Jörg Biesler: Heute ist der internationale Tag der Menschen mit Behinderung, um deren möglichst weitereichende Gleichstellung noch immer gerungen wird. Denn Behindertenparkplätze und barrierefreie Wohnungen, das ist die eine Sache. Die andere ist die der aktiven Beteiligung an der Gesellschaft und dazu gehört auch die Berufstätigkeit. Pünktlich zum heutigen Tag hat die Europäische Statistikbehörde Zahlen vorgelegt, in Deutschland haben demnach rund 52 Prozent der Behinderten einen Job. Das liegt im europäischen Vergleich im Mittelfeld, aber viel ist das nicht. Adolf Bauer ist Präsident des Sozialverbands Deutschland und Sprecher des Deutschen Behindertenrates. Guten Tag, Herr Bauer!
Adolf Bauer: Guten Tag, Herr Biesler!
Biesler: Lassen Sie uns erst mal auf die Zahlen schauen. Ich habe gerade schon damit angefangen, etwa die Hälfte der Behinderten arbeitet in Deutschland. Was für ein Potenzial gäbe es denn da noch, wie viel Prozent suchen einen Job?
Bauer: Wir haben zurzeit die absoluten Zahlen. Es suchen zurzeit etwa 180.000 schwerbehinderte Menschen Arbeit. Und wenn wir uns den Sockel der Arbeitslosigkeit insgesamt ansehen, dann können wir feststellen, dass es klare Unterschiede gibt zwischen Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung.
180.000 schwerbehinderte Menschen suchen Arbeit
Biesler: Das ist auch das Ergebnis der Europäischen Statistikbehörde Eurostat, die jetzt - die aktuellsten Zahlen sind von 2011 - aber sagt, es ist doch deutlich höher, der Anteil bei den behinderten Arbeitslosen als bei den nicht behinderten Arbeitslosen. Es gibt ja eigentlich eine gesetzliche Verpflichtung, Behinderte zu beschäftigen. Oder viele Stellenausschreibungen berücksichtigen auch Behinderte besonders, also, bei gleicher Eignung sollen sie bevorzugt werden. Wieso funktioniert das offensichtlich nicht?
Bauer: Wir können feststellen, dass etwa 20 Prozent aller Unternehmen, die eigentlich Menschen mit Behinderungen beschäftigen müssen, überhaupt nicht einen einzigen beschäftigen. Und das sind immerhin 37.000 Unternehmen.
Biesler: Haben Sie Erkenntnisse dazu, warum die das nicht machen? Gibt es da Ängste, sich überhaupt zu beschäftigen mit Behinderung? Hat man Angst, das den anderen Arbeitnehmern zuzumuten, wird das als Belastung empfunden? Wie wird da argumentiert?
Bauer: Es ist da eine sehr vielschichtige Argumentation. Es sind zum Teil Vorurteile, es ist zum Teil Unwissenheit, es könnte auch daran liegen, dass die Unternehmen nicht barrierefrei sind. Es gibt also eine ganze Palette an Argumenten, gleichwohl muss man auch feststellen, dass immerhin 76 Prozent der Arbeitgeber einen hohen Anteil ihrer Pflichtquote erfüllen. Das ist dann die erfreuliche Seite.
Ausgleichsabgabe "muss spürbar sein"
Biesler: Es gibt ja für Unternehmen, die verpflichtet sind, Behinderte zu beschäftigen, es aber nicht tun, die Möglichkeit beziehungsweise die Pflicht, eine Ausgleichsabgabe zu leisten. Ist die vielleicht zu niedrig?
Bauer: Das ist auch unser Ansatz. Wenn ein Unternehmen seine Verpflichtung nicht erfüllt und gar null Arbeitnehmer mit Behinderung beschäftigt, dann muss die Ausgleichsabgabe erhöht werden. Das muss spürbar sein. Es kann nicht sein, dass sich Unternehmen freikaufen. Also ganz klar: Wenn Unternehmen keine Menschen mit Behinderung beschäftigen, sollte die Ausgleichsabgabe deutlich erhöht werden.
Biesler: Machen Sie doch noch mal ein bisschen Werbung dafür, was Behinderte leisten können! Bei vielen Unternehmen, mindestens bei 37.000, scheint das ja noch nicht angekommen zu sein!
Bauer: So ist es! Studien belegen, dass Menschen mit Behinderung in der Regel besser qualifiziert sind als Menschen ohne Behinderung. Sie sind häufig hoch motiviert, sie fehlen weniger. Wenn die Betriebe also Menschen mit Behinderung beschäftigen, tun sie sich selbst einen Gefallen und auch den Menschen mit Behinderung, und auch den übrigen Arbeitnehmern, denen auch angesichts der UN-Behindertenrechtskonvention vielleicht noch das Gespür dafür fehlt, dass Menschen mit Behinderung häufig genauso leistungsfähig sind wie ohne Behinderung.
"Behinderungen nehmen zu mit zunehmendem Alter"
Biesler: Das ist eine Momentaufnahme, 52 Prozent jetzt, wie gesagt, die Zahlen sind von 2011. Hat sich das denn positiv entwickelt nach Ihrer Erfahrung, sind wir auf einem Weg, mehr Behinderte in den Beruf zu bekommen?
Bauer: Diese Zahlen wachsen viel zu langsam. Wir haben diesen Weg inzwischen, aber wir stellen gleichzeitig fest, dass die Quote der arbeitslosen Menschen mit Behinderung steigt, während die allgemeine Arbeitslosigkeitsquote sinkt. Daran wird deutlich: Wir müssen noch mehr tun als in den vergangenen Jahren. Die Menschen werden älter, Behinderungen nehmen zu mit zunehmendem Alter.
Und das bedeutet, wenn wir nichts riskieren wollen - auch angesichts des Fachkräftemangels -, insofern ist es absurd, dieses große Potenzial nicht auszunutzen -, auch angesichts dieser Situation müssen wir stärker uns bemühen, Ausgliederung, Ausgrenzung zu vermeiden. Und dazu haben auch die Bundesagentur, die Bundesregierung, die Rentenversicherung, die Kostenträger allgemein ihren Anteil beizutragen, und nicht die Maßnahmen runterzuschrauben, wie wir in den letzten vier, fünf Jahren feststellen können. Das ist der falsche Weg. Man spart hier am falschen Ende. Es ist für den Einzelnen eine Notwendigkeit und ein Gewinn und es ist auch volkswirtschaftlich ein Gewinn. Und es ist unvernünftig, dieses Potenzial auszusparen.
Biesler: Adolf Bauer, der Sprecher des Deutschen Behindertenrates, vielen Dank!
Bauer: Gerne, Herr Biesler!
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