Archiv

Tag der seltenen Erkrankungen
"Wir sind von Pontius zu Pilatus gerannt!"

Geschätzt 6.000 bis 8.000 seltene Erkrankungen gibt es in Deutschland. Oft gehen die Patienten jahrelang von Arzt zu Arzt, und keiner kann ihnen eine gesicherte Diagnose über ihr Leiden stellen. Da werden Patienten oft selbst zu Experten und organisieren sich in Selbsthilfegruppen, um endlich zu einer Diagnose zu gelangen.

Von Henning Hübert |
    Eine Frau auf der Liege eines Computertomographen im Krankenhaus
    Untersuchungen über Untersuchungen: Die Diagnose einer Seltenen Krankheiten dauert oft Jahre oder Jahrzehnte. (imago/blickwinkel)
    Der Informationsaustausch funktioniert am Bonner Blindenstammtisch für Patienten mit seltenen Netzhautdegenerationen. Bei Pasta und Rotwein treffen sich jüngere Erwachsene, die nach und nach ihr Augenlicht verloren haben. Daniela Brohlburg ist die Regionalgruppenleiterin des Vereins Pro Retina. 49 Jahre lang wusste sie nicht genau, warum sie erblindete, bis vergangenen Dezember endlich feststand: Sie hat den seltenen Gendefekt RPE 65
    "Ich hatte viele verschiedene Diagnosen zwischenzeitlich. Auch Diagnosen, die sehr irreführend waren. So dass ich da auch meinen Berufsweg suboptimal ausgerichtet habe. Von reiner Nachtblindheit über das Gesichtsfeld schränkt sich ein von außen nach innen, so dass ein Tunnelblick erhalten bleibt, mit dem man durchaus noch gut lesen kann. Das war dann meine Diagnose nach dem Abitur und daraufhin hab ich dann Übersetzen studiert. Und dachte so: Mein Text und ich, mein Wörterbuch und ich, wir kommen schon gut klar. Aber leider war das eine Fehldiagnose und mein zentrales Gesichtsfeld fiel halt im Laufe der Zeit aus, so dass ich seit 25 Jahren nicht mehr lesen kann, also nicht mehr ohne Vergrößerung Schwarzschrift lesen kann."
    Diagnose als Grundlage für eine sinnvolle Behandlung
    Jetzt, nach der gesicherten Diagnose, beobachtet Daniela Brohlburg viel intensiver als zuvor, ob und welche Therapien für seltene Augenerkrankungen entwickelt werden:
    "Da tut sich was. Also bisher hieß es, dass diese Erkrankungen, die Netzhautdegenerationen halt, unheilbar sind. Aber es gibt immer mehr Forschungsansätze, gentherapeutisch oder in Stammzellenforschung oder auch medikamentös. So dass es irgendwann Therapien geben wird. Aber wie effektiv die sein werden, ist mir persönlich jetzt noch nicht klar."
    Klar ist aber, dass die Forschung der Motor für neue Therapien bei den Seltenen Erkrankungen ist. Bei der Recherche stößt man schnell auf die Internetseiten der zurzeit 24 Zentren für Seltene Erkrankungen, die es an deutschen Unikliniken gibt.
    Mehr Forschung gefordert
    Den heutigen Tag der Seltenen Erkrankungen hat das Selbsthilfe-Netzwerk ACHSE denn auch unter die Überschrift "Forschen hilft heilen" gestellt. Beim diesem Dachverband ACHSE, der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, arbeitet die Allgemeinmedizinerin Christine Mundlos speziell als Lotsin für Ärzte. Wer rätselt, welche "Seltene" denn bei einem Patienten vorliegt, kann sich an sie wenden.
    "Es gibt zu wenig Informationen zu diesen Erkrankungen. Es gibt zu wenig Experten zu diesen Erkrankungen. Es wird zu wenig geforscht über diese Erkrankungen. Es gibt einfach zu wenig Wissen. Und wir als Dachorganisation dieses Netzwerks nehmen die übergreifenden Themen auf und spielen die in die Gesundheitspolitik, in die Medizin, die Wissenschaft, in Richtung der Pharmafirmen und natürlich auch in die Öffentlichkeit."
    Deshalb ist Christine Mundlos immer mit dabei, wenn sich neue Netzwerke zur Beschleunigung von Diagnosen gründen. Ärzte sollen einfach mehr über die rätselhaften Patienten sprechen, auch Bilddateien untereinander austauschen. Damit nicht jeder immer wieder quasi bei Null anfängt. Erst in diesem Monat wurde von der NRW-Gesundheitsministerin das Netzwerk der Zentren für Seltene Erkrankungen ins Leben gerufen. Es soll die Internetseiten der Unikliniken zusammenführen, die wichtige Forschungsprojekte veröffentlichen und Versorgungsangebote nennen. Außerdem will das neue Netzwerk gemeinsame interdisziplinäre Konferenzen bei besonders schwierigen Fällen abhalten.
    Nur eine Diagnose hilft, die Krankheit anzunehmen
    Solche Hilfe hätten Lili und ihre Eltern gut gebrauchen können. Das Mädchen spielt mit einer Geburtstags-Klappkarte. Sie hat die extrem seltene Niemann-Pick-Erkrankung. Betroffen ist nur einer von 130.000 Menschen. Diese Stoffwechselstörung befällt innere Organe wie die Lunge, Darm und Niere. Und auch das Gehirn. Lili ging zunächst in den Kindergarten, wie ihre Freundinnen. Sie lernte auch Fahrrad fahren. Ab dem fünften Lebensjahr entwickelte sie sich nicht weiter, sondern es wurde schlimmer: Die Eltern rätselten jahrelang, bis zum elften Lebensjahr, warum Lili das Sprechen verlernte. Heute kann sich das 17jährige Mädchen nicht einmal mehr aufrichten. Im Wohnzimmer der Familie liegt Lili tagsüber auf der Couch. Sie spricht seit Jahren nicht mehr und wird inzwischen künstlich ernährt. Über Lilis kindliches Gesicht aber huscht oft ein Lächeln. Ihre Mutter, Sabine Fornfeist, kuschelt mit ihr, als sie über die rätselhafte seltene Krankheit ihrer Tochter spricht:
    "Wir haben die selbst rausgefunden. Wir sind von Pontius zu Pilatus gerannt, aber leider konnte uns keiner helfen. Zum Teil wurde es versucht, zum Teil wurden wir abgewimmelt. Es endete damit, dass wir Tag und Nacht selbst recherchiert haben. Alle Symptome einfach immer wieder in verschiedene Suchmaschinen eingegeben haben. Ja, und irgendwann stießen wir auf die Niemann-Pick-Erkrankung und haben auch gesehen: Das Zentrum dafür ist unter anderem in Münster. Sind zu Professor Marquardt gefahren, haben ihn gebeten, ob er sie diagnostizieren könnte und er hat sie diagnostiziert. Das war der traurigste und der glücklichste Tag in dieser ganzen Zeit."
    Traurig und glücklich zugleich, weil ab da klar war, welchen Weg Lili gehen wird.
    "Eine Diagnose ist einfach der Knopf, den man drücken kann, um vielleicht auch das Leben anzunehmen. Und man braucht die Energie für das Kind, für den Alltag und für jeden Tag neu zu begehen und nicht dafür, eigentlich als Eltern eine Diagnose stellen zu müssen.”