Seit Donnerstagvormittag lesen wieder 14 Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich und die Schweiz um die Wette – diesmal in distanzierter Form. Die 44. Tage der deutschsprachigen Literatur finden auch in Klagenfurt am Wörthersee statt, hauptsächlich allerdings digital. Nach einigem Hin- und Her hatte sich der ORF für eine aufwändige Mischung aus Live-Elementen und Video-Aufzeichnungen entschieden. Lesungsbeiträge werden eingespielt. Die spontane Jurydiskussion aber bleibt als Kernelement der Veranstaltung erhalten. Aus ihren Arbeits- und Wohnzimmern schalten sich die Jurorinnen und Juroren per Videoübertragung zusammen.
Den ersten Lesetag eröffnete in diesem Jahr die Autorin und Kolumnistin Jasmin Ramadan. Mit ihrer Dreiecksgeschichte dreier mittelalter, gelangweilt-lebensüberdrüssiger Menschen des großstädtischen Mittelschichtsmilieus tat sich die Mehrheit der Jury schwer. Zu plakativ schien die Konstellation um den treuen Familienvater Linus, den freiheitsliebenden Draufgänger Ben und die zwischen beiden Männer zerrissene Marlene. Allein Jury-Neuzugang Philipp Tingler sprang für seine Autorin beinahe penetrant in die Bresche.
Hieronymis weinerlicher Männerbund - Referenzreichtum allein reicht nicht
Deutlich mehr Anklang fand die fein gearbeitete Dystopie von Lisa Krusche. Ihr Text "Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere" ist in einer post-humanistischen Zukunft angesiedelt ("Tja, wir leben einer Explosion, ihr Ficker.") und mit zahlreichen Anspielungen auf Donna Haraways biologische Theorien versehen. Ob Hauptfigur Judith ein Mensch oder nur ein Avatar im virtuellen Raum ist, bleibt offen. Haraways Entwurf der "Kompostisten", die sich einer Symbiose aus menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen verschreiben, bilden ein Gegenmodell zu Judiths entfremdeter und menschenleerer Wirklichkeit. Ein Text, der auch mit zahlreichen, gekonnt gesetzten Anglizismen am Zeitgeist segelt, dessen handwerkliche Sorgfalt allerdings nur schwer zu übersehen war - ganz anders als im Beitrag von Leonhard Hieronymi.
In seinem Beitrag "Über uns, Luzifer" blieben zahlreiche Anspielungen im Raum stehen. Ein weinerlicher Männerbund macht sich auf den Weg ins rumänische Konstanza, auf der Suche nach dem Grab des Ovid. Doch warum? Politische Seitenhiebe und literarische Referenzen wirkten auch auf Klaus Kastberger "forciert". Hubert Winkels sah in dem Text eine einzige Abjektion, ohne jedoch diese Haltung zu reflektieren oder thematisieren. Bestehen blieb allein ein Übermaß an neo-romantisch angehauchter, dandyhafter Autor-Attitüde.
Sinneseindrücke und Automaten
Geschickter verband Carolina Schutti in ihrem Beitrag "Nadjeschda" verschiedene Erzählebenen zu einem Bewusstseinsstrom. Die Erinnerungen, Alltagsbeschreibungen und traumatisch-psychiatrischen Erfahrungen fügte sie zu einem statischen, doch sphärischen Text, der ständig auf der Suche war nach dem richtigen Ausdruck für Körper- und Sinneseindrücke. Das Urteil der Jury blieb, wie so oft an diesem Tag, gespalten.
Der ereignisreiche erste Lesungstag wurde beschlossen von Jörg Piringer, der als freier Wissenschaftler und vor allem mit digitalen Formaten arbeitender Künstler in Wien lebt. In seinem Text "kuzushi" erzählt ein frustriertes Ich - vermutlich ist dieses ein selbstlernendes Computersystem - aus seinem Da-Sein, aus den kybernetischen Zusammenhängen seines Bewusstseins, zudem die im Niedergang befindliche Geschichte des Internets in Zeiten des Kapitalismus, was zunächst nach viel, was nach Überfrachtung klingt, aber erstaunlich luzide zu verfolgen war:
»softwaresysteme wie meines versprechen kostenreduktionen
kosteneinsparungen in unglaublicher höhe
das gefällt ihnen
das macht sie neugierig
endlich würde man auch geistige arbeit rationalisieren können
endlich ist diese schwelle in sichtweite«
kosteneinsparungen in unglaublicher höhe
das gefällt ihnen
das macht sie neugierig
endlich würde man auch geistige arbeit rationalisieren können
endlich ist diese schwelle in sichtweite«
Die Maschine erscheint
Es ist der Text einer Genese, es ist – wie 1998 der Roman "Elementarteilchen" von Michel Houllebecq – die Nacherzählung eines Schöpfungsmythos, die Bewusstwerdung der Maschine als neue Gattung, der Moment eines Umschwungs; Kuzushi kommt aus der Judo-Sprache und bezeichnet die erste Phase eines Wurfes. Konsequenterweise ist ein Teil des Textes selbst computergeneriert, womit er sich einschreibt in eine lange Geschichte der Poesieautomaten, Schachtürken und Handmühlen, die alle den gleichen Zweck verfolgten, nämlich genuin menschliche Denk- und Handlungsformen berechenbar zu machen.
Das ging bekanntlich häufig schief – der Schachautomat war keiner, in ihm steckte ein echter Mensch, er war ein Fake. Lange konnten sich zudem Schachweltmeister gegen die werbewirksam inszenierten IBM-Programme behaupten. Das Ende dieser rein menschlichen Zeit scheint allerdings nahe zu sein, nicht nur aufgrund von Audio-Mining, intelligenten Sprachprogrammen, von Bots (siehe Lisa Krusche) und computergenerierten Nachrichten.
Nun könnte man annehmen, dass die Klagenfurt-Jury wenigstens irritiert war, weil der Autor von "kuzushi" nicht nur der Mensch Pieringer, sondern auch das von ihm genutzte Programm ist. Dem war mitnichten so. Jurymitglied Klaus Kastberger überraschte mit dem ironischen Bekenntnis, er selbst sei als Literaturkritiker durchaus auch eine Maschine. Natürlich stellt 177 Jahre nach Ada Lovelace’ und Charles Babbages "Analytical Engine", 164 Jahre nach Théophile Gautiers Roman "Avatar" und 46 Jahre nach Hans Magnus Enzensbergers ersten Überlegungen zu einem "Poesieautomaten" der Einsatz von technischen Hilfsmitteln nicht mehr schockieren.
Die Tage der deutschsprachigen Literatur waren ohnehin immer wieder der Ort von digitalen Experimenten – oder von avantgardistischen Schriftstellern, die mit Internet, Blogs und Programmen bekannt geworden sind, wie 1983 mit Rainald Goetz, der als einer der ersten deutschsprachigen Schriftsteller mit kybernetischen Schreibweisen experimentiert hat, oder auch mit Peter Glaser, dem Bachmann-Preisträger von 2002, der weiterhin Ehrenmitglied ist des Chaos Computer Clubs, und dann natürlich mit der Zentralen Intelligenz Agentur aus Berlin, die Algorithmen nutze, um preiswürdige Texte zu schreiben – mit großem Erfolg.
Übertragen bei Deutschlandfunk und 3sat
Wolfgang Herrndorf bekam 2004 den Kelag-Publikumspreis für "Diesseits des Van-Allen-Gürtels", Kathrin Passig 2006 den Bachmann-Hauptpreis und den Kelag-Publikumspreis für "Sie befinden sich hier". Wer in diesem Jahr ausgezeichnet wird, steht noch in den Sternen. Bis Samstagnachmittag finden die Lesungen statt.
Übertragen werden diese Lesungen und die Jurydiskussionen vom Fernsehsender 3sat, von dem Deutschlandfunk-Internetangebot "Dokumente und Debatte", begleitet von der Buchredaktion auf Twitter unter dem Hashtag #tddl - und sowohl in der "Lesart", im "Büchermarkt" als auch bei "Kultur heute". Garantiert gemacht von Menschen, aber selbstverständlich, wie nahezu alles im Jahr 2020 undenkbar ohne das Internet, die Computer, ohne jene digitale Welt, die entweder Teil der Realität ist oder ihr als eigene Wirklichkeit hinzugestellt ist.
Es ist eine Frage, die seit jeher auch gestellt wird, wenn es um Literatur geht - und die, das hat Rainald Goetz bereits 1983 mit seinem Rasierklingenschnitt in Klagenfurt gezeigt - niemals endgültig geklärt werden kann. Wir sind nicht Null, wir sind nicht Eins. Wir sind beides. Und die Literatur, das hat dieser erste Lesungstag gezeigt, kann immer wieder neu diese Differenz in Texte übersetzen, die erstaunen, aufregen, anregen, begeistern.