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Systemversagen in der Organtransplantation
Wer erbt die Leber?

Das Vertrauen in die deutsche Transplantationsmedizin ist nachhaltig erschüttert. Ärzte sollen jahrelang durch Schiebereien ihren Patienten illegal Organe verschafft haben. Einige "Schwarze Schafe" brachten ein ganzes System in Verruf, ein System, das zwischen Leben und Tod angesiedelt ist und eigentlich höchsten ethischen Maßstäben genügen sollte. Doch geht es in der Krise wirklich nur um menschliches Versagen?

Von Thomas Liesen |
    Operationsbesteck während eines chirurgischen Eingriffs.
    Operationsbesteck wird für eine Organtransplantation vorbereitet. (picture alliance / dpa / Jan-Peter Kasper)
    Hörtipp: Wer erbt meine Leber? Das Systemversagen in der Organtransplantation - 6. März 16:30h
    In Heidelberg, Göttingen, Jena, Müchen sollen Ärzte ihre Patienten auf dem Papier kränker gemacht haben, als sie waren, damit diese auf der Warteliste nach oben rückten. Dies sei der anmaßende Versuch, eigene ethische Wertmaßstäbe über die Verteilungsregeln zu stellen, so die Anklage.
    Der schwarze Peter liegt bei den Transplantationsärzten. Doch was ist mit den Regeln selbst? Viel zu wenig Beachtung findet das System hinter der Organspende. Dabei sind es die Regeln dieses Systems, die eine undurchsichtige Organzuteilung im Wettbewerbsmodus erlauben und die Sterbequoten unter Transplantierten in die Höhe treiben. Mittlerweile zweifeln sogar Transplantationsärzte selbst, ob jeder Patient tatsächlich die gleichen Chancen auf ein neues Organ hat. Es brodelt in der Szene.

    Der vollständige Beitrag:
    "Leiden in den Niederlanden, 9 Uhr abends. Die Mitarbeiter im Allokationzentrum vervollständigen die Aufzeichnungen, die tagsüber bearbeitet worden sind, als ein neuer Spender gemeldet wird."
    Aus einem Werbefilm von Eurotransplant, private Stiftung. Ihre Aufgabe: Vermittlung von Organen, Führung der Warteliste
    "Die Meldung betrifft einen Spender in Ungarn. Es handelt sich um einen 30 Jahre alten Mann, dem verschiedene Organe entnommen werden: Herz, Lunge, Leber, Bauchspeicheldrüse und Nieren."
    Wer erbt die Leber? Das System Organtransplantation – von Thomas Liesen.
    "Letztendlich sind es die gleichen Akteure, die schon 2012 zu der Katastrophe geführt haben. Ich vertraue keinem System, dass die gleichen Akteure weiter alles besser machen werden."
    Eugen Brysch, Deutsche Stiftung Patientenschutz.
    "Die Mitarbeiter von Eurotransplant müssen die Spenderorgane so schnell wie möglich an geeignete Empfänger auf der Warteliste vermitteln."
    "Ich kenne keinen Kollegen in der deutschen rechtswissenschaftlichen Diskussion, außer denen, die in der Bundesärztekammer selbst Funktionen bekleiden, die das anders sehen würden: dass das gegenwärtige System der Organverteilung verfassungswidrig ist."
    Thomas Gutmann, Medizinrechtler, Universität Münster.
    "Und darum geht es vorrangig: Patienten, die in manchen Fällen jahrelang auf ein Spenderorgan gewartet haben, rechtzeitig zu helfen, bzw. eine bessere Lebensqualität zu ermöglichen."
    "Es ist etwas sehr Merkwürdiges und für mich nicht Erklärbares, dass in der Transplantationsszene sehr viel gegeneinander gehetzt wird."
    Hans Lilie, Jurist, Bundesärztekammer.
    "Und bei Tagesanbruch zeigt der Bildschirm bereits einen neuen Spender an.
    Musik ausklingen lassen."
    Ausgeklügelten Verteilungslogistik
    Wenn ein Mensch stirbt, darf ein anderer hoffen. 10.000 Patienten warten allein hierzulande auf ein Herz, eine Lunge, eine Leber. Manchmal nur einen Klinikflur entfernt von einem der rund 900 Spender jährlich. Doch der direkte Weg des Organs, vom Spender zum Empfänger gleich nebenan, ist verwehrt. Dazwischen geschaltet ist ein System, die sogenannte Organallokation, zu deutsch: Organzuteilung. Es folgt einer ausgeklügelten Verteilungslogistik nach dem Grundsatz:
    "Dass der Mensch, der am dringendsten das Organ benötigt, zuerst operiert wird."
    Hans Lilie, Bundesärztekammer. Seit einiger Zeit stehen Manipulationsvorwürfe im Raum, Ärzte sollen ihren Patienten rechtswidrig zu Organen verholfen haben. Die Ärzte stehen am Pranger. Nicht aber das System selbst.
    "Mein Name ist Lydia Aytogmus. Ich arbeite bei Eurotransplant im Vermittlungsbüro. Ich koordiniere hier die Organvermittlung."
    Ein Büroraum, kaum größer als ein mittleres Besprechungszimmer. In der Mitte ein länglicher Tisch, auf dem insgesamt sechs PCs ihren Platz finden. "Leben schenken -" so lautet ein Spruch, mit dem für Organspenden geworben wird. Genau hier wird das Geschenk adressiert, bei Eurotransplant im holländischen Leiden.
    "Im Frühdienst, wie sie jetzt gerade sehen – es ist 14.28 Uhr – ist es relativ ruhig, es wird Nachsorge von den Spenden von gestern Abend noch betrieben."
    "Ich gucke gerade. Oh, kommt jetzt ein neuer Spender rein?"
    Lydia Aytogmus und ihre Kolleginnen an den PC-Terminals sind – über Umwege - mit allen deutschen Kliniken vernetzt. Sobald ein hirntoter Patient als Organspender zur Verfügung steht, meldet das die jeweilige Klinik. Zunächst an die Deutsche Stiftung Organtransplantation DSO. Die meldet wiederum an Eurotransplant.
    "Ok, ich habe jetzt hier ein Spender 157328 aus der Region Bayern, in diesem Fall aus Würzburg, das sind Daten, die der Koordinator aus Würzburg an Eurotransplant gemeldet hat."
    Alter des Patienten, Vorerkrankungen, Laborwerte.
    "Ich mache eine schnelle Datenkontrolle: Ah ok, sechs Stunden, es werden alle Organe angeboten, ich schaue 19 Jahre - was ist die Todesursache? War das ein Unfall?"
    Lydia Aytogmus wird in den nächsten Minuten das sogenannte Matching vorbereiten. Wichtigstes Kriterium dabei: die Position auf der Warteliste. Die legt Eurotransplant fest. Die Patienten selbst haben keine Chance, ihren Listenplatz zu erfahren. Auch nicht ihre Ärzte. So funktioniert das System. Und so funktioniert es schon lange. Von den meisten Ärzten offenbar akzeptiert, von der Politik ebenfalls. Nicht allerdings von vielen Juristen.
    "Ich denke, dass die Frage, welche Bürgerin oder welcher Bürger darf leben? Und wer muss sterben? - die schwierigste und härteste Frage ist, die der Rechtsstaat in Friedenszeiten überhaupt zu entscheiden hat", sagt Thomas Gutmann, Medizinjurist.
    "Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass das eine Entscheidung ist, bei der die wesentlichen Grundprinzipien einfach vom Gesetzgeber vorgegeben werden müssen."
    Entscheidung über Leben und Tod
    Doch Tatsache ist: Die Entscheidung über Leben und Tod innerhalb des Systems Organspende liegt allein in privater Hand. Denn Eurotransplant ist eine private Stiftung. Geleitet wird sie von Ärzten. Und die Bundesärztekammer sieht darin auch kein Problem. Hans Lilie, als Vorsitzender ihrer ständigen Kommission Organtransplantation seit Jahren eine der führenden Köpfe im Transplantationsgeschehen:
    "Wenn das alles so dramatisch wäre, hätte der Rechtsstaat doch lange reagiert."
    In Leiden checkt Lydia Aytogmus die Daten des Organspenders aus Würzburg.
    "Wird das eine komplizierte Vermittlung, weil es einen Unfall gab und die Organe vielleicht beschädigt sind? Oder ist das eine unkompliziertere Vermittlung und da geben Laborwerte für jedes Organ Hinweise, in welchen Zustand sich das jeweilige Organ befindet."
    Je jünger der Spender, je gesünder er vor seinem Ableben war, desto leichter wird es, Empfänger ausfindig zu machen. Den wichtigsten Schritt dazu, das Matching, nimmt ihr gleich der Rechner ab. Er ist gefüttert mit Algorithmen, die bei Eurotransplant selbst entwickelt wurden. Die hauseigenen Programmierer haben als Basis die wiederum hauseigenen Organverteilungsrichtlinien, die sie in ihre Algorithmen einarbeiten - ein 300 Seiten starkes Werk, das neben Eurotransplant auch die Bundesärztekammer mitgestaltet hat.
    "Ich weiß nicht, ob sie das spannend finden, ich finde das total spannend."
    Lydia Aythogmus hat die Daten ins System getippt. Jetzt wird bestimmt, wer die Organe bekommt.
    "Ich klicke sofort auf Matching, das macht der Computer, ich matche die Organe: Nieren, Pankreas, Lunge, Herz, Leber."
    Zwei bis drei Minuten muss der Computer rechnen. Dann wird er Namen ausspucken. Die Qual der Wahl, digital delegiert. Und ein ethisches Minenfeld, sagt Eugen Brysch, Deutsche Stiftung Patientenschutz.
    "Das Transplantationsrecht arbeitet ja mit den zwei Begriffen: der Dringlichkeit und der Erfolgsaussicht. Deswegen, weil das Dinge sind, die sich eigentlich widersprechen. Und in dieser Spannung werden letztlich Verteilungsfragen des Lebens entschieden. Die Bundesärztekammer hat sich dafür entschieden - übrigens nicht nur bei der Leber, auch bei Lunge, bei dem Herzen – die Dringlichkeit in den Blick zu nehmen."
    Der Rechenalgorithmus von Eurotransplant bevorzugt Patienten, die ansonsten innerhalb kürzester Zeit sterben würden. Es ginge auch anders: die bevorzugen, die am längsten etwas von einem neuen Organ haben. Doch die Bundesärztekammer hat sich gegen diese Variante entschieden. Für viele Ärzte eine Fehlentscheidung, die jetzt offensichtlich wird.
    "Nicht berechnet hatte man die Tatsache, dass die Anzahl der Organspenden in Deutschland unter Umständen sinken könnte und damit die Gruppe derer, die transplantiert wird, noch kleiner wird, als sie bisher schon war. Und damit die Situation, dass dieser Rechenalgorithmus nur noch die Patienten auswählt, die schwerstkrank sind."
    Eckhard Nagel, Transplantationsmediziner und Mitglied im Deutschen Ethikrat. Ärzte müssen seitdem mitansehen, dass von ihren Patienten oft nur noch jene auf ein Organ hoffen können, die so krank sind, dass sie auch mit neuem Organ um ihr Leben kämpfen werden. Der Umgang mit dieser Mangelsituation fiel mitunter kreativ aus: In Heidelberg, Göttingen, Jena, München sollen Ärzte ihre Patienten auf dem Papier kränker gemacht haben, als sie waren. Damit sie auf der Warteliste nach oben rückten. Für die Ärztekammer im besten Fall die Folge fachlichen Unvermögens. Hans Lilie:
    "Manchmal habe ich das Gefühl, dass der einzelne Arzt oder die einzelne Ärztin sich nicht die Mühe gemacht hat, einmal diese Allokationsregeln von vorne bis hinten zu lesen."
    Überlebenschance der Patienten
    Im schlimmsten Fall sei die Wartelistenschieberei der anmaßende Versuch, eigene ethische Wertmaßstäbe über die Verteilungsregeln zu stellen, so die Anklage. Damit sind die Fronten geklärt. Der schwarze Peter liegt bei den Transplantationsärzten. Doch was ist mit den Regeln selbst? Und was mit dem System, das diese Regeln hervorgebracht hat?
    Ein Beispiel: Lebertransplantationen.
    Zu Besuch bei Hartmut Schmidt, Direktor der Transplantationsmedizin an der Universitätsklinik Münster, einer der wenigen, der bereit ist, offen über Probleme innerhalb der Transplantationsszene zu sprechen. Dafür braucht es offenbar besonderen Mut. Mehrmals bittet Schmidt um Bedenkzeit, um Formulierungen zu überdenken. Zum Beispiel zur Organverteilung:
    "Als möglicher Organspender würde ich mir eher wünschen, dass mein Organ ja länger beim Patienten lebt, überlebt."
    Unter Hartmut Schmidts Leitung werden viele Lebern transplantiert. Notgedrungen vielfach an Patienten fast ohne Überlebenschance. Was sagen Organspender dazu, fragt sich Schmidt.
    "Und deshalb kann ich mir schon vorstellen, dass der eine oder andere sehr zurückhaltend ist, wenn er liest, dass bei der Lebertransplantation wir eine Sterblichkeit haben von über 30 Prozent im ersten Jahr nach Lebertransplantation."
    Für jedes Organ gibt es eigene Zuteilungsregeln. Jene für Lebern sind seit fast zehn Jahren in Kraft. Seitdem wird nach einem Punktesystem, genannt MELD-Score, den Leberpatienten ein Wartelistenplatz zugewiesen. MELD steht für Model of End-Stage Liver Disease. Dieser Score errechnet aus Blutwerten die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient innerhalb von drei Monaten stirbt. Je höher der Wert, desto näher der Tod. Und desto höher der Wartelistenplatz. Die Bundesärztekammer hat den Meld-Score 2006 verabschiedet. Und zwar gegen Widerstand aus den Reihen der Transplantationsmedizin. Hartmut Schmidt:
    "Wir haben von vorneherein klargestellt, was die Schwächen dieses Meld-Scores sind und auf diese Schwächen ist man in den nachfolgenden Jahren bis einschließlich heute nicht richtig eingegangen. Und wenn sie sehen, dass wir bis heute kein Transplantationsregister haben, sehen sie auch danach, dass wir bis heute an einem System festhalten, ohne das wissenschaftlich nachzuverfolgen und zu begründen."
    Dass die erhobenen Daten zum Überleben der Patienten nicht vollständig sind, kritisiert mittlerweile auch Eurotransplant. Undine Samuel, ärztliche Direktorin:
    "Wenn wir nicht wissen, wie es dem Patienten nach der Transplantation geht, dann kann man natürlich retrospektiv nicht beurteilen, wie gut ist die Transplantation verlaufen? War das das richtige Organ für diesen Patienten?"
    Auch zehn Jahre nach seiner Einführung fehlt die Datengrundlage, um Stärken und Schwächen des MELD-Verfahrens ausreichend beurteilen zu können. Zwar sagen die Richtlinien, Transplantationskliniken sollen ihre Erfolgsdaten melden. Damit das System aus Fehlern lernen kann. Aber die Kliniken müssen nicht alles melden. Die Folge: Die Meldequote ist zu gering. Undine Samuel schätzt sie auf höchstens 80 Prozent:
    "Was ist in den restlichen 20 Prozent? Sind das Patienten, denen es besonders gut geht? Oder sitzen in genau diesen 20 Prozent die Patienten drin, denen es nicht gut geht? Das können wir so nicht sagen."
    Eine wissenschaftliche Studie stellte 2014 fest, dass nur von zwei Dritteln aller Leberpatienten Daten verfügbar sind. Die Sterbequote könne daher nur geschätzt werden und liege irgendwo zwischen 20 und 37 Prozent. Eine Expertenkommission, beauftragt von der bayerischen Staatsregierung, brachte in bayerischen Transplantationszentren schließlich eine Sterbequote von bis zu 38 Prozent als Licht. Fachartikel aus 2007 belegen zudem, dass deutsche Ärzte bereits kurz nach Einführung des Meld-Scores auf steigende Todesraten hinwiesen. Tatsächlich starben vor seiner Einführung weniger als 15 Prozent der Patienten innerhalb eines Jahres nach Lebertransplantation.
    Eurotransplant in Leiden, Kontrollraum. Der Rechner hat einen Organempfänger und seine Klinik benannt:
    "FR sagt mir, das ist Freiburg. Was ich dann tue: Ich rufe den diensthabenden Arzt in Freiburg an und sage ihm, dass wir für den Empfänger – ich nenne ihn jetzt mal Maier mit ET-Nummer 123456 – haben wir jetzt ein Herz, möchten sie bitte das Angebot anschauen und innerhalb von 30 Minuten gibt mir der diensthabende Arzt Meldung."
    Organzuteilung muss schnell ablaufen
    Organzuteilung nach Plan A. Nicht immer kann ein Organ so schnell genug vermittelt werden. Zum Beispiel weil der Klinikarzt es als nicht passend ablehnt. Doch die Zeit drängt, das Organ droht zu verfallen. Dann folgt Plan B: Eurotransplant kontaktiert Transplantationszentren, die möglichst in der Nähe der Klinik des hirntoten Spenders liegen, das verkürzt Transportzeiten. Die Zentren melden Patientennamen, wer den höchsten Wartelistenplatz hat, bekommt das Organ. Doch überraschend häufig führt auch Plan B noch nicht zur Organvermittlung, häufig weil Klinikärzte die angebotenen Organe für qualitativ nicht gut genug befinden.
    "Und hier macht man jetzt ein sogenanntes Zentrumsangebot."
    Zentrumsangebot klingt neutral. Aber es birgt Zündstoff. Und so läuft es ab.
    "Also wenn sie mehreren Zentren gleichzeitig das Angebot geben. Und der als Erster zum Telefon greift und Eurotransplant meldet, der bekommt es."
    Eurotransplant bietet also ein Organ telefonisch an. Die kontaktierten Ärzte müssen sich ins System loggen und die Daten des Organs abrufen. Jetzt schauen sie, ob sie einen passenden Empfänger haben. Wenn ja, rufen sie Eurotransplant möglichst schnell zurück, um das Organangebot anzunehmen.
    Vor dem Rückruf steht der Check der Daten: Alter des Organspenders, Vorerkrankungen, Todesursache, Organwerte.
    "Man muss sie einsehen, man muss das Programm aufrufen, man muss den Empfänger so gut kennen, gegebenenfalls den aktuellen medizinischen Zustand wissen, dass man durchaus davon ausgehen kann, dass es mehrere Minuten dauern dürfte – müsste - um letztendlich solch eine Entscheidung dann zu treffen", sagt Transplantationsmediziner Hartmut Schmidt.
    Doch interne Protokolle belegen das Unglaubliche: Zwischen Anruf aus Leiden und Rückruf durch eine Klinik vergeht kaum mehr als eine Minute. Das Paradoxe dabei: Es sind alles Organe, die andere Ärzte bereits abgelehnt haben. Doch bei der Rückrufaktion entbrennt der Wettbewerb unter den Kliniken.
    "Ich persönlich würde schon manchmal gerne wissen wollen, gerade wenn es im Rahmen einer Verteilung kurzfristig über Telefonate entschieden wird, wie dieser Prozess zustande gekommen ist. Man kann durchaus, selbst wenn man innerhalb von weniger als 60 Sekunden reagiert, eine negative Rückmeldung bekommen, dass das Organ schon vergeben ist. Das wirft natürlich Fragen auf."
    Warum sind Organe, die vorher niemand haben will, plötzlich so begehrt? Schlagen dann jene Kliniken zu, die es wirtschaftlich nötig haben? Es wird unter vorgehaltener Hand viel spekuliert, belegt ist nichts. Was sagt Undine Samuel dazu, die ärztliche Direktorin von Eurotransplant?
    "Eurotransplant kann natürlich über die Sorgfalt, die in einem Zentrum zur Prüfung eines Angebots beiträgt, keine Aussage machen. Wir gehen davon aus, dass immer Sorgfalt waltet, wenn man ein Angebot annimmt."
    Die typische Datenliste eines Organs umfasst über 100 einzelne Posten und Werte, verteilt auf fünf, sechs Seiten. Wer kann die mit seinen Patientendaten abgleichen in einer Minute, einschließlich Einloggen ins Programm?
    "Was soll ich dazu sagen. Wir wissen es nicht."
    50 Transplantationszentren in Deutschland
    Tatsache ist: In Deutschland gibt es rund 50 Transplantationszentren, nach Expertenmeinung zu viele. Jedes einzelne ist auf Organe angewiesen, um wirtschaftlich überleben zu können. Nicht gerade Vertrauen erweckende Voraussetzung für eine Organverteilung im Wettbewerbsmodus. Und der ist keineswegs die Ausnahme: Lebern werden zu 40 Prozent so verteilt. Eine Verfahrensänderung soll jetzt zwar bewirken, dass die Zahlen sinken, aber ob das gelingt, bleibt ungewiss. Die Zuteilung per Telefonaktion ist jedenfalls ein Grund, warum Hartmut Schmidt zweifelt daran, dass Organe gerecht verteilt werden. Und damit am wohl wichtigsten ethische Grundsatzes des Systems Organspende.
    "Das Problem besteht eigentlich darin, dass aufgrund der Strukturen, die wir derzeit haben, es zumindest nicht sehr transparent nachvollziehbar ist, inwieweit in einzelnen Details wirklich jeder auf einer Warteliste in den einzelnen Regionen die gleiche Chance hat, ein Organ zu bekommen."
    Die Zuteilung der Organe aus Würzburg ist erfolgreich beendet. Eine typische Organvergabe - reibungslos gelaufen, so wie in den meisten Fällen, sagt Vermittlerin Lydia Aytogmus. Allerdings steht über allem der Zeitdruck, Organe werden rasch unbrauchbar.
    "In Notfällen passiert es mal, dass ein Zentrum schwieriger erreichbar ist, weil ein Arzt in den OP gerufen wird, aber es ist immer ein Kollege erreichbar. Also ein Patient muss keine Sorge haben, dass ihm ein Organangebot entgeht, weil der diensthabende Arzt das verschlafen hat, also da braucht er sich keine Sorgen zu machen."
    Rund 2.900 Organe wurden im Jahr 2015 in Deutschland gespendet und über Eurotransplant vermittelt. Das ist nochmal ein Rückgang gegenüber dem Vorjahr und insgesamt ein dramatischer Einbruch von 30 Prozent gegenüber 2010 - dem Jahr vor Beginn des Organspendeskandals.
    Seit 2006 ist Hans Lilie Chef der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer. Deren Aufgabe ist laut ihres Statuts die "Beobachtung und Bewertung der Praxis der Organspende". Doch in all den Jahren sind Hans Lilie bei seiner Beobachtung keine Unregelmäßigkeiten aufgefallen.
    "Natürlich hat mich das zutiefst erschreckt und auch überrascht, weil ich nicht mal ansatzweise damit gerechnet habe, dass in einem solchen Ausmaß in der Transplantationsszene getrickst wird."
    "Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass Herr Lilie selber glaubt, was er da sagt."
    Thomas Gutmann, Medizinrechtler. Denn schon lange gebe es Hinweise auf Ungereimtheiten. Auch Hartmut Schmidt äußerte schon vor Jahren einen konkreten Hinweis auf Regelverstöße:
    "Wir haben bereits 2009 im Bereich der Lebertransplantation die Diskussion gehabt, aufgrund der Daten, von Eurotransplant vorgestellt, dass in dem Rahmen der Eindruck war, es könnten doch durchaus einige Alkoholiker transplantiert werden. Dieser Sache ist aber nie nachgegangen worden."
    Die Regeln haben bestimmt, dass Alkoholiker sechs Monate abstinent leben müssen, bevor sie eine neue Leber bekommen können. Der Verdacht lautete: In deutschen Kliniken bekommen Alkoholiker auch dann ein Organ, wenn sie noch nicht so lange trocken sind. Mittlerweile haben Überprüfungen, durchgeführt nach dem Bekanntwerden des Organspendeskandals, genau das bestätigt.
    "Was uns letztlich wirklich beunruhigt, ist der Umstand, dass Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates, die normalerweise gut funktionieren in Deutschland, in dem Bereich nicht funktionieren."
    Prüfungs- und Überwachungskommission der Bundesärztekammer
    Hauptursache für Thomas Gutmann: Es gibt im System Organspende keine Gewaltenteilung. De facto legen Ärzte die Regeln des Systems fest, führen sie aus und kontrollieren das Ganze selbst. Immerhin ist die Prüfungs- und Überwachungskommission der Bundesärztekammer jetzt aktiv geworden und besucht nach und nach die Transplantationszentren Deutschlands. Am Ende steht ein Prüfbericht für jede Klinik, so bereits verfasst unter anderem für Essen oder Münster.
    "Die Prüfberichte sind alle online, werden alle veröffentlicht und jeder kann jeden Prüfbericht über jeden Patienten nachlesen, nur der Patientenname ist anonymisiert. Ich finde, transparenter kann man nicht prüfen."
    Und die Prüfer haben Verstöße ausgemacht. Auch in Münster, im Transplantationszentrum von Hartmut Schmidt. Der Vorgang im Detail: Patienten wurden mit einer besonderen Form der Blutwäsche versorgt, einer kombinierten Leber-Nierendialyse. Die Ärzte meldeten dies gegenüber Eurotransplant als Dialyse. Mit der Folge, dass die Patienten auf der Warteliste nach oben rutschten, denn Dialysepatienten bekommen einen Bonus. Doch nun lautet der Vorwurf der Ärztekammer-Prüfer: Die Kombidialyse für Nieren und Lebern sei gar keine Dialyse. Patienten seien daher unrechtmäßig zu Organen gekommen. Thomas Gutmann hat den Fall in einem Gutachten analysiert.
    "Ich halte die Vorwürfe für völlig haltlos. Dieses Verfahren enthält auch eine Nierendialyse. Und die einzige korrekte Antwort auf die Frage "war das eine Dialyse?", ist, dort ein Kreuz zu machen. Als dann irgendwann – ohne Änderung der Richtlinie - Eurotransplant ein Rundschreiben gemacht hat – so funktioniert das: auf Zuruf – und sagte: Bitte macht dieses Kreuz nicht mehr an dieser Stelle, haben die Münsteraner das Kreuz da nicht mehr gemacht, obwohl das streng genommen ein Richtlinienverstoß ist, es nicht zu machen."
    Hans Lilie beurteilt das Vorgehen der Münsteraner Klinik anders:
    "Wenn da ein Schild steht "30 fahren" und sie fahren 60, würden sie dann sagen, das ist entschuldbar? Das ist in Ordnung? Natürlich nicht. Und so kann man das mit Münster vergleichen."
    Als Reaktion auf den Prüfbericht der Bundesärztekammer hat die Staatsanwaltschaft alle Vorgänge in Münster überprüft. Ergebnis: keine Straftat. Nicht einmal ein Verstoß gegen Richtlinien. Denn diese seien nicht eindeutig verfasst. Thomas Gutmann:
    "Man hat eine Prüfungs- und Überwachungskommission eingeleitet, die durchs Land fährt, die keinerlei inhaltliche Standards hat - diese Form der Überprüfung bekommen sie, wenn sie ein strukturelles korruptes System damit beauftragen, sich selber zu überwachen. Jetzt ex post, wenn es darum geht sozusagen die Machtstrukturen auszubauen, sucht man sich dann die Leute raus, die einem schon immer missfallen haben und denen wirft man dann vor, sie hätten Richtlinien gebrochen."
    Tatsächlich haben mehrere Transplantationskliniken kombinierte Leber-Nierendialyseverfahren angewendet und diese wie Münster als Dialyse nach Leiden gemeldet. Die Prüfer der Ärztekammer werteten dies in Münster als systematischen Richtlinienverstoß. In Kiel nur als Richtlinienverstoß. Und in München sahen sie darin überhaupt keinen Verstoß. Bei den betroffenen Transplantationskliniken entstand jedenfalls der Eindruck, es werde mit zweierlei Maß gemessen. Eine der Folgen: Das Misstrauen zwischen den Kliniken wächst. Was sogar Hans Lilie bestätigt:
    "Es ist etwas sehr Merkwürdiges und für mich nicht Erklärbares, dass in der Transplantationsszene sehr viel gegeneinander gehetzt wird. Das stimmt mich sehr – ich möchte schon fast sagen – traurig. Man begegnet sich kollegial sehr freundlich, aber man kriegt immer wieder gesteckt: Der ist ein Bösewicht, der ein Bösewicht. Das ist wirklich erschreckend."
    "Wir sehen, dass dieses privat organisierte System, das um Gerechtigkeit ringt, letztendlich in der Praxis scheitert, weil es nicht überall die gleichen konsequenten Anwendungen der Regeln gibt. Und da ist grundsätzlich in der Frage, ob wir ein solches System so intransparent und so privat lassen wollen, wie wir das heute haben."
    Eugen Brysch, Deutsche Stiftung Patientenschutz. Eine in der Öffentlichkeit wenig beachtete Facette: Patientenrechte sind drastisch beschnitten. So ist die Warteliste von Eurotransplant Verschlusssache. Kein Patient erfährt jemals seinen Platz.
    "Ich glaube, die Verteilung von Lebenschancen muss in staatlicher Obhut liegen. Schließlich können wir schon, wenn es um solche Fragen geht, wie einen Studienplatz zu bekommen, das auch nicht privat regeln."
    Einige Ärzte geraten im System Organspende in ethische Konflikte
    Doch trotz solcher Kritik steht das private System Organspende erstaunlich unangetastet da. Kommt ein Skandal hoch, präsentieren die Akteure des Systems selbst die Bösewichte – in der Regel Transplantationsmediziner. Unter den Tisch fällt dabei die Tatsache, dass zumindest einige dieser Ärzte in ethische Konflikte geraten mit den Wertvorstellungen, die ihnen das System Organspende vorschreibt. Ein System, über das im Wesentlichen Ärzte entscheiden, in nicht demokratisch legitimierten Vereinigungen und Zirkeln. Und auch dann, wenn die Grundfragen nicht medizinischer, sondern ethischer und politischer Natur sind.
    "In dieser Dimension muss der Bundestag entscheiden. Und er hat nichts entschieden, er hat die Konflikte abstrakt benannt und hat sich aus dem Staub gemacht", kritisiert Medizinrechtler Thomas Gutmann.
    "Niemand will dieses toxische Problem anfassen, welcher Bürger leben darf und welcher sterben muss. Der Deutsche Bundestag will es nicht. Er will es entsorgen und er hat es entsorgt in diesen Graubereich der Hinterzimmer der Bundesärztekammer."
    "Was stellen sich meine Kollegen vor, wer dann diese Arbeit macht? Wenn es nicht die Leute machen, die es heute machen, dann haben sie Laien, die es machen."
    "Wer uns weismachen will, nur das System selbst verfügt über das entsprechende Potenzial, solche Überprüfungen, solche Regeln aufzustellen, der verkennt doch tatsächlich die Situation. Natürlich kann der Staat sich Experten bedienen und sie selbst einstellen und dann auch die Verantwortung dafür tragen, dass das funktioniert. Stellen sie sich doch einmal eine Atomaufsicht vor, die deswegen scheitert, weil man sagt: Also die Regeln sollte die Industrie selber machen, die Regeln anwenden sollte die Atomindustrie auch selber und sie sollte sich dann am Ende auch überwachen."
    Für viele Juristen und Patientenvertreter gibt es nur einen Weg hin zu mehr Patientenschutz: vollständige Transparenz für das System Organspende durch demokratische, öffentlich Strukturen.
    "Es geht darum, dass wir Strukturentscheidungen getroffen haben, die das System korrumpiert haben. Korrumpiert nicht durch Geld, sondern korrumpiert durch Macht und korrumpiert durch die fundamentale Unehrlichkeit der Behauptung, dass die Organverteilung ein medizinisches Problem sei, das man den Medizinern überlassen sollte."
    "Die Spende steht kurz vor ihrem Abschluss. Heute Nacht wurde mehreren Patienten in Deutschland, Ungarn und Österreich das Leben gerettet."