Tag 7
Alles gewollt - alles verloren

So viele gute Ideen! So viele gute Bilder! So viele starke Motive! Und dazu eine Liebesgeschichte, die es in sich hat und intensiver nicht sein könnte, nämlich die zwischen Marguerite und Julien. Eine verbotene Liebe - denn die beiden sind Geschwister...

    Szene aus dem Film: "Marguerite & Julien" von Valérie Donzelli. Im Bild die französischen Hauptdarsteller Jeremie Elkaim (li.) und Anais Demoustier
    Sie will gegen alle Widerstände das Unmögliche: Anais Demoustier (re.) als Marguerite mit ihrem Filmpartner und Filmbruder Julien, gespielt von Jeremie Elkaim (picture alliance / dpa / Cannes Film Festival)
    Marguerites kindliches Gesicht, auch als sie erwachsen ist, prägt sich einem direkt ein. Anaïs Demoustier spielt das ätherische Wesen, das von einer Urkraft getrieben wird und gegen alle Widerstände das Unmögliche will. Mit ihrer Inzest-Geschichte durchstreift die französische Regisseurin Valérie Donzelli zugleich die Jahrhunderte.
    Ihr Wettbewerbsfilm "Marguerite & Julien" basiert auf einer realen Begebenheit im 17. Jahrhundert, in einem Schloss stellt uns Donzelli ihr Liebespaar auch vor und lässt dessen Kindheit in einem Schlafsaal unter Kindern und Jugendlichen gegen Ende des 19. Jahrhunderts berichten. Im Pferdekutschenzeitalter wird die Geschichte wie ein Märchen fortgesponnen. Doch irgendwann tauchen die ersten Autos auf, das erste Radio und am Ende, wie schon am Anfang, Hubschrauber. Ein Sondereinsatzkommando lauert dem flüchtenden Inzestpaar auf, bringt es vor die Richter in Amtsperücken, Julien wird enthauptet, mit einem Beil, ganz mittelalterlich. Und ganz am Schluss kommt noch ein kurzer, vielleicht zwei Minuten langer Exkurs, ein Feuerwerk der Schöpfung, zu dem eine Stimme das Leben, die Liebe und das Wunder des Daseins beschwört.
    Aber: Valérie Donzelli hat das ganze herrliche Material, ihren großen Fantasiereichtum dramaturgisch leider nicht durchgearbeitet. Alles wirkt kompositorisch unausgegoren, unreif, beliebig. Sie scheint sich in ihr Projekt so sehr verliebt zu haben, dass sie die gestalterische Herausforderung aus dem Blick verloren oder nicht ernst genug genommen hat. Wie ihre Protagonisten ineinander, so hat sich die Regisseurin verguckt ein Vorhaben, das mit allen Mitteln der Kinokunst und Kinogenres vom erotischen Glutkern der Welt berichten wollte. Alles zu wollen, ist der Anfang der Kunst. Sich dabei zu übernehmen, nicht selten die tragische Konsequenz.
    Aber: Ein solches Scheitern beim Film ist mir immer noch lieber, als ein Film, der zwar funktioniert, weil er auf Nummer sicher gegangen ist und beispielsweise mit den bekannten Mitteln eines blutigen und auf Aktion getrimmten Drogenkartellsteifens kalkuliert, wie das der Kanadier Denis Villeneuve in "Sicario" tut. Mit den Hollywoodstars Emily Blunt, Benicio Del Toro und Josh Brolin führt uns Villeneuve an die US-amerikanisch-mexikanische Grenze, um das aktuelle Kartell zu stürzen und eine neues zu etablieren, von dem die Amerikaner denken, es sei das weniger schlimme. Sie paktieren mit dem Teufel, in der Hoffnung eines humanen Gewinns. Aber Wolf ist Wolf. Mit dieser Botschaft werden wir versorgt, was keine neue Erkenntnis ist. Der Wettbewerb von Cannes befindet sich gerade in einem ziemlichen Tief. Hoffentlich findet er mit zwei Chinesen heute und morgen Abend wieder heraus.