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Tag der Handschrift
"Wer mit der Hand schreibt, merkt sich den Inhalt besser"

Durch die Feinmotorik beim Schreiben würden Verknüpfungen mit dem Gehirn geschaffen, die für das Denken grundlegend seien, sagte Ingrid Müller, Leiterin des Mediastep-Instituts, im Dlf. Dafür seien die ersten sechs Lebensjahre maßgeblich - doch auch später könnte das Schreiben noch erlernt werden.

Ingrid Müller im Gespräch mit Sandra Pfister |
    Eine Frau schreibt einen Brief mit einem Kugelschreiber.
    Wenn Kinder nur auf dem Smartphone herumtippen, erwerben sie feinmotorische Eigenschaften nicht, die für die Gehirnentwicklung wichtig sind (picture alliance / Tobias Hase)
    Sandra Pfister: Heute ist der Tag der Handschrift. Wer gut schreiben kann, der lernt besser, sagt eine Reihe von Hirnforschern. In die gleiche Kerbe schlägt vehement Stephanie Ingrid Müller, Leiterin des Mediastep-Instituts in Nürnberg. Frau Müller, Sie erforschen das Ganze seit 16 Jahren, wie Schreiben mit der Hand und Lernen zusammenhängt, wie das Hirn stimuliert wird durch Schreiben. Sie sagen: Durch das Schreiben mit der Hand wird neuronales Feuerwerk abgefeuert. Beim Tippen nicht?
    Stephanie Ingrid Müller: Ja, mit dem Schreiben mit der Hand werden natürlich viel mehr Fingerbewegungen gebraucht und auch ausgeführt, als wenn wir mit Tastatur tippen. Also es gibt sogar noch den Unterschied – den mache ich dann noch ganz konkret –, ob ich auf einer Tastatur tippe, da habe ich ja auch noch dann die Bewegungen, dass ich Druck ausführen muss, dass die Taste sich vertieft und wieder zurückkommt, das muss ich ja auch spüren beim Tippen, und dann noch das Tippen an Tablet, was ja im Grunde gang und gäbe ist und auch der Ausblick in die Schulklassen überall, da habe ich ja nur noch eine Glasfläche. Also da reagiert ja so gut wie gar nichts mehr. Die Bewegung auf der Tastatur für verschiedene Buchstaben ist einfach immer sehr, sehr ähnlich. Während wenn ich mit einem Stift einen Buchstaben schreibe, ein Wort schreibe, habe ich äußerst differenzierte Bewegungen, und damit muss natürlich vom Gehirn viel mehr gesteuert werden. Das ist genau das, was Sie zitieren haben, das neuronale Feuerwerk im Gehirn, und damit das gelingt, also ich ziehe mittlerweile vor jedem Menschen, der mit der Hand schreiben kann oder mit der Hand schreibt einen unsichtbaren Zylinder, weil ich sage mal, wow, was Sie können oder was du kannst, weil Schreiben ist im Grunde die hochkomplexeste Leistungssprache und eine hochkomplexe Feinmotorik zusammenzubringen und dann sich gleich auch noch – das ergänzt sich noch dazu – den Inhalt zu merken, weil das ist mittlerweile in unserer Forschung auch nachgewiesen, dass wer mit der Hand schreibt, der merkt sich auch den Inhalt besser.
    "Sehr komplexer Prozess, wo die Muskeln trainiert werden"
    Pfister: Also es spricht viel dafür, das zu erlernen, weil wir diese Stimulanz brauchen durch diese komplexe Motorik, aber wenn ich das richtig sehe, kriegen wir sie ja weniger und weniger. Sie arbeiten viel mit Lehrern zusammen, mit Eltern zusammen. Die suchen auch Hilfe bei Ihnen – was raten Sie denen denn?
    Müller: Also erst mal muss ich natürlich ein bisschen sehr konkret und auch nicht gleich die goldene Lösung bringend reden oder Rat geben, weil ein bisschen jetzt was anders machen, dann wird es auch nicht funktionieren. Ich vergleiche das immer gern ein bisschen, gerade wenn ich Eltern berate oder Vorträge gebe, mit dem Laufen lernen. Das lernen wir auch nicht ad hoc in zwei, drei Wochen, sondern das ist auch ein sehr, sehr komplexer Prozess, wo Muskulatur trainiert werden muss, und da geht es aber schon los im Grunde. Ich habe auch vor Kurzem wieder einen großen Elternabend gehalten und habe dann einfach mal so in die Runde gefragt, welche alten Fingerkinderspiele kennen Sie denn noch. Also vielleicht fallen dem einen oder dem anderen Hörer, Hörerinnen gleich was ein: Das ist der Daumen, der pflückt die Pflaumen. Also sowas bringe ich jetzt. Da ist auch Sprache dabei, Reim, da lernt man besonders gern und leichter, und diese Kinderfingerspiele auch mit dem Regen auf der Schulbank machen, dann die Finger über den Arm laufen lassen, was auch immer. Also kurzum: Unsere Kinder sind oft nicht mehr in der Lage, die Finger einzeln schon mal anzusteuern, und das geht auch schon los mit dem Kneten. Auf dem Markt ist mittlerweile Knetmasse, die ist im Döschen, damit man es aufmacht, damit sie gleich weich ist, damit man keine Kraft braucht. Viele Kinder, selbst Viertklässler schaffen es manchmal nicht, eine handelsübliche Knetmasseschlange zu einer Kugel umzuformen. Da geht es los, damit am Schluss das Schreiben gelingt.
    "Wer einmal schreiben gelernt hat, wird es nicht verlernen"
    Pfister: Und da ist es aber auch eigentlich fast schon zu spät, weil die auch manchmal schon Handys haben und Tablets sowieso zu Hause benutzen. Also gibt es irgendwie ein Zeitfenster, das sich schließt, in dem man das überhaupt noch hinkriegen kann?
    Müller: Also das Schöne am Gehirn ist ja, dass es … wir nennen es ja ein plastisches Organ. Also es geht relativ bis fast kurz vor Schluss, dass wir das verändern können, aber wir müssen natürlich dann was dafür tun. Allerdings ist es korrekt, die ersten sechs Lebensjahre, das erste Lebensjahr ist maßgeblich dafür. Also ich bin damals erschrocken in der neuronalen Fortbildung, als wir gehört haben, dass letztendlich ein schulreifes Kind, sprich, dann ist ein Kind sechs bis sieben Jahre alt, da kommt man normalerweise bei uns in Deutschland in die Grundschule, zu 70 bis 80 Prozent motorisch ausgereift sein sollte. Also das heißt, diese Fenster liegen alle vor Schuleintritt, da müsste viel passiert sein, aber es geht im ganzen Leben, es geht immer. Es zeigt sich ein bisschen der ganze Fördermarathon bei unseren Kindern, sprich Ergotherapie, Logopädie – Logopädie kümmert sich ja auch um den motorischen Ablauf der Sprache und des Aussprechens –, also dieser Fördermarathon zeigt sich einfach, wie er jetzt präsent ist, dass unsere Kinder wirklich im nachreifen sind oder im Defizit, aber ich sage mal, es kann immer was getan werden. Es kann sogar beim Siebtklässler, beim 20-Jährigen im Studium, wann auch immer, was getan werden.
    Pfister: Umgekehrt müssen wir uns denn Sorgen machen, auch im Erwachsenenalter, das, was verloren geht, was wir an komplexen Fähigkeiten aufgebaut haben, weil wir weniger von Hand schreiben?
    Müller: Also wer einmal mit der Hand geschrieben hat, und zwar, dass er es kann, nicht nur einmal probiert hat, der wird das nicht verlieren. Ich vergleiche es jetzt mal so wie Fahrradfahren. Wenn man das einmal gut gekonnt hat, dann sind die Spuren im Gehirn da. Dann ist man vielleicht nicht mehr ganz so geschmeidig im Treten und im Kurvenfahren, aber wenn man es wieder anfängt, das Gehirn erinnert sich. Also die Spuren sind da, die Verknüpfungen bleiben da, aber stetes Training und stetes Anwenden erleichtert das Ganze natürlich immens.
    Smartphone und Co: "Kinder vermeiden Feinmotorik"
    Pfister: Wir beide haben heute Morgen schon kräftig hin und her gemailt, natürlich haben wir getippt. Ich schreibe zwar noch mit der Hand, aber ich tippe definitiv mehr. Wie ist das bei Ihnen?
    Müller: Also wenn Sie jetzt hier meinen Schreibtisch sehen würden, dann sehen Sie natürlich rechts hier einen Rechner, einen Bildschirm. Ich tippe viel. Wie Sie sagen, wir haben heute früh schon fleißig hin und her gemailt. Ansonsten liegen hier wahnsinnig viele Zettel, wo Skizzen drauf sind, wo Handschrift drauf ist. Also bei mir ist es ein absolutes Mischmasch, aber das Tippen ist, ich würde mal sagen, über die 50 Prozent in unserem Alltag auch bereits angekommen.
    Pfister: Aber wenn ich Sie richtig verstehe, das schadet uns nicht mehr, weil wir beide zumindest noch richtig gelernt haben.
    Müller: Genau. Also wir haben die Strukturen, wir bringen das mit. Das ist verankert in unserem Gehirn. Es schadet nicht. Natürlich wenn ich jetzt zehn Jahre fast nur noch mit Handy, Smartphone tippe und mit der Tastatur, dann ist die Hand auch etwas verkrampfter und angestrengt, aber wir können es auf alle Fälle noch. Die Kinder, wie sie jetzt heranwachsen, die haben das nicht im Gehirn als Spur, und von daher fällt es ihnen einfach extrem schwer, und gerade wenn sie von klein auf schon mit Smartphone – man sieht es ja an jeder Haltestelle, in jedem Lokal überall –, das können die wunderbar wischen, klicken. Alexa und Siri sind ja auch da. Also die vermeiden dann auch noch mal eine Feinmotorik. Also von daher, da sollte dringend was getan werden. Vor allem, das möchte ich noch ergänzen, weil diese feinmotorischen Strukturen im Gehirn Verknüpfungen dafür sind, dass ich überhaupt denken kann, also sprich, dass ich Mathematik rechnen kann, mathematische Operationen, dass ich Sachwissen verknüpfen kann, dass ich Sprache kann. Also die Motorik ist Basis für alles, was das Gehirn leisten kann. Darum verfechte ich nach wie vor die Handschrift, bin aber kein Gegner der Digitalisierung.
    Pfister: Stephanie Ingrid Müller, Leiterin des Mediastep-Instituts in Nürnberg zur Frage, wie wichtig ist Handschrift heute noch. Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.