Kein Heimspiel wie früher für Angela Merkel bei der deutschen Industrie. Auch wenn der Aufschwung ins neunte Jahr geht - zufrieden sind die Spitzenrepräsentanten der deutschen Wirtschaft nicht, gestolpert werde immer noch – vor allem in der Regierung:
"Ein Jahr nach der Bundestagswahl und sechs Monate nach Beginn der Großen Koalition schauen wir in der Wirtschaft besorgt auf die Uhr. Wir warten ungeduldig auf wirtschaftspolitische Schritte – in der Steuer-, in der Digitalisierungs- und in der Energiepolitik", so liest BDI-Präsident Dieter Kempf der Kanzlerin die Leviten. Und dann redet er mit Blick auf das Schauspiel, dass die Große Koalition zuletzt bot, der Kanzlerin direkt ins Gewissen:
"Ist nicht auch ein Kabinett ein Kollegialorgan wie eine Geschäftsleitung oder ein Vorstandsgremium? Auch dort gibt es manchmal schwierige Entscheidungsfindungen. Aber nach außen muss eine einheitliche Meinung und Linie vertreten werden. Andernfalls hilft nur eines: Durchgriff oder personelle Veränderung."
BDI: Die Regierung muss endlich die Weichen stellen
Was folgt, ist die lange Wunschliste der Industrie, die BDI-Präsident Kempf für die deutsche Wirtschaft so zusammenfasst: "Was wir also brauchen ist Wachstumsvorsorge". Und dazu gehören in der Steuerpolitik mehr Tempo beim Abbau des Soli und keine neuen Steuern wie die in der EU diskutierte Digitalsteuer auf Internetunternehmen.
Mehr Tempo verlangt Kempf auch bei der Digitalisierung:
"Seit drei Legislaturperioden verspricht die Bundesregierung schnelles Internet. Jetzt ist es Zeit für konkrete Verbesserungen! Bis 2025 müssen Gigabit-Infratstrukturen im Fest- und Mobilnetz für alle Unternehmen, für private Haushalte und entlang der Verkehrswege für alle Unternehmen verfügbar sein."
Die Kanzlerin weiß, dass sie etwas gutmachen muss
Als Angela Merkel ans Rednerpult tritt, gibt es höflichen Applaus. Mehr aber nicht. Merkel weiß: Sie hat bei der Wirtschaft etwas gut zu machen und so bleibt sie bei der Linie, die sie schon gestern mit ihrer Entschuldigung vorgeben hatte:
"Ich kann Sie alle gut verstehen, wenn Sie sagen: Die Regierungsbildung war schon so lange und danach gab es wieder einen hohen Anteil von Selbstbeschäftigung. Das wünschten wir uns anders. Ich nehme diese Bitte sehr sehr positiv auf und werde alles daran setzen, um da zu Verbesserungen zu kommen."
Aber die Kanzlerin wirbt auch um Verständnis – Beispiel Steuerpolitik, Beispiel Soli, wo die Union gerne alle Steuerzahler entlastet hätte und nicht – wie es die SPD durchsetzte – nur die ersten 90 Prozent der Steuerzahler, während die oberen zehn Prozent, die aber fast die Hälfte der Soliaufkommens aufbringen und auch als Unternehmen unten im Plenum sitzen, vorerst weiter zahlen.
"Es ist vielleicht einer der schwierigsten Kompromisse gewesen, die ich eingehen musste, damit wir überhaupt eine Regierung bekommen. Das wir nicht einen Freibetrag beim Soli haben, sondern eine Freigrenze. Und damit zwar für 90 Prozent der Soli-Zahler den Soli abschaffen werden. Aber für zehn Prozent aber eben der volle Solidaritätszuschlag erhalten bleibt. Und wir werden immer und immer wieder versuchen, an dieser Frage noch etwas zu ändern. Weil ich glaube, es ist keine gute Nachricht gerade für die ganzen Unternehmen."
Merkel empfiehlt den Blick über den Tellerrand
Die Kritik am schleppenden Internetausbau in Deutschland oder dem schleppenden Ausbau der Stormnetzte nimmt Merkel entgegen. Aber es gebe eben auch internationale Verwerfungen und – am drängensten – den drohenden ungeordneten Brexit ohne einen Deal zwischen der Eu und Großbritannien. Es könne noch gelingen, bis Oktober ein Abkommen auszuhandeln, das dann im November auf einem EU-Sondergipfel endgültig beschlossen werden könnte. Aber auch danach, so mahnt die Kanzlerin, bleibe die Zeit knapp, um die künftigen Beziehungen zu Großbritannien zu regeln.