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Tagebücher
Max Frisch in der DDR

20 Jahre Sperrfrist hatte der 1991 gestorbene Schweizer Schriftsteller Max Frisch seinem "Berliner Journal" verordnet, das er von 1973 bis 1980 geführt hatte. In einer Teilveröffentlichung, die keine Persönlichkeitsrechte verletzt, sind Frischs Eindrücke aus Ostberlin erstmals zu lesen.

Von Martin Ebel |
    "Bei Max Frisch war immer etwas los",
    sagt der Zürcher Germanist Peter von Matt einmal auf einem Podium. Der langjährige Präsident der Frisch-Stiftung bezog sich auf das notorisch bewegte Liebesleben des Autors. Er hätte auch dessen Nachlass meinen können. Denn auch editorisch ist, mehr als 20 Jahre nach Frischs Tod, immer noch "etwas los". Das Leben des Schriftstellers ist noch längst nicht biografisch erschöpfend aufgearbeitet, und von dem, was Frisch an Texten hinterlassen hat, ist längst nicht alles veröffentlicht.
    Das liegt nicht am mangelnden Interesse der Öffentlichkeit. Im Gegenteil. Gerade weil bekannt ist, dass da noch was lagert - etwas von persönlichem, privatem, gar erotischem Charakter -, wird die Neugier nicht nachlassen. Besonders vom Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann erwartet man sich viel. Dessen Publikation haben deren Erben allerdings vorerst einen Riegel vorgeschoben. So richtet sich die Neugier des Publikums - sei es literarisch interessiert oder bloß voyeuristisch gesinnt - auf das "Berliner Journal", ein Tagebuch, das Frisch von 1973 bis 1980 sporadisch oder intensiv geführt hatte. 20 Jahre Sperrfrist nach seinem Tod hatte der Autor selbst verfügt. Die waren vor knapp drei Jahren abgelaufen. Im April 2011 ließ die Max-Frisch-Stiftung, die der Autor selbst noch eingesetzt hatte, das Schließfach mit den versiegelten Nachlassbeständen öffnen und den Schatz heben: fünf Notizhefte mit teils getippten, teils handschriftlichen Aufzeichnungen.
    Nun liegt aber gerade in dem, was manche Leser besonders scharfmachte, ein Publikationshindernis. Im "Berliner Journal" geht es auch um die kriselnde Ehe mit Marianne Frisch. Je intimer die Notizen, desto stärker die Gefahr, Persönlichkeitsrechte der noch lebenden einstigen Ehefrau zu verletzen. Deshalb ist das, was jetzt bei Suhrkamp erschienen ist, nur eine Teilveröffentlichung und trägt zu Recht den Titel: "Aus dem Berliner Tagebuch".
    "Ohne Vorsatz leben (was allerdings eine privilegierte Lage voraussetzt, ein Schlösschen, wie Herr de Montaigne es hatte, oder ein Checkbuch): Es ist nicht ohne weiteres zu lernen. Eben das Bewusstsein, dass man in eine privilegierte Lage geraten ist, nötigt zu Vorsätzen. Eine lange Zeit meines Lebens, als ich nicht hungerte, aber ziemlich mittellos war, etwa so mittellos wie die grosse Mehrheit, interessierte mich die Gesellschaft überhaupt nicht, die Politik, die Utopie; mein soziales Engagement begann schleichend wie mein Wohlstand, der (das glaube ich mir wirklich) nie mein Ziel war, aber als Fait accompli mehr und mehr zu Vorsätzen nötigte, die den Sonder-Wohlstand nicht heiligen, aber als Mittel zum Zweck rechtfertigen. Das heisst nicht ohne weiteres, dass ich mir (und Leuten meiner Art) den Sozialisten nicht glaube. Im Gegenteil; aber auch das nicht ironisch gemeint: Das gesellschaftliche Gewissen ist ein Luxus. Muss man sich diesen Luxus leisten? Der Vorsatz, etwas beizutragen zur Verbesserung dieser Gesellschaft, entspringt dem Bedürfnis nach Anstand - ich weiss nicht, was ich habe sagen wollen - Ohne Vorsatz leben ..."
    So der Eintrag vom 17.2.1973. Da ist er wieder, der Frisch-Ton, da sind sie wieder, diese mal knappen, mal weit ausholenden, messerscharf die eigenen Gedanken zersäbelnden, neu zusammensetzenden, von der Rückseite anschauenden Sätze. Thomas Strässle, als Nachfolger Peter von Matts Präsident der Max-Frisch-Stiftung, ist der Herausgeber des Bandes. Im Nachwort gibt er detailliert Rechenschaft über Publiziertes wie nicht Publiziertes. Nur zwei der fünf Hefte des "Berliner Journals" sind ausgearbeitete Texte. Und nur diese sind jetzt zu lesen, minus der Marianne Frisch betreffenden Passagen, etwa ein Achtel des Textes. Das hat bei manchen Kritikern zu Unmut geführt, ist aber korrekt: Der Stiftungsrat ist seinem Auftrag gefolgt, wenn auch vielleicht penibler als der Auftraggeber selbst, der ja nicht eben zimperlich mit seiner unmittelbaren Umgebung umging, auch nicht mit Marianne Frisch, wenn man an die Ehepassagen in "Montauk" denkt.
    Ein Fest für Frischianer
    Wichtiger aber als das, was nicht in der Ausgabe des "Berliner Journals" steht, ist natürlich, was darin steht. Und das wird nicht nur jeden Frischianer, sondern jeden Liebhaber scharfer Gedanken und ebenbürtiger Formulierungen begeistern. Diese Aufzeichnungen aus den Jahren 1973 und 1974 sind allerbester Frisch.
    "Übernahme der Wohnung (Sarrazin Strasse 8) und Abend bei Grass. Nieren",
    lautet der erste, noch etwas lakonische Eintrag am 6. Februar 1973. Als die Frischs die Eigentumswohnung bezogen, besaßen sie schon das Haus in Berzona und eine weitere Wohnung in Zürich. Aber Besitz erdete Frisch, den Unbehausten, den Aufbruchssüchtigen, nie. 1973 war er 62 und ein "Erfolgsschriftsteller", ein Begriff, den er selbst in skeptische Anführungszeichen setzte. Er kam mit dem Erfolg nicht zurecht; nicht mit den hohen Auflagen, dem Wohlstand, den sie ihm einbrachten. Sein alles zergliedernder, zerfressender und noch die Knochen abnagender Intellekt suchte und fand stets "le revers de la médaille", den Pferdefuß:
    "Der Erfolg ist genau das, was den Stolz nimmt."
    Jedenfalls nimmt der Erfolg ihm nicht die Selbstkritik, womöglich verstärkt er sie noch. Max Frisch ist, glaubt man dem "Journal", zu nichts Rechtem mehr imstande (dabei arbeitete er in diesen Monaten an dem, was später die großartige Erzählung "Der Mensch erscheint im Holozän" wurde). Er zweifelt an seinem Urteil, an seinem Intellekt, an seiner Sprache:
    "Die Sprache, die ich schreibe, hat zu wenig Körper; die Wörter sind vielleicht genauer, der Satzbau zutreffender, aber alles zusammen bekommt keinen Körper und keinen Geruch, nicht einmal Schatten; wie ein Steckbrief auf Gegenständliches, aber ungegenständlich. Es fehlt nicht an Rhythmus, aber es ist ein Rhythmus der Nicht-Spontaneität. Bin ich, infolge meines Alters, so unspontan?
    Offenbar ja, zumindest am Schreibtisch, wo ich mich am wohlsten fühle, wo ich es nicht merke; ich merke es erst, wenn ich es nachlese. Und oft genug lese ich es gar nicht nach; ich weiss schon: diese Unsinnlichkeit meiner Sprache jetzt. Wie ausgelöscht, die selben Wörter, aber ohne Hall, wenn man sie liest; Chiffren, aber eben nicht das Ding selbst."
    Der Versuch, in Berlin einen Neuanfang zu wagen, die "Euphorie, man werde jünger durch einen Wohnortwechsel", versickert in Selbstzweifel, Langeweile und schlechter Laune. Obwohl von Freunden und interessanten Kollegen umgeben, empfindet er die meisten Gespräche bloß als Absondern fertiger, verbrauchter Sätze. Was für ein unleidlicher Mensch Frisch oft war, spürt auch der Leser dieses "Journals"; auch ihm ist in seiner Gesellschaft bisweilen unwohl.
    Ein Schweizer in der DDR
    Zum Glück ist der Tagebuchschreiber entgegen seiner Selbsteinschätzung alles andere als ausgeschrieben. So finden sich einige wunderbare literarische Skizzen und immer wieder Bilder und Sätze, die sich festsetzen und im Kopf des Lesers weiterwirken. Der größte Wert des Buches liegt aber in den Eindrücken aus Ostberlin und in den Personenporträts, allesamt veritable Anthologiestücke. In der DDR trifft er Funktionäre, Dissidenten und das Ehepaar Christa und Gerhard Wolf, die zu beiden nicht richtig gehören. Mit unbestechlichem Blick registriert er den seltsamen Tanz, den er und seine Gastgeber vom Schriftstellerverband miteinander aufführen, um unliebsame Themen zu vermeiden. Hilflos und erschüttert ist er von der Aggression, mit der der emigrierte Uwe Johnson, sein Freund, Christa und Gerhard Wolf bei einem gemeinsamen Abend beharkt. Und nicht zuletzt fasziniert den Schweizer die Bedeutung, die der Literatur in der DDR zugemessen wird, selbst und gerade da, wo sie behindert wird. Den stärksten Eindruck im Osten macht ihm Wolf Biermann, ein Kraftkerl und: ein echter Kommunist. Biermann und Christa Wolf gehören schon in jene Porträtgalerie, die die Höhepunkte des "Berliner Journals" bilden. Da ist der um seine Lockerheit sichtlich beneidete Enzensberger. Da ist der schwierige Freund Johnson. An ihm bemerkt er schon früh wahnhafte Züge, die später massiv deutlich wurden. An ihm schätzt er aber nicht nur die literarische Qualität (nur Johnson und Dürrenmatt, heißt es einmal, seien ein Maßstab). Sondern auch, dass der ihn fordert:
    "Anfang der Sechzigerjahre, etwas mehr als vor einem Jahrzehnt, fragte Uwe Johnson, damals sehr jung in seiner Lederjacke, bei einem Bier auf einem nächtlichen Platz in Spoleto (Festspiele) unvermittelt unter vier Augen: Herr Frisch, was machen Sie mit Ihrem Ruhm? Nicht duldend, dass ich die Frage für aufsässigen Spott nahm, blieb er aufsässig: Sie sind berühmt, Herr Frisch, ob Sie das wollen oder nicht. Sein Blick liess auch den Irrtum nicht zu, dass es etwa eine Schmeichelei sei. Die Frage war eine blanke Forderung, ich fand nicht einmal heraus, welche Antwort er dabei erwartete; eine offene Forderung. Ich konnte sie nicht beantworten, weiss nicht, ob seine Stimme oder nur seine Miene sagte: Herr Frisch, darüber müssen Sie nachdenken. Seither sind wir uns über Umwege (er verurteilte, so vermute ich, mein Verhalten gegenüber Ingeborg Bachmann als unverantwortlich) näher gekommen, bleiben aber beim Sie, das, in der allgemeinen Duzerei, sich beinahe wie ein Riff ausnimmt; ich finde es schön, nämlich richtig, eine Herzlichkeit, die nie hemdsärmelig wird, sogar Zärtlichkeit, aber sie bleibt fordernd. Uwe Johnson ist mühsamer als die meisten, auch wenn er lustig ist, witzig. Er fordert mich. Das ist eine Auszeichnung, so wie er es macht; er fordert nicht wie so viele Kluge, um sich bestätigt zu sehen, wenn der andere den Forderungen nicht genügt; er fordert mich aus Hoffnung."
    Schließlich der Gastgeber des ersten Abends und vieler weiterer Abende, Günter Grass. Den schätzt er auch, er mag ihn sogar; aber etwas stört ihn: sein reflexhafter Verlautbarungsdrang:
    "Braucht er seinen Namen in den Zeitungen? Grass äussert sich zu: Scheel als Bundespräsident, Genscher als Aussenminister etc., Anruf von einer Redaktion genügt, und er verlautbart. Als könne er Aktualität ohne Grass nicht ertragen. Wie heilt man ihn?"
    Und wie heilt er, Frisch, sich selbst? Von Lebensekel, Ungenügen, Langeweile, selbstzerstörerischem Zergliedern, Reflexionsexzessen? Gar nicht. Er flieht. Erst in eine neue Stadt, dann zu einer neuen Frau. Davon erzählt dann "Montauk".
    "Max Frisch: Aus dem Berliner Journal."
    Herausgegeben von Thomas Strässle unter Mitarbeit von Margit Unser.
    Suhrkamp, Berlin 2014. 256 Seiten, 20 Euro