Bei der Berlinale kann's auch mal der alternative Jutebeutel sein, in Cannes ist es in diesem Jahr ein edles, DIN-A4 großes Designstück in blauem Leder, mit eingeprägtem Palmzweigsymbol, seidig gefüttert. Cannes hat Stil. Und mit dem Stil-Utensil wandern die Filmkritiker in den nächsten zehn Tagen durch die Parallelwelten an der Croisette: von Kino zu Kino an weißen Strandpavillons vorbei, an Luxus-Hotels und -Yachten, zwischen blauem Meer und grünen Hügeln, vorbei am rotem Teppich, den in diesem Jahr u.a. Catherine Deneuve, Isabella Rossellini, Cate Blanchett, Woody Allen und die Coen-Brüder bevölkern werden, während in der weltabgewandten Dunkelheit der Kinosäle das ganze Elend der Menschheit, des Menschseins, die Krisen unserer Zeit und die mühsame Suche nach Glück über die Leinwände ziehen.
21 Filme zeigt das Wettbewerbsprogramm in diesem Jahr, sieben davon stammen allein aus Frankreich. Die Franzosen feiern sich gerne selbst, das hat Tradition. An zweiter Stelle die Italiener mit drei Filmen. Deutschland ist überhaupt nicht vertreten. Seit Jahren haben wir einen schweren Stand in Cannes. Lediglich zwei deutsche Kurzfilme haben es an die Côte d'Azur geschafft, allerdings in sehr randständige Nebenreihen.
Tarantino? Almodóvar? Malick?
Die internationalen Spitzen-Regisseure sucht man diesmal vergeblich: kein Tarantino, kein Almodóvar, kein Trier, kein Malick, kein Jarmusch. Wenn die was Neues haben, schlagen sie damit in Cannes auf. Cannes hat immer Vorrang. Immerhin gibt es einen Gus van Sant mit "The See of Trees" über einen lebensmüden Mann, der durch eine Rettungsaktion in den Wäldern Japans wieder ins Leben zurückfindet. Oder einen Jia Zhang-Ke mit "Mountains may depart" über das harte Leben in Chinas Kohlerevier. Und einen Matteo Garrone, der nach seinem Camorra-Thriller "Gomorrah" nun mit "Il Racconto dei Racconti" einen märchenartigten Alptraum über Macht und Gewalt vorlegt.
Mehr Regisseurinnen
Eine mittlere Generation, international teils noch wenig bekannt, stellt sich in Cannes 2015 vor. Überraschungen sind garantiert. Und welche Themen und Tendenzen gibt es? Frauen als Regisseurinnen haben es endlich einmal in einigermaßen vorzeigbarer Zahl in den Wettbewerb geschafft: Maiwenn, Valérie Donzelli und Emmanuelle Bercot. Bercot hat gerade mit "La tête haute" die Serie der Pressevorführungen eröffnet. Catherine Deneuve begleitet als unermüdlich sich sorgende Jugend-Richterin die traurige Kriminellen-Karriere eines Jungen von dessen sechsten bis achtzehnten Lebensjahr. Ein Film über die vermeintlich hoffnungslosen Sozialfälle. Viele Familiengeschichte gibt es darüber hinaus und natürlich die Probleme unserer Zeit: Drogenkrieg in Mexico, Flüchtlingsströme nach Europa, alternde Gesellschaften und Jugendgewalt. Islamistischer Terror, IS-Massaker, Ukraine-Krise – nicht alles wird in Cannes verhandelt.
Jetzt aber flott die blaue Ledertasche gepackt und in die zweite Pressevorführung: "Unsere kleine Schwester" des Japaners Kore-Eda Hirokazu – Familienfilm.
Christoph Schmitz ist Redakteur in der Hauptabteilung Kultur des Deutschlandfunks.