Tag 9
Warten auf Gaspar

Gehst du in den Noé? Seit Tagen fragen mich Kollegen immer wieder. Alle fragen. Jeder will hin. Zu Gaspar Noé und seinem neuen Film "Love". Der Argentinier, der seit Jahrzehnten in Frankreich lebt, ist der französische Skandal-Regisseur schlechthin.

Von Christoph Schmitz |
    Regisseur Gaspar Noe eingerahmt von den Schauspielern Aomi Muyock, Klara Kristin und Karl Glusman beim Filmfest in Cannes vor der Vorführung des Films "Love".
    Aomi Muyock, Gaspar Noe, Klara Kristin und Karl Glusman beim Filmfest in Cannes. (dpa / picture alliance / EPA / Sebastien Nogier)
    Seit "Irreversible" und "Enter the Void" schockiert er die Kinobesucher mit Gewalt und Sex, und heute Mittag hätte es wieder soweit sein sollen: Pressevorführung von "Love". Ein Pornofilm in 3-D, wie alle munkelten, natürlich vom Kunstfilm geheiligt. Das Filmfoto im Festivalkatalog ist eindeutig: zwei Münder in Großaufnahme. Die drei Zungen umspielen einander, Speichelfäden spinnen sich in silbernem Glanz zwischen den Schleimhäuten, ein warmes Orange leuchtet durch die Haut der erregten Wangen, Nasenflügel und Lippen. "Eine glühende Passion voller Versprechungen, Spielen, Exzessen und Fehlern" kündigt der Katalogtext den Film um die Erinnerungen eines Mannes an eine frühere Liebe an. Noés neue Arbeit wird aber nicht im Wettbewerb gezeigt, sondern etwas versteckt, "Hors Compétition", außerhalb der als preiswürdig erachteten Filme. Für 11.00 Uhr ist der Start geplant. Zuvor, ab 8.30 Uhr hatte ich den Wettbewerbsfilm "Dheepan" von Jacques Audiard mit einer eher unerotischen, aber auch sehr menschlichen und existenziellen Geschichte, die ebenso wie Sex alle angeht: die Not von Flüchtlingen, in Audiards Fall von Flüchtlingen aus Sri Lanka, die vor Bürgerkrieg und Vernichtung sich nach Frankreich retten, drei Menschen, die sich als Vater, Mutter, Tochter ausgeben, um aufgenommen zu werden. Am Rande einer Provinzstadt finden sie zuerst einmal Ruhe in einem von afrikanischen Einwanderern geprägtem Hochhausviertel. Kriminelle Banden haben hier das Sagen. Im Bandenkrieg drohen die drei Tamilen fast unterzugehen. Ihre Rettung kommt so plötzlich und wirkt recht unwahrscheinlich. Dennoch hat Audiard wieder einmal eine spannende, intensiv realistische Geschichte über die sozialen Problemzonen der Gegenwart erzählt. Solche Filme öffnen einem ohne Moralkeule immer wieder den Blick für unsere Verantwortung gegenüber Menschen, die sich nach Europa retten.
    10.15 Uhr war "Dheepan" zu Ende. Noch 45 Minuten bis Noés "Love" in einem anderen Kinosaal, gleich nebenan, Salle Bazin, einer der kleinsten Vorführräume. Darum war Eile geboten, nachdem so viele vorab getuschelt hatten - der Saal würde voll werden. Nur bin ich in der privilegierten Situation, Besitzer einer rosa Pressekarte plus gelbem Punkt gekommen zu sein, das bedeutet: An den meisten Warteschlangen darf ich vorbeilaufen und werde vorgelassen. Die republikanischen Franzosen pflegen beim Festival von Cannes ein ausgefeiltes Klassensystem. Dennoch kann ich aus "Dheepan" nicht gleich aus dem Filmpalast fort hinüber in die Salle Bazin, weil ich noch meinen Mantel an der Garderobe plus Regenschirm abholen muss. Ja, es regnet in Cannes, und es ist recht kalt geworden. Also Anstehen an der Garderobentheke. Meine rosa Pressekarte plus gelbem Punkt nützt mir hier nichts. An der Garderobe sind alle gleich. Brav warten, bis ich endlich an der Reihe bin, meine Sachen aber nicht direkt gefunden werden. Um 10.30 Uhr stürze ich schließlich hinaus, Treppen hoch, vorbei an den lange Warteschlangen zum Privilegiertenzugang, wo bis auf eine Gruppe von zehn, fünfzehn Kollegen meiner Kategorie niemand mehr steht. Uns wird der Einlass verweigert. Die Salle Bazin ist voll. Aus für "Love". Nichts zu machen. Statt dessen trolle ich mich in die Salle Debussy. Der Rumäne Corneliu Porumboiu entschädigt mich mit einem kauzigen Bukarester, der im Garten eines Nachbarn tatsächlich eine Schatzkiste ausgräbt. Darin: Mercedes-Aktien. Ziemlich wertvoll, ein "Comoara", ein Schatz, so heißt auch der Film. Und ein neues Gerücht: Noés "Love" soll um 16.00 Uhr nochmal gezeigt werden, heißt es. Zu dieser Uhrzeit habe ich allerdings einen Studiotermin. Was tun?