Und wie so oft strahlt die Sonne über der Bucht von Cannes und weht ein frischer Wind durch die Palmen und die flanierende Menschenmenge auf der Uferpromenade. Dem Wetter, der Landschaft und in den Urlaubern ist es ziemlich egal, welche Themen in den Kinos verhandelt werden. Dabei haben die Festivalbesucher das Schlimmste erlebt, was man als Augenzeuge mitbekommen kann: Wir waren in einem Vernichtungslager der Nazis, in den Gaskammern, in den Krematorien.
Der ungarische Regisseur László Nemes hat uns in "Son of Saul" durch die Mordmaschinerie gejagt, immer dicht auf den Fersen von Saul Ausländer, Häftling und Mitglied eines Sonderkommandos, das die Opfer von den Zugrampen zum "Duschen" führt, beim Ausziehen hilft und mit sanftem Druck in die Todeskammern schiebt, um sich dann rücklings an die verriegelte Eisentür zu lehnen, hinter der die Stimmen, Schläge, Schreie immer lauter und panischer werden. Dicht an Sauls Kopf vorbei sehen wir, wie der ungarische Häftling die Leichen aus der Gaskammer zieht und zu den Öfen karrt, wie seine Hände mit einer Bürste Urin, Kot und Blut vom Boden schrubben und der Mann plötzlich einen Jungen entdeckt, der das Gas überlebt hat und von einem Nazi-Schergen erstickt wird.
Ein Moment der Menschlichkeit in der Hölle
Das Kind: Sauls eigener Sohn. Das glaubt der Vater jedenfalls und tut in den nächsten 90 Minuten alles, um sein Kind mit einem Kaddisch die letzte Ehre zu erweisen inmitten des nicht endenden Stresses, dem das Sonderkommando unter deutschem Geschrei permanent ausgesetzt ist. Im Focus hat die Kamera fast immer nur Sauls Nacken oder sein gehetztes und versteinertes Gesicht. Die Menschen rundum, die KZ-Umgebung, die Leichen sind nur verschwommen zu sehen.
Ein beeindruckender künstlerischer Versuch, sich der Banalität des Vernichtungs-Alltags zu nähern. Ob er letztlich gelungen ist - ich habe meine Zweifel. Die Filmkritiker sind gespalten. Manche halten "Son of Saul" sogar für zynisch, weil Saul selbst zum möglichen Täter wird, indem er durch seine Beerdigungsvorbereitungen das Leben seiner Mithäftlinge aufs Spiel setzt. Ich bin dieser Meinung nicht. Saul will in der Hölle einen Moment der Menschlichkeit ermöglichen. Aber sogar das wird durch den deutschen Genozid letztlich vernichtet. Selbst der azurblaue Frühjahrshimmel kann manchmal nicht trösten, auch wenn er es gerne möchte. Erst durch die Diskussionen und Analysen unter Kollegen kommt langsam wieder Licht in Gedanken und Gefühle.
"The Lobster" - absurd und grausam
Eine finstere, grausame und absurde Filmwelt hat auch der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos mit "The Lobster" ("Der Hummer") geschaffen. Auch wenn viel Witz und Ironie mitspielen, schmerzhaft ist das allemal, was der neue Star des aufblühenden griechischen Kinos, Yorgos Lanthimos, zeigt.
Alleinlebende Menschen werden in ein Luxushotel eingewiesen, wo sie innerhalb von 45 Tagen einen Partner gefunden haben müssen. Wenn es ihnen nicht gelingt, werden sie in ein Tier verwandelt und im nahgelegenen Wald ausgesetzt. Die Insassen lassen sich bereitwillig den rigiden Regeln einer vorsintflutlichen Pädagogik unterwerfen. Wer masturbiert hat, bekommt im Frühstückssaal die Hand in den Toaster gesteckt, eine der leichteren Strafen. Beliebtestes Ausflugsvergnügen - Leute im Wald wie bei einer Treibjagd aufspüren und abknallen.
Eine kaputte Gesellschaft, gefangen in einem bizarren Regelwerk. Nur einer bricht aus, haut ab, geht zu den Waldleuten, verliebt sich - mit schlimmen Folgen. Lanthimos erzählt eine Parabel, die das Zeug für eine der Preispalmen in acht Tagen haben könnte. Und jetzt nochmal für ein paar Minuten an die frische Luft, während Woody Allen ein Stockwerk höher die Pressekonferenz über seinen neuen Film "Irrational Man" gibt. Ein lebensmüder Professor verliebt sich in eine junge, hübsche Studentin. Nur Woody Allen ist zuzutrauen, aus so einem Allerweltstoff etwas zu machen. Wie bei jedem Filmfest reicht auch in Cannes nicht die Zeit dafür, alle Beiträge zu sehen. Schade.