Das wichtigste Schreibprinzip von Witold Gombrowicz war die Egomanie – das wissen alle, die seine Romane kennen. Vor allem aber wissen es diejenigen, die sein Tagebuch gelesen haben, dessen vielzitierter Auftakt lautet:
"Montag: Ich. Dienstag: Ich. Mittwoch: Ich. Donnerstag: Ich."
Dass Gombrowicz neben diesem opulenten Werk noch ein weiteres, geheimes Tagebuch führte, war nur wenigen bekannt. Man vermutet, dass er damit in den frühen Fünfzigern begann. Im Sommer 1952 schlug er jedenfalls dem Pariser Exilverlag "Literarisches Institut", wo alle seine Werke erschienen, ein Tagebuch vor. Es sollte regelmäßig in der MonatsschriftKultura, dem meistgelesen polnischen Exilblatt, erscheinen. Offenbar begann er also damals – in demselben monatlichen Rhythmus – ein zweites, privates zu führen: Kronos. Diese Annahme würde auch die erste Buchausgabe des Tagebuchs bestätigen, in deren Vorwort er schreibt:
"Ich habe noch etwas in Reserve, doch diesen – privaten – Rest veröffentliche ich lieber nicht. Ich will mich nicht in Schwierigkeiten bringen. Irgendwann vielleicht… Später."
"Die Erotik geht mir zu Ende"
Es ist Rita Gombrowicz, der Witwe des Schriftstellers, zu verdanken, dass dieses "intime Tagebuch" der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Ob es eine richtige Entscheidung war? Darüber sind die Meinungen geteilt, zumalKronos kaum Sensationelles enthält. Es ist vielmehr ein Kalendarium, das vor allem zeigt, dass Gombrowicz, der bis dahin als eher weltfremd galt, peinlich genau über sein Leben Buch führte. Er tat es, wie gesagt, jeden Monat, um am Ende des Jahres noch eine kurze, in vier Rubriken – Gesundheit, Finanzen, Erotik und Literatur – eingeteilte Jahresbilanz zu ziehen. Das Resümee des Jahres 1954 zum Beispiel hört sich so an:
"Gesundheit geht so. Das Jahr geschmückt von dreimonatiger Freiheit und finanziell nicht schlecht, auch wenn die Zusammenarbeit mit Free Europe versagt hat. Doch das Jahr war nicht so besonders: Die Bank geht mir zu Ende, sie quält mich zu sehr, die Erotik geht mir zu Ende, und die Literatur… Ich denke an den Tod und warte. Erreicht habe ich NICHTS. Böse Vorahnungen für 1955."
Die schlechte Gesundheit des Schriftstellers nimmt in Kronos besonders viel Platz ein. Gombrowicz spart nichts aus – weder seine venerischen Krankheiten noch die ihn ständig plagenden Ekzeme, noch seine Magen- und Darmprobleme. Nicht minder genau gibt er Auskunft über seine finanzielle Situation. Und er protokolliert er auch jede neue Anschaffung, von einer neuen Pfeife bis zu dem ersten Auto. Dieses Tagebuch zeigt aber auch, wie mühsam manchmal sein schriftstellerischer Alltag war. Neben den Momenten der Untätigkeit hatte Gombrowicz auch Phasen intensiver Arbeit, und auch diese hält er inKronos fest. Außerdem entpuppt er sich darin als ein geschickter Manager seiner selbst – als jemand, der konsequent auf seinen Erfolg hinarbeitete. Mit entsprechendem Eifer hält er all seine Buchausgaben und Theateraufführungen fest – bis er schließlich Ende 1968, kurz vor seinem Tod, notiert:
"Stark gewachsenes Prestige, der Nobelpreis in greifbarer Nähe."
Dem Titel des Tagebuchs könnte man zwei Bedeutungen zuschreiben: Ihn entweder als Anspielung auf den mythischen Kronos interpretieren, der seinen Vater mit einer Sichel entmannte, um so zum Herrscher der Welt zu werden, oder mit dem Begriff "Chronos" (Zeit) in Verbindung bringen. Dass Gombrowicz eher an Letzteres dachte, deutet der Nachdruck hin, mit dem er diese Notizen seiner Frau anvertraute:
"Wenn ein Brand ausbricht, nimm 'Kronos' und die Verträge und lauf so schnell du kannst und bring sie in Sicherheit."
Und plötzlich nimmt er seine Maske ab
Eine Anweisung, an die sich Rita Gombrowicz, wie man sieht, auch ohne Einfluss einer Naturgewalt gehalten hat – trotz der kleinen Bosheiten, mit denen er sie oder ihr Zusammenleben bedenkt. Er galt schon zu Lebzeiten als homosexuell, allerdings war dies eher eine Vermutung seiner Zeitgenossen - er selbst machte dazu weder privat noch öffentlich irgendwelche Angaben. Umso mehr staunt man bei der Lektüre von Kronos, in dem Gombrowicz immer wieder dieses Thema berührt und in jeder Jahresbilanz die Zahl der Sexualpartner festhält. Ende 1955 etwa notiert er:
"Nicht übel, eher ruhig, 15."
Er lässt zwar offen, ob sie weiblich oder männlich waren, doch andere einschlägige Notizen lassen schließen, dass es sich meistens um die Männerliebe handelte. Seine wichtigste heteroerotische Erfahrung war offenbar sie: die junge Kanadierin Rita, seine letzte Lebensgefährtin, die er ein halbes Jahr vor seinem Tod heiratete. Den Beginn des intimen Verkehrs mit ihr bezeichnet er in Kronos jedenfalls als "wundersamen Wandel". Allerdings stellt er schon ein Jahr später nüchtern fest:
"Nichts, das liegt jetzt wohl hinter mir. Fernsehen, Zweispänner, Grammophon, frigidaire, Ofen, Hund, Katze."
Genauso knapp sind fast alle Eintragungen in Kronos. Intim sind sie also nur insofern, als sie Gombrowicz in seiner ganzen Menschlichkeit und Widersprüchlichkeit zeigen. Dieses plötzliche Abnehmen der Maske ist zwar beeindruckend – zu einem literarischen Ereignis macht es dieses Buch aber gewiss nicht. Und genauso wenig tut es sein Stil. Im Gegenteil: Neben dem anderen, stilistisch glänzenden Tagebuch nimmt sich Kronos wie die Freizeitbeschäftigung eines Buchhalters aus. Hatte Gombrowicz wirklich das breite Publikum im Sinn, als er seiner Frau dessen Rettung aus den Flammen empfahl? Oder eher seine künftigen Biographen? Denn für die ist Kronos in der Tat eine unschätzbare Quelle.
Witold Gombrowicz: Kronos. Intimes Tagebuch. Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Olaf Kühl, Hanser Verlag, München 2015. 360 S., 27.90 Euro