Gottesdienst in der voll besetzten ehemaligen Grundschule. Aus Liedern und Gebeten der Gläubigen klingt bleischwere Ernsthaftigkeit.
Die Kirche im Schulhaus soll nur eine Übergangslösung sein. Die eigentliche, die alte Kirche: Sie steht hinter einem hohen Metallzaun, abgeriegelt, einsam und verlassen. Das Backsteingemäuer ist von Einschusslöchern beschädigt, das Wellblechdach von Gewehrkugeln durchsiebt, die verbogenen Gitterstäbe des Portals rosten vor sich hin. Süßlicher Verwesungsgeruch schwebt über dem Gelände.
"Mehr als 10.000 Menschen haben vor zehn Jahren hier Zuflucht gesucht", erzählt Mukama Tharcisse. "Es war der 12. April, da kamen die Todesschwadronen der Interahamwe und die Soldaten", "Sie haben die Tür mit ihren Gewehrkolben aufgebrochen und dann geschossen, mit Macheten und Knüppeln um sich geschlagen. Sie haben fünf Tage gebraucht, bis der letzte Mensch tot war.
Auf seinen Stock gestützt und scheinbar ungerührt erzählt der 74-jähre die Geschichte von Blutrausch und Gemetzel. Die Schädel und Gebeine der 10.000 Opfer liegen in Katakomben unter der Kirche und unter dem Altarraum aufgebahrt. Nyamata, eine Autostunde südlich der Hauptstadt Kigali, ist eine der größten Genozid-Gedenkstätten Ruandas.
Aus der Kirche klingt Kinderlachen und Getrappel. Ein paar Mädchen und Jungen rennen rund um den Altar, der noch mit einem von getrocknetem Blut erstarrten Leinentuch bedeckt ist. Sie spielen Fangen zwischen etwa zwei Dutzend mumifizierten Leichen, die hinter dem Altarraum liegen, bis Mukama Tharcisse seinen Stock hebt und die Kinder aus der Kirche jagt.
Wir haben die Toten erst vor einer Woche in einem Massengrab in den Sümpfen gefunden", erzählt der grauhaarige Alte. "Einige gerade entlassene Sträflinge sind ins Dorf zurückgekommen und haben uns die Stelle gezeigt." Die Leichen sind gekrümmt, sie haben die Arme vor den Gesichtern gekreuzt, als müssten sie sich noch heute vor den Macheten ihrer Mörder schützen. Wissen die Kinder, was hier passiert ist?
Ich heiße Anik", stellt sich eines der Mädchen im Sonntagskleid vor. Ja, ihre Mutter und die Lehrer haben ihr erzählt, dass damals Krieg war. "Aber sie haben doch nicht die Knochen getötet, sondern die Menschen", sagt die Neunjährige. Wie soll sie verstehen, was niemand bis heute begreifen kann.
Unter den Leichen könnten sich auch Verwandte von Mukama Thacisse befinden. Ich habe meine Frau, sechs Kinder, meine Brüder und Schwestern verloren". Und die Männer, die jetzt aus dem Gefängnis wieder nach Hause zurückgekehrt sind, sie sind die Täter von damals. Kein Problem, behauptet Mukama. Schließlich habe die Regierung gesagt, Hutus und Tutsis sollten friedlich zusammenleben. Aber kann er den Schrecken der Vergangenheit tatsächlich verdrängen? Die vielen Falten im unrasierten Gesicht verraten keine Gefühlsregung.
"Ich verurteile niemanden. Die alte Regierung hat den Völkermord angeordnet, und die Leute haben ihre Macheten genommen und getötet. Sie haben nur Befehle ausgeführt". Auch zehn Jahre danach ist der Völkermord allgegenwärtig. Verdrängung schützt vor Verzweiflung.
Die vierspurige Hauptstraße vom Flughafen in die Innenstadt säumen nagelneue Geschäfts- und Bürohäuser, dazwischen moderne Appartementblocks und Reihenhaussiedlungen. Baukräne beherrschen auch das Bild im Zentrum. Boomtown Kigali. Dennoch hat sich die ruandische Hauptstadt ihre Beschaulichkeit in der sanften Hügellandschaft erhalten. Keine Verkehrsstaus, saubere Bürgersteige, und die öffentlichen Grünanlagen werden von Männern in rosafarbenen Schlafanzügen gepflegt – Sträflingskolonnen im gemeinnützigen Arbeitseinsatz. Kigali im Frühjahr 2004.
Vor acht Monaten sind die Menschen hier feiernd durch die Straßen getanzt. Jubel und Gesang aus tausenden Kehlen als Paul Kagame im Amahoro-Stadion winkend ans Mikrofon tritt. "Dies ist ein ehrlicher Sieg, unumkehrbar und keineswegs überraschend", ruft der Präsident seinen Anhängern zu. Dieser Sieg soll dem Rest der Welt eine Lehre sein, dass Ruanda auf dem richtigen Weg ist.
Dass der 45jährige ehemalige Rebellenführer für sieben Jahre in seinem Amt bestätigt würde, daran hatte niemand der achteinhalb Millionen Ruander gezweifelt. Mit einem Wahlergebnis von 95 Prozent aber konnten nicht einmal die kühnsten Optimisten innerhalb Kagames "Patriotischer Front Ruandas", RPF, rechnen.
Die Ruander haben damit zum Ausdruck gebracht, wie das Land wieder aufgebaut werden soll und wem sie das zutrauen", sagt Agnes Mukabaranga, die Sprecherin der parlamentarischen Frauengruppe. "Ruanda ist ein besonderes Land, das mit der historischen Last des Völkermords leben muss."
Die 41jährige Rechtsanwältin ist für die kleine "Demokratische Zentrums Partei" ins Parlament eingezogen, die heute mit der übermächtigen RPF eine Koalition bildet. Der Sieg Kagames sei kein Wunder, weil der Präsident das Symbol für Wiederaufbau, Frieden und Versöhnung sei.
Über das Maß an Freiheit und Demokratie lässt sich streiten, die Zeit des politischen Übergangs ist jedenfalls innerhalb der letzten Monate zu Ende gegangen. Mit einem Verfassungsreferendum hat Ruanda das Einparteiensystem abgeschafft, hat einen geachteten und disziplinierten Arbeiter als Präsidenten und ein Parlament mit dem höchsten Frauenanteil weltweit.
Wir befinden uns an der Spitze aller Länder der Welt. Fast 49 Prozent unserer Parlamentsabgeordneten sind Frauen", sagt Agnes Mukabaranga stolz. "Das hat es bisher weder in Ruanda noch sonst irgendwo gegeben."
39 Frauen und 41 Männer sind nach den Wahlen im September letzten Jahres ins Unterhaus in Kigali eingezogen. 24 Sitze waren über eine Quotenregelung reserviert, aber – und das ist der eigentliche Erfolg – weitere 15 Frauen haben sich direkt in den Wahlkreisen gegen ihre männliche Konkurrenz durchgesetzt, zählt Agnes Mukabaranga auf.
Frauen, sagt sie, sind kompromissbereiter, friedfertiger und versöhnlicher. Genau das braucht das Land zehn Jahre nach der Gewaltorgie des Völkermords.
"In unserer Kultur ist die Frau eine 'nyambinga’. Das heißt, sie ist wie eine Bücke in der Gesellschaft. Sie ist diejenige, die in der Familie die Gäste empfängt."
Die 41jährige ist Politikerin, Rechtanwältin, Hausfrau und Mutter von vier Kindern. Eine typische Karrierefrau. Aber sie macht keinen Unterschied zwischen Intellektuellen oder Bäuerinnen. Alle ruandischen Frauen standen damals vor einer schier unlösbaren Herausforderung. Denn die Männer waren tot, im Gefängnis oder auf der Flucht.
Die Männer und Jungen waren das Hauptziel während des Genozids. Deshalb mussten wir Frauen die Last der Verantwortung für das Land schultern – für Gerechtigkeit, Wiederaufbau und für eine neue Politik kämpfen. Die Frauen von Ruanda spielen eine ganz bedeutende Rolle."
Noch immer sitzen rund 100.000 Beschuldigte in den überfüllten Gefängnissen, 23.000 wurden nach jahrelanger Untersuchungshaft auf freien Fuß gesetzt, weil sie ihre Gräueltaten gestanden haben. Weitere 30.000 sollen in den nächsten Wochen folgen. Sie kehren in ihre Heimatdörfer zurück, an die Orte ihrer Verbrechen, und treffen dort auf die Überlebenden des Völkermords.
"Die Situation in vielen Städten und Dörfern ist einfach so, dass Opfer und Täter wieder Tür an Tür leben”, sagt Präsident Paul Kagame. Das ist das Leben, das die Menschen in Ruanda seit Jahren ertragen müssen".
Der kleine, untersetze Herr im dunklen Anzug, mit dicker Hornbrille und altrosafarbener Krawatte wirkt wie ein Geschäftsmann - aufmerksam, aber scheinbar ungerührt. Wie einer, der auf dem Flughafen auf den Start seiner verspäteten Maschine wartet. Auf so eine Gelegenheit dürfte Theoneste Bagosora jedoch vergeblich hoffen. Der 63jährige sitzt auf der Anklagebank der ersten Kammer des UN-Völkermord-Tribunals für Ruanda in der tansanischen Stadt Arusha. Geradezu gelangweilt, mit halb geschlossenen Augen, folgt er der Vernehmung eines Zeugen. Der ehemalige Oberst der ruandischen Armee gilt als der Drahtzieher und Chefplaner des Genozids, Bagosora trägt die Hauptverantwortung für den bestialischen Mord an rund 800.000 Menschen. Bei einer Verurteilung erwartet Bagosora eine lebenslange Haftstrafe.
"Ich lade jeden nach Arusha ein, um sich selbst davon zu überzeugen, was im Gerichtssaal passiert", sagt der Präsident des Tribunals, der Norweger Erik Möse. "Und sie werden sehen, wie wir in angemessener Zeit versuchen Recht zu sprechen."
Möse wehrt sich damit nicht zuletzt gegen den Vorwurf, das Tribunal arbeite im Schneckentempo. Nur sieben von 66 Angeklagten waren bis Ende 2002 verurteilt. Nicht gerade ein Zeichen von Effizienz.
Der stellvertretende Chefankläger Bongani Majola weist solche Unterstellungen weit von sich.
"Die ersten Fälle waren die schwierigsten und längsten”, erklärt der Südafrikaner. "Die Ermittlungen waren sehr aufwändig, so das allein diese Verfahren drei Jahre gedauert haben."
Die Verteidiger und die Staatsanwälte mussten ihre Ermittler auf der Suche nach Spuren und Beweisen für den Völkermord rund um den Globus schicken.
Im letzten Jahr hat das Tribunal aber erheblich Tempo gemacht. Das Pensum eines ganzen Jahres wurde zuletzt innerhalb eines Monats erledigt. 21 Fälle sind inzwischen abgeschlossen, 18 Angeklagte zu Haftstrafen zwischen zwölf Jahren und lebenslänglich verurteilt, drei wurden freigesprochen, 20 Fälle werden verhandelt und 22 Beschuldigte warten auf ihren Prozess. Der beschleunigte Prozessverlauf ist vor allem Eric Möse zu verdanken, der im letzten Sommer die Präsidentschaft übernommen und den Verlauf der Prozess gestrafft hat.
Trotz der grauenhaften Ereignisse, die täglich in den Verhandlungssälen von Arusha in Erinnerung gerufen werden, trotz der kaltschnäuzigen Unschuldsmine eines Oberst Bagosora, verlaufen die Verfahren in Arusha ruhig und sachlich, geradezu geschäftsmäßig.
"Dennoch kann niemand die Berichte über Massaker hören, ohne davon berührt zu werden. Aber die Pflicht steht über Gefühlen”, sagt Gerichts-Präsident Eric Möse. Und das kostet sehr viel Kraft.
Überall in den Städten und Dörfern Ruandas stehen große Reklametafeln am Straßenrand. Bei flüchtigem Hinsehen könnten sie für Mobiltelefone oder Kosmetik werben – wäre da nicht der Text in Großbuchstaben: "Gacaca-Gerichte, die Wahrheit heilt". "Wenn wir sagen, was wir gesehen haben, wenn wir gestehen, was wir getan haben, dann wird das unsere Wunden heilen". Gacaca ist Kinyarwanda und heißt "Gras". Gacaca-Gerichte sind die traditionellen Dorfversammlungen, in denen sich in vorkolonialer Zeit Laienrichter mit Hühnerdieben und Raufbolden beschäftigt haben. Heute sollen die wieder belebten Gacacas die unvorstellbaren Verbrechen des Völkermords aufarbeiten.
Kanyampereri, ein kleines Bergdorf in der Nordprovinz Ruhengeri. Fast 150 Leute haben sich auf einem kleinen Grasflecken zwischen Kartoffelfeldern versammelt. Links hocken die Frauen, teils mit ihren Babies in Wickeltüchern, rechts die Männer. Dazwischen grasen Ziegen, Hühner picken nach Würmern
An einem langen Tisch ließt der Vorsitzende, eingerahmt von 15 Beisitzern, aus einer Aktenmappe vor. Bauern, Hausfrauen, Schreiner und Verkäuferinnen richten hier über Mörder und Totschläger.
Heute soll die Beweisaufnahme in drei Fällen abgeschlossen werden. Die Angeklagten sind nicht anwesend, haben aber Plünderungen und in zwei Fällen auch Mord gestanden. Nur wenige Zeugen und Zuschauer nutzen die letzte Gelegenheit, die Dossiers des Vorsitzenden zu ergänzen. Dürre Aussagen im Flüsterton. In der letzten Reihe, auf einem der ganz wenigen Stühle, sitzt Jean-Marie Narabamenye.
"Das oberste Ziel der Gacacas ist die Versöhnung und der Wiederaufbau der ruandischen Gesellschaft", sagt der Koordinator für die Verfahren in der Ruhengeri-Provinz. Jede Woche besucht der ehemalige Lehrer zwei bis drei Verhandlungen und sammelt Erfahrungen. Denn noch befindet sich die Gacaca-Justiz mit 750 Gerichten landesweit in der Probephase. Kein einziges Urteil ist bisher gesprochen, aber noch in diesem Jahr sollen weitere 9.000 Graswurzel-Tribunale in ganz Ruanda eingerichtet werden.
Eine alte Frau, die schon an vielen Sitzungen teilgenommen hat, glaubt nicht an den Erfolg der Gacacas.
Bei den Verhandlungen kommt es immer wieder zu neuen Beschuldigungen", klagt sie. "Statt die Leute aus den Gefängnissen zu entlassen, werden immer mehr eingesperrt." Richter werden eingeschüchtert, etliche Zeugen sind unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Es herrscht Misstrauen und Angst. Jean-Marie Narabamenye bestreitet die Probleme nicht, dennoch ist er vom Erfolg der Gacacas überzeugt. Wenn die ersten Urteile da sind, dann kommt auch das Vertrauen zurück.
Das wichtigste sind die Urteile. Die Täter müssen bestraft werden, damit die Opfer Gerechtigkeit erfahren. Ohne Urteile keine Versöhnung." Natürlich sei der Anfang mühsam gewesen. Aber Narabamenye ist davon überzeugt, dass in etwa zwei Jahren alle Verfahren abgeschlossen sein werden.
Im Caritas-Jugendzentrum der Provinzhauptstadt Ruhengeri wird heute gefeiert. Der Bischof ist gekommen, der Regierungspräsident und viele andere Honoratioren der 70.000 Einwohner-Stadt im Norden Ruandas. Hauptpersonen sind aber zwei Dutzend Jugendliche, kleine Bettler und Diebe. Waisen des Völkermords, die von Sozialarbeitern auf der Straße aufgelesen wurden . Sie erhalten heute ihre Gesellenbriefe. Drei Jahre haben die Mädchen und Jungen in Werkstätten gelernt. Jetzt sind sie Schreiner, Schumacher, Schneiderinnen oder Friseusen.
Stolz zeigt die 20jährige Elisabeth ihre Urkunde.
"Das Ministerium für Wirtschaft bescheinigt ihr, die Ausbildung zur Schneiderin erfolgreich abgeschlossen zu haben. Mühsam entziffert sie die Buchstaben auf dem Zertifikat.
Neben Elisabeth sitzt der 16jährige David in einem schwarz-roten Trainingsanzug der "Chicago Bulls" und grinst. Nein, sagt er, er habe keine Berufsausbildung absolviert.
"Ich bin jetzt seit zwei Jahren hier und gehe noch zur Schule, in die sechste Klasse". Einer der Caritas-Helfer hat ihn damals auf dem Marktplatz angesprochen. Ich habe kein Zuhause gehabt und unter freiem Himmel geschlafen", erzählt David. Manchmal habe ich um eine Banane oder eine Scheibe Brot gebettelt, oft musste ich stehlen, um zu überleben. Und wenn ich vor Hunger nicht einschlafen konnte, habe ich Drogen genommen und Klebstoff oder Benzin geschnüffelt."
David war gerade sechs Jahre alt, als die Todesschwadronen sein Dorf überfallen haben.
Als das Gemetzel ausbrach, sind wir geflüchtet. Später bin ich aus meinem Versteck heraus gekommen, aber da waren alle tot und in Stücke geschlagen. Meine Eltern drei Schwestern und vier Brüder."
Da hat sich der Kleine auf Weg gemacht, über die Grenze nach Uganda, zu seiner Tante. Ein paar Jahre später musste er wieder flüchten, weil beiden Länder kurz vor einem Krieg standen.
Ich bin dann zurück nach Hause gelaufen. Aber da war unser Haus abgebrannt und die Nachbarn hatten den Acker verkauft. Sie haben mich aus dem Dorf gejagt."
Hilfsorganisationen schätzen, dass noch heute 100.000 Kinder wie David auf der Straße leben.
Die Straßenkinder von Ruhengeri, die Dorfjugend aus Nyamata oder die Söhne und Töchter der Oberschicht in Kigali, sie werden ihren Eltern eines Tages Fragen stellen: "Was habt ihr damals gemacht? Wie hätte der Völkermord verhindert werden können? Und warum hat uns die Welt alleingelassen?" Vielleicht wird aber erst die nächste Generation die Fesseln von Trauma und Verdrängung sprengen. Denn noch verbirgt sich hinter den sanften Hügeln Ruandas, hinter jedem Strauch und jeder Hütte die Fratze des Todes.
Die Kirche im Schulhaus soll nur eine Übergangslösung sein. Die eigentliche, die alte Kirche: Sie steht hinter einem hohen Metallzaun, abgeriegelt, einsam und verlassen. Das Backsteingemäuer ist von Einschusslöchern beschädigt, das Wellblechdach von Gewehrkugeln durchsiebt, die verbogenen Gitterstäbe des Portals rosten vor sich hin. Süßlicher Verwesungsgeruch schwebt über dem Gelände.
"Mehr als 10.000 Menschen haben vor zehn Jahren hier Zuflucht gesucht", erzählt Mukama Tharcisse. "Es war der 12. April, da kamen die Todesschwadronen der Interahamwe und die Soldaten", "Sie haben die Tür mit ihren Gewehrkolben aufgebrochen und dann geschossen, mit Macheten und Knüppeln um sich geschlagen. Sie haben fünf Tage gebraucht, bis der letzte Mensch tot war.
Auf seinen Stock gestützt und scheinbar ungerührt erzählt der 74-jähre die Geschichte von Blutrausch und Gemetzel. Die Schädel und Gebeine der 10.000 Opfer liegen in Katakomben unter der Kirche und unter dem Altarraum aufgebahrt. Nyamata, eine Autostunde südlich der Hauptstadt Kigali, ist eine der größten Genozid-Gedenkstätten Ruandas.
Aus der Kirche klingt Kinderlachen und Getrappel. Ein paar Mädchen und Jungen rennen rund um den Altar, der noch mit einem von getrocknetem Blut erstarrten Leinentuch bedeckt ist. Sie spielen Fangen zwischen etwa zwei Dutzend mumifizierten Leichen, die hinter dem Altarraum liegen, bis Mukama Tharcisse seinen Stock hebt und die Kinder aus der Kirche jagt.
Wir haben die Toten erst vor einer Woche in einem Massengrab in den Sümpfen gefunden", erzählt der grauhaarige Alte. "Einige gerade entlassene Sträflinge sind ins Dorf zurückgekommen und haben uns die Stelle gezeigt." Die Leichen sind gekrümmt, sie haben die Arme vor den Gesichtern gekreuzt, als müssten sie sich noch heute vor den Macheten ihrer Mörder schützen. Wissen die Kinder, was hier passiert ist?
Ich heiße Anik", stellt sich eines der Mädchen im Sonntagskleid vor. Ja, ihre Mutter und die Lehrer haben ihr erzählt, dass damals Krieg war. "Aber sie haben doch nicht die Knochen getötet, sondern die Menschen", sagt die Neunjährige. Wie soll sie verstehen, was niemand bis heute begreifen kann.
Unter den Leichen könnten sich auch Verwandte von Mukama Thacisse befinden. Ich habe meine Frau, sechs Kinder, meine Brüder und Schwestern verloren". Und die Männer, die jetzt aus dem Gefängnis wieder nach Hause zurückgekehrt sind, sie sind die Täter von damals. Kein Problem, behauptet Mukama. Schließlich habe die Regierung gesagt, Hutus und Tutsis sollten friedlich zusammenleben. Aber kann er den Schrecken der Vergangenheit tatsächlich verdrängen? Die vielen Falten im unrasierten Gesicht verraten keine Gefühlsregung.
"Ich verurteile niemanden. Die alte Regierung hat den Völkermord angeordnet, und die Leute haben ihre Macheten genommen und getötet. Sie haben nur Befehle ausgeführt". Auch zehn Jahre danach ist der Völkermord allgegenwärtig. Verdrängung schützt vor Verzweiflung.
Die vierspurige Hauptstraße vom Flughafen in die Innenstadt säumen nagelneue Geschäfts- und Bürohäuser, dazwischen moderne Appartementblocks und Reihenhaussiedlungen. Baukräne beherrschen auch das Bild im Zentrum. Boomtown Kigali. Dennoch hat sich die ruandische Hauptstadt ihre Beschaulichkeit in der sanften Hügellandschaft erhalten. Keine Verkehrsstaus, saubere Bürgersteige, und die öffentlichen Grünanlagen werden von Männern in rosafarbenen Schlafanzügen gepflegt – Sträflingskolonnen im gemeinnützigen Arbeitseinsatz. Kigali im Frühjahr 2004.
Vor acht Monaten sind die Menschen hier feiernd durch die Straßen getanzt. Jubel und Gesang aus tausenden Kehlen als Paul Kagame im Amahoro-Stadion winkend ans Mikrofon tritt. "Dies ist ein ehrlicher Sieg, unumkehrbar und keineswegs überraschend", ruft der Präsident seinen Anhängern zu. Dieser Sieg soll dem Rest der Welt eine Lehre sein, dass Ruanda auf dem richtigen Weg ist.
Dass der 45jährige ehemalige Rebellenführer für sieben Jahre in seinem Amt bestätigt würde, daran hatte niemand der achteinhalb Millionen Ruander gezweifelt. Mit einem Wahlergebnis von 95 Prozent aber konnten nicht einmal die kühnsten Optimisten innerhalb Kagames "Patriotischer Front Ruandas", RPF, rechnen.
Die Ruander haben damit zum Ausdruck gebracht, wie das Land wieder aufgebaut werden soll und wem sie das zutrauen", sagt Agnes Mukabaranga, die Sprecherin der parlamentarischen Frauengruppe. "Ruanda ist ein besonderes Land, das mit der historischen Last des Völkermords leben muss."
Die 41jährige Rechtsanwältin ist für die kleine "Demokratische Zentrums Partei" ins Parlament eingezogen, die heute mit der übermächtigen RPF eine Koalition bildet. Der Sieg Kagames sei kein Wunder, weil der Präsident das Symbol für Wiederaufbau, Frieden und Versöhnung sei.
Über das Maß an Freiheit und Demokratie lässt sich streiten, die Zeit des politischen Übergangs ist jedenfalls innerhalb der letzten Monate zu Ende gegangen. Mit einem Verfassungsreferendum hat Ruanda das Einparteiensystem abgeschafft, hat einen geachteten und disziplinierten Arbeiter als Präsidenten und ein Parlament mit dem höchsten Frauenanteil weltweit.
Wir befinden uns an der Spitze aller Länder der Welt. Fast 49 Prozent unserer Parlamentsabgeordneten sind Frauen", sagt Agnes Mukabaranga stolz. "Das hat es bisher weder in Ruanda noch sonst irgendwo gegeben."
39 Frauen und 41 Männer sind nach den Wahlen im September letzten Jahres ins Unterhaus in Kigali eingezogen. 24 Sitze waren über eine Quotenregelung reserviert, aber – und das ist der eigentliche Erfolg – weitere 15 Frauen haben sich direkt in den Wahlkreisen gegen ihre männliche Konkurrenz durchgesetzt, zählt Agnes Mukabaranga auf.
Frauen, sagt sie, sind kompromissbereiter, friedfertiger und versöhnlicher. Genau das braucht das Land zehn Jahre nach der Gewaltorgie des Völkermords.
"In unserer Kultur ist die Frau eine 'nyambinga’. Das heißt, sie ist wie eine Bücke in der Gesellschaft. Sie ist diejenige, die in der Familie die Gäste empfängt."
Die 41jährige ist Politikerin, Rechtanwältin, Hausfrau und Mutter von vier Kindern. Eine typische Karrierefrau. Aber sie macht keinen Unterschied zwischen Intellektuellen oder Bäuerinnen. Alle ruandischen Frauen standen damals vor einer schier unlösbaren Herausforderung. Denn die Männer waren tot, im Gefängnis oder auf der Flucht.
Die Männer und Jungen waren das Hauptziel während des Genozids. Deshalb mussten wir Frauen die Last der Verantwortung für das Land schultern – für Gerechtigkeit, Wiederaufbau und für eine neue Politik kämpfen. Die Frauen von Ruanda spielen eine ganz bedeutende Rolle."
Noch immer sitzen rund 100.000 Beschuldigte in den überfüllten Gefängnissen, 23.000 wurden nach jahrelanger Untersuchungshaft auf freien Fuß gesetzt, weil sie ihre Gräueltaten gestanden haben. Weitere 30.000 sollen in den nächsten Wochen folgen. Sie kehren in ihre Heimatdörfer zurück, an die Orte ihrer Verbrechen, und treffen dort auf die Überlebenden des Völkermords.
"Die Situation in vielen Städten und Dörfern ist einfach so, dass Opfer und Täter wieder Tür an Tür leben”, sagt Präsident Paul Kagame. Das ist das Leben, das die Menschen in Ruanda seit Jahren ertragen müssen".
Der kleine, untersetze Herr im dunklen Anzug, mit dicker Hornbrille und altrosafarbener Krawatte wirkt wie ein Geschäftsmann - aufmerksam, aber scheinbar ungerührt. Wie einer, der auf dem Flughafen auf den Start seiner verspäteten Maschine wartet. Auf so eine Gelegenheit dürfte Theoneste Bagosora jedoch vergeblich hoffen. Der 63jährige sitzt auf der Anklagebank der ersten Kammer des UN-Völkermord-Tribunals für Ruanda in der tansanischen Stadt Arusha. Geradezu gelangweilt, mit halb geschlossenen Augen, folgt er der Vernehmung eines Zeugen. Der ehemalige Oberst der ruandischen Armee gilt als der Drahtzieher und Chefplaner des Genozids, Bagosora trägt die Hauptverantwortung für den bestialischen Mord an rund 800.000 Menschen. Bei einer Verurteilung erwartet Bagosora eine lebenslange Haftstrafe.
"Ich lade jeden nach Arusha ein, um sich selbst davon zu überzeugen, was im Gerichtssaal passiert", sagt der Präsident des Tribunals, der Norweger Erik Möse. "Und sie werden sehen, wie wir in angemessener Zeit versuchen Recht zu sprechen."
Möse wehrt sich damit nicht zuletzt gegen den Vorwurf, das Tribunal arbeite im Schneckentempo. Nur sieben von 66 Angeklagten waren bis Ende 2002 verurteilt. Nicht gerade ein Zeichen von Effizienz.
Der stellvertretende Chefankläger Bongani Majola weist solche Unterstellungen weit von sich.
"Die ersten Fälle waren die schwierigsten und längsten”, erklärt der Südafrikaner. "Die Ermittlungen waren sehr aufwändig, so das allein diese Verfahren drei Jahre gedauert haben."
Die Verteidiger und die Staatsanwälte mussten ihre Ermittler auf der Suche nach Spuren und Beweisen für den Völkermord rund um den Globus schicken.
Im letzten Jahr hat das Tribunal aber erheblich Tempo gemacht. Das Pensum eines ganzen Jahres wurde zuletzt innerhalb eines Monats erledigt. 21 Fälle sind inzwischen abgeschlossen, 18 Angeklagte zu Haftstrafen zwischen zwölf Jahren und lebenslänglich verurteilt, drei wurden freigesprochen, 20 Fälle werden verhandelt und 22 Beschuldigte warten auf ihren Prozess. Der beschleunigte Prozessverlauf ist vor allem Eric Möse zu verdanken, der im letzten Sommer die Präsidentschaft übernommen und den Verlauf der Prozess gestrafft hat.
Trotz der grauenhaften Ereignisse, die täglich in den Verhandlungssälen von Arusha in Erinnerung gerufen werden, trotz der kaltschnäuzigen Unschuldsmine eines Oberst Bagosora, verlaufen die Verfahren in Arusha ruhig und sachlich, geradezu geschäftsmäßig.
"Dennoch kann niemand die Berichte über Massaker hören, ohne davon berührt zu werden. Aber die Pflicht steht über Gefühlen”, sagt Gerichts-Präsident Eric Möse. Und das kostet sehr viel Kraft.
Überall in den Städten und Dörfern Ruandas stehen große Reklametafeln am Straßenrand. Bei flüchtigem Hinsehen könnten sie für Mobiltelefone oder Kosmetik werben – wäre da nicht der Text in Großbuchstaben: "Gacaca-Gerichte, die Wahrheit heilt". "Wenn wir sagen, was wir gesehen haben, wenn wir gestehen, was wir getan haben, dann wird das unsere Wunden heilen". Gacaca ist Kinyarwanda und heißt "Gras". Gacaca-Gerichte sind die traditionellen Dorfversammlungen, in denen sich in vorkolonialer Zeit Laienrichter mit Hühnerdieben und Raufbolden beschäftigt haben. Heute sollen die wieder belebten Gacacas die unvorstellbaren Verbrechen des Völkermords aufarbeiten.
Kanyampereri, ein kleines Bergdorf in der Nordprovinz Ruhengeri. Fast 150 Leute haben sich auf einem kleinen Grasflecken zwischen Kartoffelfeldern versammelt. Links hocken die Frauen, teils mit ihren Babies in Wickeltüchern, rechts die Männer. Dazwischen grasen Ziegen, Hühner picken nach Würmern
An einem langen Tisch ließt der Vorsitzende, eingerahmt von 15 Beisitzern, aus einer Aktenmappe vor. Bauern, Hausfrauen, Schreiner und Verkäuferinnen richten hier über Mörder und Totschläger.
Heute soll die Beweisaufnahme in drei Fällen abgeschlossen werden. Die Angeklagten sind nicht anwesend, haben aber Plünderungen und in zwei Fällen auch Mord gestanden. Nur wenige Zeugen und Zuschauer nutzen die letzte Gelegenheit, die Dossiers des Vorsitzenden zu ergänzen. Dürre Aussagen im Flüsterton. In der letzten Reihe, auf einem der ganz wenigen Stühle, sitzt Jean-Marie Narabamenye.
"Das oberste Ziel der Gacacas ist die Versöhnung und der Wiederaufbau der ruandischen Gesellschaft", sagt der Koordinator für die Verfahren in der Ruhengeri-Provinz. Jede Woche besucht der ehemalige Lehrer zwei bis drei Verhandlungen und sammelt Erfahrungen. Denn noch befindet sich die Gacaca-Justiz mit 750 Gerichten landesweit in der Probephase. Kein einziges Urteil ist bisher gesprochen, aber noch in diesem Jahr sollen weitere 9.000 Graswurzel-Tribunale in ganz Ruanda eingerichtet werden.
Eine alte Frau, die schon an vielen Sitzungen teilgenommen hat, glaubt nicht an den Erfolg der Gacacas.
Bei den Verhandlungen kommt es immer wieder zu neuen Beschuldigungen", klagt sie. "Statt die Leute aus den Gefängnissen zu entlassen, werden immer mehr eingesperrt." Richter werden eingeschüchtert, etliche Zeugen sind unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Es herrscht Misstrauen und Angst. Jean-Marie Narabamenye bestreitet die Probleme nicht, dennoch ist er vom Erfolg der Gacacas überzeugt. Wenn die ersten Urteile da sind, dann kommt auch das Vertrauen zurück.
Das wichtigste sind die Urteile. Die Täter müssen bestraft werden, damit die Opfer Gerechtigkeit erfahren. Ohne Urteile keine Versöhnung." Natürlich sei der Anfang mühsam gewesen. Aber Narabamenye ist davon überzeugt, dass in etwa zwei Jahren alle Verfahren abgeschlossen sein werden.
Im Caritas-Jugendzentrum der Provinzhauptstadt Ruhengeri wird heute gefeiert. Der Bischof ist gekommen, der Regierungspräsident und viele andere Honoratioren der 70.000 Einwohner-Stadt im Norden Ruandas. Hauptpersonen sind aber zwei Dutzend Jugendliche, kleine Bettler und Diebe. Waisen des Völkermords, die von Sozialarbeitern auf der Straße aufgelesen wurden . Sie erhalten heute ihre Gesellenbriefe. Drei Jahre haben die Mädchen und Jungen in Werkstätten gelernt. Jetzt sind sie Schreiner, Schumacher, Schneiderinnen oder Friseusen.
Stolz zeigt die 20jährige Elisabeth ihre Urkunde.
"Das Ministerium für Wirtschaft bescheinigt ihr, die Ausbildung zur Schneiderin erfolgreich abgeschlossen zu haben. Mühsam entziffert sie die Buchstaben auf dem Zertifikat.
Neben Elisabeth sitzt der 16jährige David in einem schwarz-roten Trainingsanzug der "Chicago Bulls" und grinst. Nein, sagt er, er habe keine Berufsausbildung absolviert.
"Ich bin jetzt seit zwei Jahren hier und gehe noch zur Schule, in die sechste Klasse". Einer der Caritas-Helfer hat ihn damals auf dem Marktplatz angesprochen. Ich habe kein Zuhause gehabt und unter freiem Himmel geschlafen", erzählt David. Manchmal habe ich um eine Banane oder eine Scheibe Brot gebettelt, oft musste ich stehlen, um zu überleben. Und wenn ich vor Hunger nicht einschlafen konnte, habe ich Drogen genommen und Klebstoff oder Benzin geschnüffelt."
David war gerade sechs Jahre alt, als die Todesschwadronen sein Dorf überfallen haben.
Als das Gemetzel ausbrach, sind wir geflüchtet. Später bin ich aus meinem Versteck heraus gekommen, aber da waren alle tot und in Stücke geschlagen. Meine Eltern drei Schwestern und vier Brüder."
Da hat sich der Kleine auf Weg gemacht, über die Grenze nach Uganda, zu seiner Tante. Ein paar Jahre später musste er wieder flüchten, weil beiden Länder kurz vor einem Krieg standen.
Ich bin dann zurück nach Hause gelaufen. Aber da war unser Haus abgebrannt und die Nachbarn hatten den Acker verkauft. Sie haben mich aus dem Dorf gejagt."
Hilfsorganisationen schätzen, dass noch heute 100.000 Kinder wie David auf der Straße leben.
Die Straßenkinder von Ruhengeri, die Dorfjugend aus Nyamata oder die Söhne und Töchter der Oberschicht in Kigali, sie werden ihren Eltern eines Tages Fragen stellen: "Was habt ihr damals gemacht? Wie hätte der Völkermord verhindert werden können? Und warum hat uns die Welt alleingelassen?" Vielleicht wird aber erst die nächste Generation die Fesseln von Trauma und Verdrängung sprengen. Denn noch verbirgt sich hinter den sanften Hügeln Ruandas, hinter jedem Strauch und jeder Hütte die Fratze des Todes.