Pilze, giftige zumal, sind ein Thema, Typologien, vor allem phantastische, ein anderes. "Marta entwickelt eine Typologie", heißt eines der kurzen Kapitel, und Martas These darin lautet, die Menschen würden auf die Dauer der Erde ähnlich, auf der sie leben. "Dort, wo der Boden locker und sandig ist", meint Marta, "kommen kleine, schmale Menschen zur Welt, die eine trockene, helle Haut haben". Und so weiter. Was für ein Typ sie selbst sei, will die Ich-Erzählerin am Ende von Marta wissen. "Solche Regeln denkt man sich immer nur für andere aus", gibt Marta zur Antwort. "Das Schloss" heißt dann das nächste Kapitel - vielleicht muss man auch wegen dieses Titels an Kafka denken und an eine Schreibweise, die dem Leser den Boden unter den Füßen wegzieht, die ihn im Zustand des Taumels entlässt. In Tokarczuks Erzählphantasie findet man vielerlei Einflüsse, die man ,osteuropäisch' nennen könnte: Kafkas Reduktionen an den Nullpunkt, die bodenlosen Enzyklopädien des Danilo Kis, die Fieberträume mancher Ungarn wie Laszio Darvasi - das Buch müsste gar nicht in Nowa Ruda spielen, um seine Verbundenheit mit dieser östlichen Welt in jedem Satz zu manifestieren. Ist das "magischer Realismus"? Ist das "wildes Denken"? Jedenfalls legt das Buch der studierten Psychologin Olga Tokarczuk ein Maß an schlafwandlerischer Intuition, an finsterem Witz und literarischer Souveränität an den Tag, über das man nur staunen kann. Weltliteratur findet eben meistens dort da statt, wo man sie am wenigsten vermutet, zum Beispiel im schlesischen Waidenburg, wo Tokarczuk heute lebt und ihren eigenen Verlag betreibt.
Es sind sehr sonderbare Charaktere, mit denen man im Lauf des Buches Bekanntschaft macht, allen voran die von der Volksfrömmigkeit verehrte und von der Kirche gemiedene Kümmernis von Schonau. Sie hat ihr Leben dem Herrn Jesus geweiht, und dieser hat ihr, um sie vor den Nachstellungen irdischer Freier zu bewahren, sein eigenes Aussehen mitsamt seinem eigenen Bart verliehen. Die örtliche Heiligenvita mit ihren gnostischen Untertönen, das ist ein Tag- und Nacht-Stoff, der für Tokarczuks Einbildungskraft wie geschaffen scheint: volkstümlich, schauerlich und abseitige Wie ein kollektiver böser Traum (oder "wie Träume nach einem Pilzgericht) erscheinen die gelassen aneinander gereihten Legenden all der seltsamen Heiligen in Tokarczuks Buch. Die moritatenähnlichen Geschichten von Männern wie Marek Marek, Franz Frost und Ergo Sum, und die lakonisch traurigen Berichte von allerlei Todesarten im Grenzland. Was könnten Martas Todesarten sein, fragt sich die Erzählerin einmal, als sie der Alten beim Teigwalken zuschaut. "An welcher Stelle wird der Tod in ihren Körper eindringen?" Durch die Augen? Durch die Ohren? Durch die Nase? Durch den Mund? "Marta kann einen wurmigen Apfel essen, eines dieser dunkelroten Äpfelchen aus ihrem alten Garten, einen Apfel mit dem weißen Ei des Todes im Inneren." Der wird, denkt sie, Marta von innen aushöhlen, und ihre zerbrechlich gewordene Schale wird dann eines Tages "beim Rütteln am defekten Schloß der Gartenpforte" bersten.
So sind Tokarczuks Einfälle, grausam und hellsichtig wie die alten Märchen. Dabei ist dies, wenngleich man es manchmal ganz vergisst, ein Buch aus der Gegenwart, "Träume aus dem Internet" reihen sich nahtlos an "Kosmogonien" - und an Pilzrezepte. Wie wäre es mit Fliegenpilztorte? Oder mit einem süßen Nachtisch aus Bovisten? Sollte man die Pilze nicht besser nach solchen unterscheiden, die "zur Sünde verleiten, und solchen, die von Sünden befreien?" Es gibt keine giftigen Pilze, sondern nur falsche Unterscheidungen, das ist eine der vielen Sachen, die man aus Olga Tokarczuks Buch lernen kann.