Szilárd Borbély war ein außergewöhnlicher Autor. Begabt mit einer Sprache, die zwischen Altem Testament, barockem Memento mori und Moderne oszilliert; manchmal aber auch bewusst stottert oder Sätze unvollendet lässt. Ausgestattet mit einem besonderen Blick, der Fluch und Segen zugleich ist: Für den Leser, der verstört über das Geschilderte aus dem Text fliehen will, doch von der brüchigen Schönheit einzelner Bilder und Szenen gebannt wird. Und für den Autor selbst, der sein persönliches Verhältnis zu Fiktion und Wirklichkeit einmal mit dem Geschäft des Bettlers erklärte. Der präsentiere den Vorübergehenden aufgemaltes Blut und falsche Narben. Dahinter aber verberge er seine echten Wunden.
Borbély hat furiose Gedichtzyklen geschrieben, eine bedrohlich und zugleich wundersam erlösend wirkende Erzählprosa, aber auch Essays, die deutlich Stellung beziehen gegen die antidemokratische Entwicklung der ungarischen Politik und Gesellschaft. Borbélys wichtigstes Thema ist die Identität. Die verlorene, verratene und verkrüppelte, die man im Laufe des Lebens – zum Beispiel durch das Schreiben oder andere Akte der Selbstermächtigung – wiederzuerlangen oder neuzuerfinden sucht. Oft vergeblich. Ein zweites Motiv, eng damit zusammenhängend, stellt das Leid dar, das dem Individuum durch körperliche und psychische Gewalt zugefügt wird.
In einem kurzen Prosastück über den tatsächlichen Raubmord an seinen Eltern hat Borbély die Praxis des Schriftstellers, wie er sie verstand und ausübte, beschrieben: "Der Dichter hat kein Privatleben. Er verwendet die Gefühle wie Säuren, mit denen er aus dem eigenen und dem Körper anderer die Bedeutung herauslöst, das Grundmaterial des Textes herausfiltert, aus dem er dann Gedichte, flüchtige, nichtexistierende Gegenstände erschafft, etwas, das an den Tod erinnert."
Im Februar 2014 nahm sich Szilárd Borbély das Leben. Heike Flemming, die Borbélys ersten und einzigen Roman "Die Mittellosen" zusammen mit Lacy Kornitzer ins Deutsche übertragen hat, war mit dem Schriftsteller befreundet. Sie berichtet im Nachwort von einer schweren psychischen Erkrankung, unter der er seit Jahren gelitten habe. Borbély selbst vermutete, dass die Arbeit am Roman, für den er intensiv in die Erinnerung seiner schwierigen Dorfkindheit getaucht war, eine posttraumatische Depression ausgelöst habe.
"Die Stille gebiert Angst"
Seinen Roman, der in Ungarn 2013 erschien und von der liberalen Kritik ehrfurchtsvoll gefeiert wurde, hat Borbély eine "biografisch grundierte Fiktion" genannt. Sie zeigt uns eine ärmliche und erbarmungslose bäuerliche Welt im Nordosten Ungarns, an der Grenze zu Rumänien und der Ukraine. Hier gilt uneingeschränkt das Recht des Stärkeren. Das Christentum und die Gesetze der Kommunisten, die dem Dorf eine Kirche gelassen und die Bauern in eine LPG gesteckt haben, spannen eine dünne Membran über dem heidnisch-archaischen Kern der Gemeinschaft.
Gewalt und Brutalität beherrschen den Alltag der 60er- und 70er-Jahre, auch in den Familien und gegenüber den Kindern. Die Kommunikation, die man seit Jahrhunderten auf den Äckern erlernt hat, wird auch zuhause gepflegt: Entweder schreien und fluchen die Menschen oder sie schweigen. Die Kinder dürfen generell nicht sprechen, nur nach Aufforderung. Ihre Aufgabe, das zeichnet Borbély in eindringlichen, furchteinflößenden Bildern, ist eine stumme Anwesenheit.
"Ich frage sie erneut, weil die Stille nicht gut ist. Sie gebiert Angst. Schnüffelt an einem herum wie ein Hund. Hat keine Stimme, taucht plötzlich auf, geräuschlos. Lauert einem immer auf. Er tut dir nichts. Schmiegt sich heimtückisch an dich. Verharrt in deiner Nähe. Doch zuvor entscheidet er, ob er es mit einem Dieb zu tun hat. Man muss dann warten, ob sein Herrchen auftaucht und die Stille, die in den unteren Ästen des Baumes hockt, aufschreckt."
Peitschen und Stöcke
Kinder werden wie Knechte behandelt und müssen verfügbar sein. Wie auch die Frauen, die den Status von Mägden haben. Mit Riemenpeitschen und Stöcken verprügelt man vor allem die Jungs, solange, bis sie eines Tages zurückschlagen. Dann sind sie erwachsen. Fast noch schlimmer aber ist, wie die Bauern den Kindern das Träumen austreiben. Ist das betreffende Kind eingeschlafen, schaffen sie ein schwarzes Katzenjunges herbei. Sie nähen das Kätzchen in einen Sack und schlagen es neben dem Kind mit Kirschholzstöcken tot. Ganz sachte, damit der kleine Mensch nicht aufwacht, die Qualen des Tieres aber hört. Die Todesangst der Katze soll so in das Kind übergehen und den Traum verjagen.
Erzählt wird der Roman aus der Ich-Perspektive eines kleinen Jungen, der mit seinen Eltern und der Schwester in einer kargen Hütte lebt. Verstört und verängstigt, aber hochempfindsam beobachtet er sich selbst, seine Verwandten und die dörfliche Gemeinschaft, die die Familie zurückstößt und erniedrigt, weil sie als Zugereiste und Fremde gelten. Die Angehörigen der Mutter waren einst aus Rumänien zugewandert, vielleicht aber haben sie auch ruthenische oder huzulische Wurzeln, wie die Urgroßmutter behauptet.
Identität der Erniedrigten
In der Ablehnung durch das Dorf und der von der Mutter stetig wiederholten Aussage: "Wir sind keine Bauern" ist dennoch so etwas wie eine Identität entstanden. Eine Hilfsidentität der Erniedrigten und Beleidigten. Ihren Stolz zelebriert die Familie in einer Trotzgemeinschaft, die die Einsamkeit und Armut zu einer aberwitzigen Anspruchslosigkeit überhöht.
Doch damit nicht genug. Dem Vater des Erzählers, Sohn einer alteingesessenen Dorffamilie, wird ein jüdischer Erzeuger angedichtet, vermutlich, um ihm sein Erbe streitig zu machen. Sämtliche Mitglieder der jüdischen Gemeinde, auch die Kinder, mit denen die Mutter des Erzählers vor dem Krieg gespielt hatte, waren bis auf den Ladenbesitzer Mózsi nicht von der Deportation zurückgekehrt und verbrannt worden. Mózsi aber sitzt nun schon seit Jahrzehnten vor seinem ausgeplünderten Haus und wartet auf Frau und Kinder.
Der kindliche Erzähler ringt um Sprache für das, was er beobachtet, erlebt und fühlt. Vieles versteht er nicht. Warum haben die Bauern seinen Vater aus dem Dorf verjagt? Warum will seine Mutter, die als Tagelöhnerin arbeitet, sich ständig das Leben nehmen? Und wozu backt sie Matze und spielt mit den Kindern "Der Messias kommt"?
Der schwebende Messias
Es gibt übrigens tatsächlich einen Messias im Dorf, das heißt, einen Zigeuner, den sie Messias nennen, weil er der einzige ist, der einen Bart trägt. Wenn er spricht, lispelt und stottert er. Manchmal wird er bespuckt und mit Steinen beschmissen, dann kann es sein, dass ihm die Tränen kommen. Meist aber steht er einfach da, schweigt und bittet um nichts. Doch wenn den Bauern wieder einmal die Plumpsklos überlaufen, wohin man auch die zahllosen getöteten Vogel- und Katzenjungen gekippt hat, dann ruft man nach dem Messias, damit er sie von dem Dreck erlöse. Und er kommt auf seine eigene Art:
"Wegen des steifen Rumpfes, des trotzig aufgeworfenen Kopfes, der herunterhängenden spindeldürren Arme scheint es, als liefe Messias nicht auf der Erde, sondern gleite durch die Luft. Als berührten seine Füße gar nicht die Erde."
Auch Szilárd Borbély wurde in seiner Kindheit mit Gewalt zum Schweigen erzogen. Er hat sich widersetzt. An der Universität in Debrecen lehrte er nicht nur Literatur und Geschichte, sondern auch einen freien, unabhängigen Geist und den Mut zum öffentlichen Einspruch. Der ist im heutigen Ungarn, in dem das Nationale weiter auf dem Vormarsch, der Antisemitismus wieder salonfähig und der Hass auf die Roma nicht zu stoppen ist, nötiger denn je. Borbély selbst ist verstummt. Seine Texte aber, vor allem dieser trotz aller Schreckens- und Todesbilder wie Messias erhaben schwebende Roman, werden bleiben.
Szilárd Borbély: "Die Mittellosen."
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Lacy Kornitzer. Suhrkamp, Berlin 2014. 351 Seiten, 24,95 Euro.
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Lacy Kornitzer. Suhrkamp, Berlin 2014. 351 Seiten, 24,95 Euro.