Cannes startet durch. Mit extrem lauten, schrillen, spektakulären Filmen. Allen voran "Mad Max: Fury Road" des Australiers George Miller. Weltweit startet "Mad Max" auch heute in den Kinos. Bei der Pressevorführung am Morgen gab es immer wieder Szenenapplaus. Dreißig Jahre haben die Fans von Millers "Mad Max"-Reihe auf den vierten Teil gewartet und gebangt, ob überhaupt was draus werden würde. Jetzt ist der Zweistunden-Blockbuster da und liefert ein Spektakel, das kaum zu übertreffen ist. Die Geschichte ist ziemlich simpel: Ein kleine Gruppe bricht aus dem Herrschaftsbereich eines skrupellosen Diktators aus, der die Abtrünnigen gnadenlos verfolgt. Mehr passiert nicht.
Aber die Bilder, die toten Landschaften, die irrwitzigen Unwetter, die zu bizarren Schrotthaufen zusammengeschusterten Fahrzeuge und Todesmaschinen und die mit Narbentattoos und Brandzeichen verstümmelten Körper der Krieger haben eine Wucht, daß es einem Minute für Minute den Atem verschlägt. Die Erde ist ein toter Wüstenplanet, durchsetzt mit ein paar verseuchten Feuchtgebieten. Der Mensch hat dem Planeten längst den Todesstoß versetzt. Bösewicht Immortan Joe regiert über das kostbarste Gut, das es gibt: Trinkwasser. Aus gigantischen Rohren läßt er es hin und wieder über das elende Volk in der Wüste niedergehen. Die einarmige Furiosa (Charlize Theron) bricht aus dem System aus und versuch sich und Joes Harem ins gelobte Gartenland zu retten, mit Hilfe vom Meisterüberlebenskämpfer Max Rockatansky (Tom Hardy). Gekämpft, gefeuert und geballert mit absurdesten Waffen wird fast ununterbrochen. Eine albtraumartige Endzeit-Oper hat George Miller inszeniert, durchmischt mit Versatzstücken aus germanischen Mythen, Kettensägen-Horror und Comic-Ästhetik. Maximal-Kino ist das, demgegenüber James Camerons "Avatar" wie eine Märchenstunde aussieht.
Dass die Welt am Ende ist, liegt auf der Hand
Eine Märchenstunde, allerdings in sehr drastischer und skurriler Bildsprache, hat auch der Italiener Matteo Garrone mit "Il Racconto dei Racconti" geliefert. In seiner "Geschichte der Geschichten" füttert etwa ein König seinen Floh mit dem Blut aus der Fingerkuppe. Der Floh wächst, ist bald so groß wie ein Dackel, später wie ein Ochse. Ein anderer König tötet ein Wasserungeheuer. Das basketballgroße Herz des Monsters bekommt die Königin roh serviert, die es ganz aufisst, dadurch einer Prophezeiung gemäß endlich schwanger wird und noch am selben Tag einen Albino zur Welt bringt.
Eine deutliche Botschaft hat Matteo Garrone seinem Film eingeimpft: Alles im Leben braucht sein Gleichgewicht, jeder braucht etwas, das ihn ergänzt. Wenn nicht, kommt das Verderben. Das wird in pompösen Szenen ausgewalzt, soll den Zuschauer ins Staunen versetzen, tut es aber in den zweit Stunden Filmdauer nur selten. George Millers "Mad Max" dagegen will erst gar keine Großbotschaften verkünden. Dass die Welt am Ende ist und nur der fürsorgliche Umgang mit den Ressourcen den Untergang verhindern kann, liegt auf der Hand. Interessant, daß Miller das vor allem den Frauen zutraut. Sie haben ein Händchen für Mutter Natur.
Kein Platz für stille Filme?
Bei all dieser Opulenz von Miller und Garrone könnte man meinen, daß die stillen Filme im Gedächtnis keinen Platz finden können. Stimmt aber nicht. Zwei sehr zurückhaltende Filme aus Japan über Familienbande und alltägliche Glücks- und Trauermomente stammen von Kore-Eda Hirokazu ("Unsere kleine Schwester") und Naomi Kawase ("An"). Lyrische Erzählungen haben die beiden geschaffen, in denen die Schönheit der kleinen Dinge und das augenblickliche Gelingen zwischenmenschlichen Beziehungen gefeiert werden.
So wirken die ersten beiden Tage in Cannes unterm Strich noch sehr verwirrend. Eine festivaldramaturgische Linie läßt sich nicht erkennen. Als wüßten die Macher nicht so recht, wohin es gehen soll. Das einzig Beständige sind das milde Wetter, die frische Meeresluft und die vielen, vielen Menschen auf der Uferpromenade.
Christoph Schmitz ist Kultur-Redakteur des Deutschlandfunks.