"Mir war nicht klar, wie ich mich zu diesem Video verhalten sollte. Mir gefiel, was ich sah, aber ich wusste nicht, wie ich mich dem auf der emotionalen Ebene nähern sollte."
Boris Konakow erinnert sich gut daran, als das neue Musikvideo von t.A.T.u. im Fernsehen hoch und runter lief.
"Ich war damals 13 Jahre alt und mich haben Fragen der Sexualität, der Homosexualität nicht besonders beschäftigt. Ich habe darüber nicht nachgedacht, aber ich fand das Video einfach visuell interessant. Ich meine, zwei Frauen singen 'Ich brauche sie'. Und diese Küsse zwischen den Mädchen in dem Video."
"All The Things She Said" heißt die erste und bekannteste Single von t.A.T.u., die der Pop-Gruppe 2002 zum internationalen Durchbruch verholfen hat. Ein Nummer-Eins-Hit weltweit. Zwei Jahre vorher war das russische Original erschienen.
Schuluniformen und kurze Röcke
In dem Song geht es um ein Mädchen, das sich verliebt hat – in eine andere junge Frau. Ihr geht das alles nicht mehr aus dem Kopf, sie kann die Gedanken an die andere nicht unterdrücken, träumt davon, gemeinsam auszureißen.
Auch das Musikvideo hat den Erfolg von t.A.T.u. befeuert. Die Sängerinnen, beide um die 15 Jahre alt, tragen darin Schuluniformen, kurze Röcke, weiße Blusen. Sie kommen sich näher und küssen sich. Alles bei strömendem Regen, während hinter einem Zaun eine Menschenmenge steht und sich das Geschehen ungläubig anschaut.
"Das gab es vorher definitiv nicht. Man muss wissen, als es die Sowjetunion noch gab, hatten wir zwar gute Musik, gute Schlager, aber man nahm keine LGBTQ-Personen war. Alles, was wir jetzt sehen – darüber wurde nicht geredet, Homosexualität war ein Straftatbestand."
Das wurde in den 90er Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion besser, Homosexualität wurde im russischen Alltag und in der Kultur sichtbarer. Und dann kam: t.A.T.u. Hinter den beiden Sängerinnen Julia Wolkowa und Lena Katina stand vor allem ein erfolgreicher Produzent und Manager: Iwan Shapowalow. Er hatte t.A.T.u. gecastet, und die Idee, die Teenager als lesbisches Paar zu inszenieren.
Das hat im In- und Ausland für Gesprächsstoff gesorgt, es gab Pädophilie-Vorwürfe, vielen ging die Darstellung von gleichgeschlechtlicher Liebe zu weit.
Für die LBGTQ-Community in Russland war genau das aber sehr wichtig, erzählt Boris Konakow. Er ist heute Anfang 30 und lebt in Sankt Petersburg. Dort arbeitet er in einer NGO, als Aktivist setzt er sich auch für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Queer-Personen ein, macht Veranstaltungen und Ausstellungen im queeren Kontext.
Er ist froh, sagt er, dass t.A.T.u. diese Themen so klar angesprochen hat. Und nennt ein Beispiel: den Song "Malchik gej" – schwuler Junge:
Queere Jugendliche haben Angst
"Mir persönlich hat das Lied geholfen, ich sage mal, Boden unter den Füßen zu bekommen. Als mir klar wurde, dass ich homosexuell bin, habe ich gespürt, dass ich nicht allein auf dieser Welt bin. Für die Community waren die Songs von t.A.T.u. damals empowernd und inspirierend. Und ich hoffe, dass irgendjemand vor 20 Jahren dank All The Things She Said sein Coming-out hatte und alles gut war. Bis heute ist das mit dem öffentlichen Coming-out bei uns in Russland keine einfache Geschichte. Es ist persönlich und politisch sehr wichtig, aber auch gefährlich."
Queere Jugendliche haben Angst, sich öffentlich zu ihrer Sexualität zu bekennen, sie werden bedroht oder physisch angegriffen, fühlen sich isoliert. Das hat die NGO Human Rights Watch in einem Bericht 2018 festgehalten.
Ein Gesetz verbietet auch seit einigen Jahren die "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen", wie es offiziell heißt. Das hat die Situation für schwule, lesbische oder bisexuelle Jugendliche nicht leichter gemacht.
Alles schlecht also? Boris Konakow möchte das so nicht stehen lassen. Klar, für queere Menschen in Russland ist es oft schwierig und gefährlich – vor allem außerhalb der Metropolen – aber er sieht auch Lichtblicke:
"Man hört uns zu"
"Es gibt bekannte Persönlichkeiten, die die Rechte von LGBT und queeren Menschen unterstützen, und zwar richtig: Sie geben uns die Möglichkeit, für uns selber zu sprechen, sie lassen Vertreter der Community zu Wort kommen. Wir haben das Internet und unsere Accounts in den sozialen Medien, mit denen wir eigene Inhalte machen und unsere Agenda pushen können. Man hört uns zu und unsere Ideen werden verbreitet."
Im Rückblick ist klar: t.A.T.u. – die sich 2011 aufgelöst haben – haben diese Agenda nicht offensiv unterstützt. Sie waren keine Aktivistinnen – abgesehen von einigen positiven Äußerungen über die LGBT-Community. Sie waren auch nicht lesbisch. Eine der beiden Sängerinnen hat vor einigen Jahren Schlagzeilen damit gemacht, als sie sagte, einen schwulen Sohn könne sie nicht akzeptieren. t.A.T.u. war also vor allem eins: gutes Marketing.
Umarmungen und Liebe
Enttäuscht und wütend ist Boris Konakow nicht. Er ist den Mädchen dankbar dafür, was sie damals gemacht haben und das sollte man nicht vergessen. Dann erzählt er, was passiert, wenn t.A.T.u.-Songs auf Partys laufen:
"Es ist euphorisch, wirklich euphorisch. Ich habe einige Male selber Partys für die Community gemacht und es kamen immer Leute zu mir und haben mich gebeten, t.A.T.u. aufzulegen. Man kann dazu gut tanzen, es ist energetisch. Ich habe das immer gerne angemacht, es ist ein Must have auf Queer-Partys. Die Leute singen immer mit, es gibt Umarmungen und immer irgendwie Liebe. Das habe ich oft gesehen und das ist wunderbar."