann wird der Satz oft zitiert - bis heute.

    Ankunft

    2018. Die erste Station der Familie aus Armenien ist Trier. Von Bekannten hatten sie gehört, dass es dort eine zentrale Einrichtung gibt. Von Trier, wo die Neuankömmlinge registriert werden, geht es für die Familie nach nur einem Tag weiter nach Essen in Nordrhein-Westfalen. Dort werden sie in einer größeren Einrichtung untergebracht.
    Nach Deutschland gekommen seien sie über den Landweg, über Tschechien, erzählt Khoren. Die Familie ist nicht geflüchtet vor Krieg oder Vertreibung, sondern vor allem deshalb, weil der Vater Garnik schwer krank ist. Er hat einen Hirntumor, der sehr schnell wächst. Die Ärzte in Armenien sagen der Familie: In Deutschland gebe es eine bessere medizinische Versorgung.
    Der Vater stirbt im Dezember 2018. Sein Wunsch war es, dass die Kinder ein gutes Leben haben und eine gute Ausbildung bekommen. Die Familie will die Chance auf ein besseres Leben in Deutschland.
    In der Unterkunft in Essen fühlen sie sich sicher. Nach fünf Monaten werden sie in einen Ort in der Eifel verlegt. Es ist ein ehemaliges Kasernengelände der belgischen Armee. Den Zaun drumherum habe man ständig gesehen, erzählt Khoren. In diesem Zentrallager geht es für die Familie um die Frage: Dürfen sie bleiben oder müssen sie gehen?
    Das Gefühl der Sicherheit aus Essen ist bald vorbei. „Wir haben gesehen, wie die Leute teilweise dann schlimme Neuigkeiten bekommen. Also schlechte Briefe, worauf steht, dass sie das Land dann verlassen müssen“, erzählt Khoren über andere Geflüchtete in der Großunterkunft. „Das waren unsere Freunde.“ Zur Unsicherheit kommt das lange Warten.

    Duldung

    Für die Familie beginnt ein bürokratisches Verfahren um den Aufenthaltstitel. Bis heute ist die Familie geduldet in Deutschland. Duldung heißt nach Paragraf 60a im Aufenthaltsrecht, dass eine Abschiebung ausgesetzt ist. Die betroffenen Menschen bekommen dann eine Duldungsbescheinigung ausgestellt.
    Ungefähr 200.000 Menschen seien hierzulande derzeit geduldet, sagt Ilker Ataç. Er ist Politikwissenschaftler an der Hochschule Fulda und forscht zum Sonderstatus der Duldung: „Mit der Duldung wird sozusagen die faktische Präsenz anerkannt. Damit kommt es auch zu einer Einschränkung der wesentlichen Rechte, das heißt Einschränkung von Bewegungsfreiheit bis hin zur Einschränkung von sozialen Leistungen und des Zugangs zum Arbeitsmarkt.“
    „Man wusste nicht, ob das nächste Mal, wenn ich zur Behörde hingehe, ob ich eine Verlängerung bekomme oder nicht“, sagt Narek. Genau darum kritisiert der Politikwissenschaftler Ilker Ataç diesen „Nicht-Status“, wie er ihn nennt: „Die Menschen leben in Unsicherheit, oft in Armut, in Abschottung, aufgrund der Gefahr, dass sie jederzeit abgeschoben werden können.“ In der Regel bekämen sie dann sogenannte Kettenduldungen. Das heißt, der Duldungsstatus wird alle drei bis sechs Monate verlängert – oder auch nicht.
    „Kettenduldungen“ bedeutet Stress, der auch zu psychischen Erkrankungen führen kann. „Dieses Warten, einhergehend mit einer Unsicherheit, ob eine Sicherheit entstehen wird, ist letztlich einer der zentralen Faktoren, die die Menschen stark belastet“, sagt der Psychologe Kerem Böge.
    Die Bundesregierung hat Ende 2022 mit der Einführung eines sogenannten Chancen-Aufenthaltsrechts auf Kritik reagiert. Geduldete Personen, die sich zum Stichtag 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren in Deutschland aufhalten, haben seitdem die Chance, ihren Aufenthalt zu verstetigen und eine Aufenthaltserlaubnis für 18 Monate zu bekommen. Eine Voraussetzung ist, dass sie sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen.

    Bildung

    Zurück zur Familie aus Armenien. Sie lernt Deutsch, während sie in dem Sammellager in der Eifel auf die Klärung ihres Aufenthaltsstatus wartet. Die beiden jüngeren Geschwister sind da noch schulpflichtig. Die Familie kümmert sich darum, eine Schule zu finden. Auch für ihre Mutter Hayastan finden sie einen Deutschkurs, erzählt Narek. Das Lerntempo ist unterschiedlich. Für Narek geht es vergleichsweise schnell. Die sogenannte B1-Prüfung habe er innerhalb von sechs Monaten bestanden.
    B1-Niveau heißt, dass man sich im Alltag schon ganz gut verständigen kann. Wer zum Beispiel anerkannter Asylbewerber ist, bekommt Sprachunterricht im Rahmen eines allgemeinen Integrationskurses, bei dem die Teilnehmer auch etwas zur Rechtsordnung, zur Kultur und zur Geschichte Deutschlands lernen. Für Geduldete sind die Hürden hingegen höher, solche Kurse zu bekommen.
    Die Mutter Hayastan erinnert sich: „Das war wirklich sehr schwierig und sehr stressig, als mein Mann gestorben ist.“ Sie habe nicht weiterleben wollen. „Mein Sohn sagt: Mama, das geht nicht, du musst weiterleben, du musst stark sein. Du musst für uns leben.“ Langsam habe sie Kraft gesammelt. Für den Sprachkurs nimmt sie dreimal in der Woche weite Wege in Kauf - eine Fahrt mit Bus und Regionalbahn, fast zwei Stunden lang. Am Ende schafft auch Hayastan den B1-Sprachkurs.
    Der jüngere Bruder Khoren kommt anders mit der deutschen Sprache in Berührung: „Ich spiele durchschnittlich vielleicht sieben Mal Fußball in einer Woche. Also wirklich jeden Tag, kann man so sagen. Ohne Fußball kann ich es mir gar nicht vorstellen und will es auch gar nicht.“ Heute spielt Khoren sogar in der Regionalliga und sein Vorbild ist der armenische Fußballspieler Henrikh Mkhitaryan.
    Während sie noch die Sprache lernen, bekommt die Familie regelmäßig Briefe von den Ausländerbehörden - in Beamtendeutsch verfasst. An diesen Schreiben hängt ihr Aufenthaltsstatus. Narek erzählt über die „Papierangelegenheiten“ und viele bürokratische Hürden, die Nerven kosten. Seine Hoffnung sei zwischenzeitlich „fast auf null“ gewesen. Aber die Familie lässt sich nicht unterkriegen. Um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern, fangen sie an, auch untereinander meistens Deutsch zu reden. Teamarbeit. Dass sie zusammenhalten, hilft ihnen, in Deutschland anzukommen, erzählen die Familienmitglieder.

    Integration

    Aber sie bekommen auch Unterstützung von außen. Ein Anwalt und ein befreundeter Übersetzer stehen zur Seite. Sie kommunizieren mit Ämtern und helfen, damit die Unterlagen stimmen. Eine Flüchtlingshelferin unterstützt die junge Ani bei den Schulaufgaben. 2019 zieht die Familie von der Ex-Kaserne in eine Wohnung.
    Khoren wird heute zum IT-Systemelektroniker ausgebildet, will irgendwann vielleicht ein eigenes IT-Haus gründen. Er besucht ein Berufskolleg - eigentlich aber hätte er lieber studiert. So wie sein älterer Bruder Narek, der hat Politikwissenschaften studiert in Eriwan, der Hauptstadt von Armenien. Er hat einen Master in Internationale Beziehungen, der schließlich auch hier in Deutschland anerkannt wird. Arbeit findet Narek hier schließlich als Lagerarbeiter. Er ist jetzt in einer Ausbildung als Lagerist in Euskirchen und hat eine Duldung - bis er die Prüfungen geschafft hat.
    Gerade bei Narek waren die bürokratischen Hürden laut der Familie hoch. Bevor jemand mit Duldungsstatus eine Ausbildung starten kann, müssen verschiedene Behörden zusammenarbeiten und zustimmen. Die Ausländerbehörde mit der Duldung. Dann die Arbeitsagentur. Doch die habe sich erst quergelegt, erzählt Narek. Er habe Einspruch eingelegt mit einem Rechtsanwalt. Dann sei er nochmal zurück nach Armenien gereist, weil Unterlagen fehlten. Dann habe er ein Visum gebraucht, um zurückreisen zu können nach Deutschland. Erst nach einer erneuten Phase der Ungewissheit kann Narek die Ausbildung starten.
    Die 15-jährige Schwester Ani besucht gerade ein Gymnasium. Sie möchte Abitur machen, und „richtig gut werden in deutscher Sprache“. Hat sie schon ein Berufsziel? „Noch nicht so“, sagt Ani, „aber ich habe überlegt, vielleicht schon ein Praktikum zu machen“. Vielleicht bei einer Zahnärztin. Ihre Mutter Hayastan, die in Armenien Hausfrau war, arbeitet jetzt als Verkäuferin in einem Supermarkt: „Ich habe gedacht, das ist unmöglich. Aber ich habe immer wieder gelernt und auswendig gelernt. Jetzt bin ich sehr zufrieden. Meine Arbeit macht mir Spaß.“
    Die große Welle der Hilfsbereitschaft für Geflüchtete der Jahre 2015/16 war schon abgeebbt, bevor die Familie nach Deutschland kam. Wann sind Menschen bereit, zu helfen? Dazu forscht an der Universität Münster der Sozialpsychologe Gerald Echterhoff. Er hat untersucht, wie die Gesellschaft auf bestimmte Geflüchtete reagiert. Bei rund 1000 Befragten der Studie sah es so aus, dass die Gefühle gegenüber Menschen positiver waren, wenn diese vor Krieg geflüchtet waren, und negativer, wenn das wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend waren.
    Echterhoff sagt: „Wir haben festgestellt, dass es daraufhin auch weniger Empathie gibt, zum Teil mehr Ärgerreaktionen: Die mussten doch gar nicht fliehen, die wollen sich eher Vorteile verschaffen.“ Demnach gibt es in der Wahrnehmung der Gesellschaft durchaus so was wie „bessere“ und „schlechtere“ Geflüchtete. Aber beim genauen Hinsehen ergibt sich dann eine andere, differenziertere Perspektive – zum Beispiel beim Blick auf die Familie aus Armenien.
    Bislang ist niemand von ihnen abgeschoben worden. Sie leben, lernen und arbeiten in Deutschland. Narek sagt über ihre mittlerweile fünf Jahre in der Bundesrepublik, es fühle sich jetzt an, wie zu Hause zu sein.