"Das Thema Flucht und Vertreibung war schlicht ein Tabu."
"Zweite Tabuzone: Die so genannte Staatsgrenze und ihre Sicherung, dieser ganze Bereich war mit sehr vielen Tabus im Sinne von Verboten des Redens überdeckt."
"Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat nicht stattgefunden."
"Wir tun heute etwas, über das man in der Öffentlichkeit nicht spricht. Es ist schlichtweg ein Pfui-Thema. Wir sprechen über Sex."
Regeln und Redeverbote im geteilten Deutschland
Tabus unterliegen dem Zeitgeist, orientieren sich an den herrschenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Das zeigt sich exemplarisch an den offiziellen oder inoffiziellen Regeln und Redeverboten im geteilten Deutschland. Tabu ist, was sich nicht gehört, was man nicht tun, sagen, vielleicht nicht einmal denken sollte – eine besonders starke moralische Norm jenseits der Gesetze also. Dazu zählen unverbrüchliche Menschenrechte, aber auch nicht opportune Meinungen, etwa über historische Fakten. Das allen archaischen Tabuvorstellungen eigene Prinzip war "Ordnung" – und Schutz. Und das gilt bis heute.
"Die meisten Tabus überall in der Welt schützen uns ja, also Inzest, Kannibalismus und so weiter, ist weltweit ein anerkanntes Tabu, was uns Menschen davor schützt, Opfer zu werden."
So Professor Andreas Zick vom Institut für Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld. Aber Tabus können auch als Herrschaftsmittel fungieren:
"Tabus sind eigentlich immer Gruppeninteressen, Gruppennormen. Hier geht es auch um ideologische Machtkämpfe. Das heißt, wenn Tabus gebrochen werden, dann wissen wir auch immer, dass sich Kulturen wandeln und dann wird die Machtfrage zwischen Gruppen gestellt."
Tabus unterliegen dem Zeitgeist
Hier gibt es zwischen autoritären und demokratischen Systemen deutliche Unterschiede bei teils oktroyierten, teils internalisierten Tabus. Professor Thomas Lindenberger vom Zentrum für zeitgeschichtliche Forschung in Potsdam beschreibt Tabus in der sowjetischen Zone unmittelbar nach Kriegsende:
"Der offizielle Diskurs kannte eine ganze Reihe von ganz wesentlichen Tabus, vor allem jene Tabus, die mit der Rolle der Sowjetunion als Garantin der Herrschaftsordnung und der Rolle der SED als Staatspartei zusammenhing, und da gehörte alles mit rein, was sich Kritisches über die Sowjetunion als solches, über den Kommunismus insgesamt sagen ließ, und natürlich ein ganz bekanntes Tabu: die Rolle der Roten Armee in den östlichen Territorien Deutschlands, die dabei vorgekommenen Übergriffe und so weiter."
Auch das Thema Vertreibung wurde in der DDR totgeschwiegen. Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der als Zweijähriger mit seiner Familie von Breslau nach Thüringen flüchtete:
"Es durfte darüber nicht öffentlich geredet werden. Und allmählich wurde der öffentliche Sprachgebrauch durchgesetzt, es handele sich um eine Umsiedlung."
Nazi-Verbrechen: Tabu in Ost und West
Ein besonderes Tabu waren die Nazi-Verbrechen. Nach kommunistischer Lesart war der Faschismus eine besonders aggressive Form des Kapitalismus, und das bedeutete: In einem sozialistischen Staat kann es so etwas nicht mehr geben. DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck 1955:
"In unserem Teil Deutschlands halfen die Vertreter der Sowjetunion den sozialistischen und demokratischen Kräften, den kriegsschuldigen Imperialismus und Militarismus auszurotten und eine neue antifaschistisch-demokratische Ordnung zu errichten."
Auch im Westen waren in den 1950er- und 60er-Jahren der Holocaust und Kriegsverbrechen im Dritten Reich tabu, weder Opfer noch Täter konnten darüber reden – kollektive Verdrängung. Professor Martin Görtemarker, Zeithistoriker aus Potsdam, erinnert sich an seine eigene Familie:
"Mein Großvater ist von der SS abgeholt worden, wäre um ein Haar im KZ verschwunden; der Lehrer, der ihn denunziert hatte, war mein Grundschullehrer, das wurde im Dorf toleriert, es wurde beschwiegen, es wurde nicht thematisiert, es wurde auch nicht weiter verfolgt."
Antisemitismus-Tabu in der DDR
Im Osten – da ja nach DDR-Lesart alle Nazis im Westen saßen – wurde zugleich mit der NS-Vergangenheit der Antisemitismus geleugnet. Dabei hat sich der ostdeutsche Staat nicht nur um jegliche Wiedergutmachung gedrückt, sondern gleich alles Jüdische tabuisiert: Die religiöse Überzeugung konnte nicht offen gelebt werden, weil sie dem verordneten Atheismus entgegen stand. Und Sympathie zum Staat Israel verbot sich, weil der als "Speerspitze des Imperialismus" galt. So förderte das Antisemitismus-Tabu in der DDR eher noch die unterschwellige Juden- und auch Fremdenfeindlichkeit.
Im Westen ging es weniger darum, dass man über das Thema Antisemitismus von Staats wegen nicht reden durfte, sondern um ein gesellschaftliches Tabu: Wer sich öffentlich antisemitisch äußerte, wurde nicht nur juristisch bestraft, sondern auch geächtet.
Erst langsam lehnte sich eine neue Generation politisch und gesellschaftlich auf: gegen den "Muff aus tausend Jahren", gegen das Schweigen der Elterngeneration. Das Tabu NS-Vergangenheit im Westen wurde gebrochen. Ganz im Sinne der Aufklärung wollten die "Achtundsechziger" den Schleier wegreißen, über das bis dato Unsagbare reden, wollten wissen, was ihre Väter und Mütter getan hatten.
68er-Generation stellte Normen auf den Prüfstand
Es dauerte dann aber noch bis 1985, bis der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker der 68er-Generation zustimmte, dass die Gräuel der Nazis nicht mehr verschwiegen werden dürften:
"Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig."
Darüber hinaus hatten die 68er-Studenten generell Normen auf den Prüfstand gestellt, die überholt waren und nur unhinterfragt gesellschaftlichen Traditionen folgten. Der Bielefelder Psychologe Andreas Zick:
"Es gibt den Tabubruch, der ist ideologisch motiviert, da geht's um Macht, und dann gibt es den Tabubruch, der ganz wichtig ist für gesellschaftliche Entwicklung. Zum Beispiel, dass Menschen hingehen und sagen, dass Stände und Schichten nicht naturgegeben sind, ist ein Tabubruch in einer Kultur, ist aber ungeheuer wichtig für den Wandel."
Dem Ruf nach mehr Freiheiten, politischen wie persönlichen, folgte im Westen Deutschlands das, was später "sexuelle Revolution" hieß.
Tabuthema: Abtreibung und Homosexualität
"Die Aufgabe sehe ich als eine grundsätzliche Befreiung des einzelnen Menschen von Unwissenheit und Aberglaube und Vorurteil in sexueller Hinsicht einerseits, und andererseits den Versuch, eine Veränderung der Gesellschaft in sexueller Hinsicht zu erreichen."
Oswald Kolle hat sich mit Filmen wie "Das Wunder der Liebe" damals aber nicht nur Freunde gemacht.
"Der verdirbt die ganze Jugend. Das ist ein Schweinehund, ist das."
Doch der freiere Umgang mit Sexualität, losgelöst von Ehe und Fortpflanzung, war nicht mehr aufzuhalten. Nicht zuletzt die "Anti-Baby-Pille" machte es möglich. Größere Offenheit bezog sich dann allmählich auch auf andere tabuisierte Lebensformen wie Homosexualität und Tabuthemen wie Abtreibung.
Im "anderen deutschen Staat" gab es offiziell keine Probleme mit verdruckster Sexualität, keine Tabus, wie ein Mann im Arztkittel im DDR-Fernsehen erklärte:
"Jede Lustfeindlichkeit ist dem Wesen des Marxismus völlig fremd. Lenin formuliert in einem Gespräch mit Klara Zetkin, dass wir im Kommunismus nicht Askese anstreben, sondern Lebensfreude, Lebenslust, auch durch erfülltes Liebesleben."
In der DDR war Sexualität tatsächlich "freier", vor allem wegen der anderen Rollenzuschreibung zwischen Mann und Frau. Außerdem wirkte ohne religiöse Bindungen die Vorstellung von "Sünde" weniger massiv. Deshalb war auch zum Beispiel Nacktheit nicht so verpönt. Dazu der Leipziger Professor Kurt Starke, schon zu DDR-Zeiten Sexualforscher:
"Ich denke schon, dass in dieser FKK-Bewegung etwas von dem Selbstbewusstsein dieser DDR-Bürger in diesem doch sehr kleinen und auch bedrückend kleinen Staat gewesen ist. In Vielem ist in Bezug auf Liebe und Partnerschaft in der DDR offener gelebt worden als in bestimmten oder weiten Kreisen der alten Bundesländer."
Ost und West tabuisierten sich gegenseitig
Insgesamt aber wusste man in Ost und West nur wenig voneinander. Nicht zuletzt weil man den jeweils Anderen tabuisierte. Angefangen bei Sprachregelungen: Die Abkürzung "DDR" wurde im Westen oft in Anführungszeichen benutzt, während man im Osten konsequent "BRD" statt Bundesrepublik sagte. Westmusik galt als dekadent, Westfernsehen war verpönt, und Westkontakte unterband die Staatsmacht, wo immer es ging.
Im Westen wurden Themen wie soziale Gerechtigkeit, mehr Gleichheit, Gesellschaftskritik schnell als kommunistisch verunglimpft: "Geh' doch rüber", hieß es dann. Ostkontakte auf politischer Ebene waren für Staatsbedienstete zumeist verboten.
Anfangs hatte das Ziel "Wiedervereinigung" in beiden Verfassungen gestanden. Doch die Bindung an die jeweiligen Alliierten zementierte zunehmend die Teilung. Die eigene staatliche Identität wurde zu einer wichtigen Staatsdoktrin der DDR:
"Und da war dann die Vorstellung der Einheit selber ein Tabu, und es war vor allem auch ein Tabu, in der offiziellen Sphäre der DDR zur Kenntnis zu nehmen, dass die meisten DDR-Bürger im Prinzip die Idee der Einheit noch für eine gute Sache hielten."
So Thomas Lindenberger vom Zentrum für zeitgeschichtliche Forschung in Potsdam. Und die faktische Trennung durch die Mauer war in jedem Sinne des Wortes Tabuzone.
Vorstellung der Einheit war ein Tabu
"Man durfte nicht öffentlich darüber reden, wie man es anstellen könnte, in den Westen zu gelangen, wie viele es möglicherweise tatsächlich geschafft haben oder nicht geschafft haben, wie viele Mauertote es gibt und so weiter."
Aber der Unmut wuchs. Ein bekanntes Beispiel war der Liedermacher Wolf Biermann. Obwohl überzeugter Sozialist, griff er immer wieder Missstände auf und SED-Funktionäre an – und machte auch vor dem Tabu Mauer nicht halt:
"Der Stacheldraht wächst langsam ein, tief in die Haut, in Brust und Bein, ins Hirn, in graue Zellen. Umgürtet mit dem Drahtverband ist unser Land ein Inselland, umbrandet von bleiernen Wellen."
Im November 1976 darf Biermann plötzlich nach Westdeutschland zum Konzert ausreisen, tatsächlich aber nutzt die Staatsgewalt seinen Auftritt in Köln, um den lästigen Kritiker loszuwerden. Er wird ausgebürgert. Im DDR-Fernsehen heißt es dazu:
"Unser sozialistischer Staat hat mit diesem Treiben viel Geduld gehabt. Die Szene, die sich in Köln abgespielt hat, verlangte eine angemessene Antwort."
Tabubrüche in Diktaturen und Demokratien
Tabubrüche haben sehr unterschiedliche Folgen in Demokratien und Diktaturen. In autoritären Systemen droht dem, der ein Tabu verletzt, der Tod, ein realer oder sozialer. Der Historiker Professor Lindenberger:
"Ein Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie ist der, dass in der Diktatur bestimmte Tabubrüche tatsächlich mit existenziellen Risiken für die jeweilige Person verbunden sind. Und deswegen muss es sehr genau überlegt werden für die Akteure, ob sie das auf sich nehmen oder nicht, und entsprechend haben sich dann eben auch die Gefängnisse in der DDR gefüllt, wenn darum gekämpft wurde, das Tabu zu brechen, um der Wahrheit in einem ganz grundlegenden Sinne zum Durchbruch zu verhelfen.
In der kapitalistischen Medienwelt geht's um die Konkurrenz der vielen, darum, durch das Brechen von Tabus, auch Aufmerksamkeit und Belohnung zu erringen. Das ist eine andere Konstellation, die die Rolle der Tabus in der freien Gesellschaft natürlich viel formbarer macht."
Aber auch in der DDR durchbrechen immer mehr Menschen die Mauer des Schweigens. Bei einer der Montagsdemonstrationen in Leipzig 1989 tritt zum Beispiel eine Pädagogin auf:
"Es geht um die doppelte Moral bei uns in der Schule. Und ich erwarte als ganz einfache bescheidene Lehrerin Maßnahmen von unserer Regierung, damit wir nicht laufend unsere Probleme verdrängen müssen und vor unseren Schülern dastehen und nicht mehr die richtigen Antworten geben können."
Im November 89 ist es dann soweit:
"Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen."
"Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen."
"Das erste, was ich Ihnen allen zurufen will, ist ein herzlicher Gruß all ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Bundesrepublik Deutschland."
"Das ist ein Gefühl in der Seele, ja, ich kann gar nicht sagen, wie einem zumute ist."
Tabubruch Kosovo-Einsatz
Insgesamt ist der Umgang mit Tabus im vereinten Deutschland heute zumeist etwas entspannter.
"Ich glaube, es gibt jetzt im Bereich der politischen Werte eine viel größere Möglichkeit, Dinge zur Sprache zu bringen und der Diskussion auszusetzen. Typisches Beispiel dafür sind alle Debatten über Krieg oder Frieden. Absoluter Pazifismus oder engagierter sorgloser Bellizismus."
Der erstmalige militärische Einsatz deutscher Soldaten nach dem 2. Weltkrieg war ohne Zweifel ein Tabubruch. Bundeskanzler Gerhard Schröder begründet im März 1999 das Eingreifen im Kosovo:
"Heute Abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern."
Damals hat die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg die Partei der Grünen fast zerrissen. Inzwischen empfinden jedenfalls Politiker Waffenlieferungen auch in Krisengebiete, etwa gegen islamistische Terroristen, kaum noch als Tabu.
Tabubruch als Inszenierung
Insgesamt wird heute das Aufheben oder Weiterbestehen von Tabus gesellschaftlich verhandelt. Ein Beispiel ist die Debatte um "Political Correctness". Aus den USA kam die Idee der sprachlichen Gleichstellung etwa von Frauen oder von ethnischen Minderheiten rasch auch nach Deutschland. Bestimmte diskriminierende Begriffe sollten nicht mehr bedenkenlos benutzt werden: Negermusik, Zigeuner, Krüppel. Der Bielefelder Psychologe Andreas Zick:
"Also in Ländern, die hoch individualistisch sind und dadurch jede Bürgerin, jeder Bürger auch staatliche Normen selbst vertreten muss, da gibt es große Diskussionen um politische Korrektheit, weil es immer wieder Gruppen gibt, die sie ständig angreifen."
Seit einiger Zeit kommt aber der Tabubruch häufig als Inszenierung daher. Der Satz "Das wird man ja noch sagen dürfen", er suggeriert, es gäbe eine "Wahrheit", die man bislang nicht aussprechen durfte. Die behauptete "Befreiung" von solchen Tabus hält Andreas Zick für ein perfides Vorgehen:
"Erst einmal reden sie uns ein, dass wir eigentlich unterdrückt werden. Und das erzeugt bei Menschen, die das hören, so einen psychologischen Zustand, den nennen wir Reaktanz, das heißt, wenn sie das glauben, dass ihre Meinungsfreiheit eingegrenzt wird, dann wollen sie die Meinungsfreiheit wieder herstellen. Und dann sind die Schleusen geöffnet. Beim Antisemitismus ist das immer das deutlichste Beispiel. Das haben wir jetzt gerade sehr lebendig erlebt bei den Protesten um die Kritik an Israels Politik im Gaza, dass da Gruppen gesagt haben: 'So, jetzt sehen wir aber, wie brutal die wirklich sind", und dann fangen sie an, Tabu zu brechen.'"
Verstöße gegen Pseudotabus generieren Aufmerksamkeit
Nicht nur verdeckter Antisemitismus, auch allgemein rassistische Ressentiments brechen unter dem Deckmantel des inszenierten Tabubruchs hervor. So bei den Veröffentlichungen von Thilo Sarrazin: Das von ihm behauptete Tabu etwa, dass Integration misslungen sei, existiert nicht, vielmehr gab und gibt es unzählige Debatten dazu.
Während der echte Tabubrecher etwas riskiert, geht es beim Vorstoß gegen solche Pseudotabus um Belohnung und Aufmerksamkeit für sich selbst. Thomas Lindenberger:
"'Das muss man doch mal sagen dürfen' – daran erkennt man schon, dass es sich wahrscheinlich nicht um ein echtes Tabu gehandelt hat, sondern um genau diese Operation, das Reden über eine Sache zu einem Tabu zu machen, um sie dann umso effektvoller in Szene zu setzen."
Inszenierte Tabubrüche werden in unserer Mediengesellschaft immer mehr zum Mittel politischer Auseinandersetzung bei populistischen oder rechten Parteien, so bei der Alternative für Deutschland – AfD. Sie hat sich von der Euro-Skeptiker-Partei zur "Das-muss-doch-mal-gesagt-werden-Partei" entwickelt.
Inszenierte Tabubrüche als politisches Mittel
Auch wenn es in vielen anderen Fällen sinnvoll ist, über gesellschaftliche Normen zu diskutieren: Es setzt eine offene Gesellschaft voraus, die sich darüber verständigen kann, welche Tabus gelten sollen und welche nicht mehr.
Am Beispiel Deutschland zeigt sich, dass gesellschaftlicher Umbruch im Umgang mit Tabus besondere Probleme bringt: In der DDR haben die meisten Menschen "gelernt", Denk- und Redeverbote zu akzeptieren. Im Westen wurde teilweise das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, wurden fast alle Tabus nach und nach zur Disposition gestellt. Als Provokation gemeinte Tabubrüche verläppern nicht selten zu Modetrends.
Die Konsequenz, könnte man pessimistisch sagen: Der gesellschaftliche Umgang miteinander wird rauer, gegenseitiger Respekt und Gewalthemmung haben bedrohlich abgenommen. Noch einmal der Konfliktforscher Andreas Zick von der Uni Bielefeld:
Provokante Tabubrüche werden zu Modetrends
"Zivilisation, würde man ja mit dem großen Soziologen Norbert Elias sagen, ist Emotionskontrolle, dass ich eben nicht hingehe und sage: 'Mann, ich will mal sagen was ich will, und ich will mal meine Wut 'rauslassen' – das ist ja eine große Diskussion, die wir im Moment haben, die Bürgerinnen und Bürger werden aufgerufen, ihre ganze Wut mal 'rauszulassen – Affektkontrolle ist etwas, was zivilisatorisch ist. Und dafür sind Tabus zum Teil notwendig, genauso wie Tabubrüche notwendig sind, wenn wir eine neue Form von Kontrolle haben müssen."