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Tag zwei beim Bachmann-Wettbewerb
Sterben als Bedingung

Zehn Autorinnen und Autoren haben bereits bei den "44. Tage der deutschsprachigen Literatur" gelesen. Doch wer den Ingeborg-Bachmann-Preis oder auch den Deutschlandfunk-Preis am Sonntag erhalten wird ist bislang offen – obwohl es eine erste Favoritin gibt.

Von Christoph Schröder und Jan Drees |
44. Tage der deutschsprachigen Literatur - Ingeborg Bachmannpreis 2020 / Tag 2, Lesungen und Diskussionen
44. Tage der deutschsprachigen Literatur - Ingeborg Bachmannpreis 2020 / Tag 2, Lesungen und Diskussionen (Puch Johannes)
Mit der 1940 geborenen Helga Schubert eröffnete eine ostdeutsche Autorin den zweiten Lesungstag, eine versierte Schriftstellerin, deren Autorinnen-Biografie eng mit dem Wettbewerb verknüpft ist: Schubert, im Hauptberuf Psychologin, war 1980 von Günter Kunert zum Klagenfurter Wettlesen eingeladen, doch verweigerten ihr die DDR-Behörden die Ausreise in den Westen mit der Begründung, es gebe keine "deutsche Literatur"; der Wettbewerb sei mithin obsolet. Von 1987 bis 1990 wiederum saß Schubert dann in der Jury des Bachmann-Wettbewerbs.
Nun, im Alter von achtzig Jahren, erfuhr sie die stille Genugtuung, auf Einladung von Jurorin Insa Wilke mit einem Beitrag am Bewerb teilzunehmen. Ein Beitrag, der in der Jury auch eine Diskussion über autofiktionales, autobiografisches und fiktives Erzählen auslöste. Schuberts Text "Vom Aufwachen" ist ein Erinnerngsfilm, der sich in den wenigen Minuten zwischen Schlaf und endgültiger Wachheit abspult: Eine Frau erinnert sich an ihre Mutter, die im Alter von 101 Jahren gestorben ist und noch bis kurz vor ihrem Tod die Tochter aufgefordert hat, etwas über sie, die Mutter zu schreiben, doch: "Wie sollte ich über sie schreiben, als sie noch lebte."
Bald bei Böhmermann
Nun trägt die Tochter der verstorbenen Mutter eine Liebeserklärung nach. Schuberts Text, eine leise Studie in Lebenserfahrung, spannt ein weites, ein historisches, ein deutsches Panorama auf: Der Vater, der im Krieg fällt; die Flucht aus Pommern; die Mutter, die der Tochter gleich mehrfach das Leben rettet, unter anderem dadurch, dass sie sich und das Kind nicht, wie von Hitler gefordert, tötet, als russische Truppen in Greifswald einmarschieren. Die Jury lobte Schuberts Beitrag beinahe einhellig und hob hervor, dass es eine große Kunst sei, schlicht zu schreiben und trotzdem Wirkung zu erzielen. Schubert dürfte damit als eine der Favoritinnen auf den Hauptpreis gelten.
Im Anschluss an Helga Schubert, der Kontrast hätte größer nicht sein können, las Hanna Herbst, ebenfalls auf Einladung von Insa Wilke, ihren Text "Es wird einmal" vor. Herbst, ehemalige Chefredakteurin der österreichischen Ausgabe des Magazins "Vice", und ab Herbst Mitglied im Redaktionsteam von Jan Böhmermann, überzeugte vor allem die sozialen Netzwerke mit ihrem selbstironisch-witzig gesungenen Vorstellungsfilm, fand mit ihrem Wettbewerbsbeitrag allerdings wenig Gnade in der Jury.
Außenwelt und Enge
Auch "Es wird einmal" ist ein Abschiedstext an einen Toten, den Vater der Erzählerin, wie von der Jury gemutmaßt wurde. Herbsts Stilprinzip ist die Reihung. Rund um die Leerstelle des Verlusts gruppiert die Erzählerin Geschichten, Anekdoten, Erinnerungen, die aber nicht auserzählt werden. In jedem Absatz steckt im Grunde genommen eine eigene Geschichte, doch: "Dieser Versuch, ein Leben zusammenzufassen, es ist etwas Fürchterliches daran."
Der Juryvorsitzende Hubert Winkels räumte zwar ein, den Text gerne gelesen zu haben, bemängelte jedoch die fehlende Außenwelt und die Enge, aus der der Text nicht herauskomme. Der österreichische Juror Klaus Kastberger störte sich an Herbst marinierter Kunstsprache und stellte die Frage, warum die Erzählstimme sich anhören müsse "wie ein Yoda." Auch Juror Michael Wiederstein monierte, dass Herbsts Stilmittel nicht in der Lage seien, einen Verlust sprachlich darzustellen. Juror Philipp Tingler zeigte sich verwundert angesichts der zum Teil großartigen Bilder auf der einen und der krassen Klischees auf der anderen Seite.
Engagierte Literatur in Jahr 2020
Den Freitagvormittag beschloss der Österreicher Egon Christian Leitner, der auf Einladung von Klaus Kastberger am Wettbewerb teilnimmt. Leitner, der 2012 seinen dreibändigen und mehr als 1000 Seiten umfassendes Werk "Des Menschen Herz. Sozialstaatsroman" vorgelegt hatte, las einen in Episoden untergliederten Text, der in das Genre der engagierten politischen Literatur eingeordnet werden kann. "Immer im Krieg" beschreibt Szenen aus dem Alltag, die stets in einen sozialen Kontext eingebunden sind:
Ein junger Mann, der von den Behörden als Kind als schwachsinnig eingestuft worden war und als Erwachsener durch alle Raster des Systems fällt. Ein alter Vietnamese, der die Angriffe der Amerikaner überlebt hat und der auf der Flucht aus Vietnam beinahe ertrunken wäre, "und so allein und stumm. Ein immer freundliches, uraltes Kind." Oder eine Magersüchtige, dem der Ich-Erzähler aus Freundlichkeit etwas zu Essen anbietet und damit mehr Schaden anrichtet als zu helfen. Die Jurydiskussion zu Leitners Beitrag war kontrovers und emotional: Während Philipp Tingler "uralte Stereotypen" und ein "geschlossenes Weltbild" monierte, lobte Hubert Winkels die Heterogenität der Geschichte und sah darin "ein großes Panorama der Ungerechtigkeiten." Klaus Kastberger wies daraufhin, dass der Text bewusst penetrant angelegt sei, um auf Ungerechtigkeiten hinzuweisen.
Es taut, taut, taut
Matthias Senkel, der bereits im Jahr 2012 Teilnehmer des Bachmann-Wettbewerbs war, las in diesem Jahr – oder wie der Österreicher sagt: heuer – seinen Text "Warenz", der ein vielsteiniges Mosaik darstellt, das erst in der entfernteren Gesamtschau sein Bild offenbart und beginnt mit dieser schönen Beobachtung:
"Zerknülle das Blatt, streich es wieder glatt: Skandinavisches Eisschild bei abnehmendem Mond."
Diese Stelle identifizierte Insa Wilke als literarisches Prinzip, als die Verwandlung des Blattes in eine Landschaft. Diese Landschaft ist bei Senkel in Mecklenburg verortet und wir warten ab, bis "es taut, taut, taut" und nach der Eiszeit der Mensch erscheint im Holozän, und dessen Geschichte vor und zurückspringend erzählt wird bis in die Gegenwart, angelegt als eine Schatz- und Schutzsuche. Tingler berichtete, er sein passagenweise fast ins Koma gefallen, doch Hubert Winkels, der Senkel eingeladen hatte, argumentierte dagegen, als er sagte:
"Das ist ein Experiment. Das ist Metaliteratur. Ununterbrochen fragt man sich doch, wie hängen die Geschichten zusammen, wie entsteht die Suggestion? (...) Man wird permanent abgelenkt von der Frage: Um was geht es? – Durch die Frage: Welche Bedingungen existieren, damit die Idee, dass überhaupt etwas passiert, entstehen kann?"
Die Wolke, ein Atompilz
Auch der fünfte und letzte Text des Vorlesenachmittags war ein Experiment und kam von Levin Westermann, der bereits etliche Lyrikbände veröffentlicht hat bei Luxbooks und bei Matthes & Seitz. Unter dem Titel »und dann« mäanderte Westermanns Beitrag im litanei-artigen Dukus ausgehend von der Sonne bis zur abschließenden Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, jeder Katze, jedem Schaf, jedem Windhauch etliche Zeilen widmend.
"und ich nehm das nächste buch
und ich sehe: eine wolke
schwarz auf weiss
und die woke ist ein pilz
die wolke: ein atompilz
voller tod"
Kommt ein Vogel
Mit Zeilen wie diesen spaltete er nicht nur das Urteil der Jury, auch auf Twitter, wo unter dem Hashtag #tddl die treue Schar der digitalen Bachmannfreunde seit vielen Jahren die Lesungen begleitet, gab es durchaus wohlwollende Zustimmung, als Klaus Kastberger "und dann" verteidigte, während sich Clemens J. Setz, selbst Ernst-Willner-Preisträger des Jahres 2008 den Spaß gönnte, kleine Miniaturen im Stile Westermanns zu verfassen, wie diese:
"was mich rettet sind die bücher
ist die sprache und ihr klang
kommt ein vogel wenn es regnet
und sein schnabel ziemlich lang
und ich lese in der zeitung
und die raucher essen wild
morgens schnee und abends jäger
und das ganze nur ein bild"
Es gab also auch an diesem zweiten Tag des 44. Bachmannpreises allerlei Anregendes und Aufregendes zu hören, zu sehen – bevor es morgen ab 10:00 Uhr weitergeht, dann mit den letzten vier Autorinnen und Autoren, die in dieser Reihenfolge lesen werden: Lydia Haider, Laura Freudenthaler, Katja Schönherr, Meral Kureyshi. Die Preisverleihung findet am Sonntag statt und bis jetzt, auch das zeigte dieser Tag, ist das Rennen offen. Es bleibt, auch wenn die Bachmannpreis-Jury diese Formulierung als Klischee identifizieren würde: spannend.