Tag 4
Eine Reise um die Welt

Aus der ganzen Welt kommen Kinogucker nach Cannes, um sich einen Flickenteppich des internationalen Filmschaffens anzuschauen. Nur die wenigstens Filme werden es jedoch in europäische Kinos schaffen. Während das bei einigen kein schlimmer Verlust wäre, wünscht man besonders den Filmen mit starken Frauenfiguren des heutigen Tages ein großes Publikum.

Von Christoph Schmitz | 16.05.2015
    Die Schauspielerinnen Margherita Buy (v.l.) und Beatrice Mancini gemeinsam mit Regisseur Nanni Moretti, bei der Vorführung seines Film "Mia Madre" auf dem 68. Filmfestival in Cannes, Frankreich
    Die Schauspielerinnen Margherita Buy (v.l.) und Beatrice Mancini gemeinsam mit Regisseur Nanni Moretti, bei der Vorführung seines Film "Mia Madre" auf dem 68. Filmfestival in Cannes, Frankreich (picture alliance / dpa/ Ian Langsdon)
    Kurztrips nach Indien, Japan, Italien, Iran und wieder zurück nach Frankreich. Manchmal ist Cannes wie ein Flickenteppich nationalen Filmschaffens. Ein programmatischer Faden ist nicht zu erkennen. Dafür bekommen die aus allen Erdteilen angereisten Kinogucker interessante Schlaglichter geboten.
    Einige Tage verbringt Regisseur Gurvinder Singh mit seinem Spielfilm "The fourth direction" im nordindischen Bundesstaat Punjab, 1984. Der Konflikt zwischen den einheimischen Sikh und deren Unabhängigkeitskämpfern einerseits und dem Militär der Zentralregierung Indiens eskaliert. Ein Bauer und seine Familie geraten zwischen die Fronten. Die ständige Angst steht allen ins Gesicht geschrieben. Sintflutartige Regen gehen nieder. Dampfschwaden ziehen über die satten Felder. Die Rufe unbekannter Nachttiere hallen in der Dunkelheit. Keiner in den kargen Zimmern der ärmlichen Hofanlage schläft durch. Die Gefahr lauert zu jeder Tageszeit.
    Internationales Publikum für viele Filme nur in Cannes
    Alles sehnt sich nach einem friedlichen Alltag – davon sprechen Gurvinder Singhs Bilder vor allem. Leider werden Europäer sie kaum in den Kinos zu sehen bekommen. Die meisten Filme des Festivals werden ein internationales Publikum nur in Cannes haben. Auch nach Deutschland finden nur die wenigsten Arbeiten ihren Weg.
    Ein Film, vor dem man das deutsche Publikum auch am liebsten bewahren würde, ist der neue Streifen des berühmten Amerikaners Gus van Sant: "The Sea of Trees". Der amerikanische Wissenschaftler Arthur ist in die uralten Wälder des japanischen Nationalparks Aokigahara gereist, um sein Leben dort mit einer Überdosis Medikamente zu beenden. Seine Frau ist gerade nach einer erfolgreichen Krebstherapie bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
    Schon das ist etwas viel Schicksalsschwere. Schlimmer aber noch wird es, als Arthur beim Pillenschlucken einen ebenfalls lebensmüden Japaner entdeckt, dem er aber das Leben unbedingt meint, retten zu müssen. Am schlimmsten wird es am Ende, wenn der gute Arthur im Krankenhaus feststellen muss, dass dieser Japaner kein realer Mensch war, sondern nur einer der vielen Geister, die den dunklen Forst bevölkern.
    Tiefschlag fürs Kinogewissen
    Die Welt ist mehr, als die Naturwissenschaft wissen kann – diese Botschaft will Gus van Sant uns verkünden. Toll. Dass ein solcher Streifen für den wichtigsten Wettbewerb der Filmwelt ausgewählt wurde, ist ein Tiefschlag fürs Kinogewissen.
    "Mia Madre" von Nanni Moretti heute Morgen hat manch einen – ich gehöre dazu – wieder mit dem Festival versöhnt – oder verschwistert, damit nicht der Eindruck entsteht, nur Männer könnten Frieden schließen. Es ist ja gefährlich geworden, gendermäßig nicht die Gleichschaltung zu bedienen. Darum versucht Cannes – wie vor Tagen schon erwähnt –, betont Frauen vor und hinter der Kamera ins Spiel zu bringen. Und genau davon erzählt Nanni Morettis "Mai Madre" – von einer Regisseurin, die einen Film über den Streik in einem Unternehmen dreht, die sich zugleich um die sterbende Mutter kümmert und die heranwachsende Tochter.
    Das alles verwebt Moretti auf dramaturgisch ausgefeilte Weise. Seine Frauenfiguren sind starke, intelligente und aufmerksame Typen (könnte man auch Typinnen sagen, oder darf man/frau das Wort gar nicht verwenden?).
    "Mia Madre": stärkste Film des Wettbewerbtages
    Eine ebenso starke, kluge und in diesem Fall auch besonders schöne Frau steht im Mittelpunkt des iranischen Films "Nahid" von Ida Panahandeh – ihr Erstlingswerk. Nahid heißt die junge Frau, die nach der Scheidung und zu Beginn einer neuen Liebe mit vielen Tricks versucht, ihre Eigenständigkeit bewahren und vor allem ihren ziemlich aus dem Ruder laufenden Sohn zu behalten und in den Griff zu bekommen. Meine Kinonachbarin kommentierte danach: "Wie gut wir Frauen es doch in Deutschland haben."
    Und gerade zeigte uns die französische Regisseurin Alice Winocour in "Maryland", wie es einem französischen Soldaten ergehen kann, der gerade aus Afghanistan ziemlich nervös zurückgekehrt ist. Er muss nämlich trotz Tinnitus, Zitteranfällen und Pillensucht die Villa eines libanesischen Geschäftsmannes an der Côte d'Azur samt Blondine (Diane Kruger) und Kind bewachen. Fast wäre er nach Schießereien und Messerkampf am Schluss mit Diane nach Kanada durchgebrannt. Fazit: Afghanistan-Veteranen kannst du trauen. Glück gehabt. Danke Jungs.
    Der stärkste Film im Wettbewerb heute also war "Mia Madre". Allerdings folgt um 19.00 Uhr noch "Carol" des Meisteressayisten Todd Haynes über eine Frauenliebe in den 1950er-Jahren mit Cate Blanchett in der Titelrolle. Die Spannung bleibt.