"'Am Anfang haben sie mich ignoriert, später haben sie mich zum Heiligen gemacht, beides Male haben sie meine Bücher nicht gelesen.' Vielleicht ist diese Konferenz eine Art von später Wiedergutmachung, dass man sich mit dem Werk selbst wieder auseinandersetzt und nicht so tut, als wüsste man das schon alles. Das gewaltige Gebirge von Wissen und Kenntnissen, das er uns da vorgestellt hat, muss ja erst Mal zur Kenntnis genommen werden, diese Bücher zu lesen, dauert ein paar Wochen."
Was der Freiburger Zeithistoriker Ulrich Herbert hier anmerkt, dürfte an diesen drei Konferenztagen in Berlin nicht das Problem gewesen sein. Die eine oder andere Ausgabe von "Die Vernichtung der europäischen Juden", dieses über Jahrzehnte ständig erweiterte und überarbeitete Werk von Raul Hilberg, hatte wohl jeder der hier Anwesenden gelesen.
Saul Friedländer, Dan Michman, Christopher Browning
Es war eine Art Klassentreffen, der deutschen, aber auch internationalen Holocaust-Forschung: Saul Friedländer war gekommen, Dan Michman, der Chefhistoriker der Gedenkstätte Yad Vashem, aber auch Christopher Browning, der in den 1990er Jahren mit seinem Buch "Ganz normale Männer" über ein am Holocaust beteiligtes Polizeibatallion den Blick auf die Einzeltäter des Massenmordes veränderte. Er beschrieb auch in einer Wortmeldung, welche gewaltige Leistung der junge Hilberg vollbrachte, als er in den 1950er Jahren mit seiner Doktorarbeit begann:
"Ein junger Wissenschaftler, der als erster vor diesem riesigen Berg von Akten sitzt und daraus vor dem Geschehen des Holocaust einen Sinn, Zusammenhänge erkennen soll, muss eine unglaubliche Herausforderung gewesen sein."
Was Hilberg daraus machte? Ihn interessierten nicht so sehr die Direkttäter, die "braunen Bestien", wie man sie damals noch pathologisierend nannte. Ihn interessierten die Schreibtischtäter, genauer die Bürokratie und Verwaltungsakte, der Holocaust als großer, gesamtgesellschaftlicher Prozess, die "Maschinerie", wie er es immer wieder nannte. Nicolas Berg, Leipziger Historiker:
"Hilberg nimmt das Gartenbauamt in Riga oder Vilnius, er nimmt die Pfandleihanstalt in Dortmund, er nimmt die Eisenbahner, er nimmt alle Institutionen. Und stellt fest: Das Gartenbauamt stellt Grünpflanzen bereit, um Sichtschutz zu gewähren, beim Abtransport der Juden."
"Joachim Fest hätte einfach in das Buch von Hilberg schauen können"
Hilberg war ein Pionier, mit Verzögerung kam die erste Ausgabe seines Buches 1961 in den USA heraus. Magnus Brechtken, stellvertretender Leiter des Instituts für Zeitgeschichte, München:
"Ich nehme das Beispiel Albert Speers und Auschwitz. Albert Speer hat 1942 in Auschwitz die Erweiterung finanziert, dazu gibt es ein Protokoll, das seit 1948 bekannt ist, das hat Raul Hilberg 1961 auf zwei Seiten ausführlich zusammengefasst, mit allen Namen, Speer, Himmler, Oswald Pohl. Da sind die Namen genannt. Da sind die Summen genannt. Das ist seit 1961 für jeden deutschen und auch internationalen Historiker nachzulesen. Trotzdem gibt es ein Interview mit Joachim Fest mit Albert Speer, 1969 zur Veröffentlichung der Erinnerungen. Joachim Fest fragt: Haben Sie den Namen Auschwitz gehört und Albert Speer sagt: Nein. Jeder Zuschauer, jeder Historiker, aber auch Joachim Fest, hätten einfach in das Buch von Hilberg schauen können und sehen können, das ist gelogen."
Hilbergs Buch erscheint erst 1982 Jahre auf Deutsch, in einem Kleinstverlag. Und deshalb wird diese Konferenz auch zu einer Konferenz über die Geschichte der deutschen Holocaustforschung, die – das ist von heute aus schwer begreiflich – erst in den 1980ern, den 1990ern intensiv, quellen- und faktenorientiert einsetzt. Vorher spielte der Massenmord an den Juden kaum eine Rolle, selbst in den besten Gesamtdarstellungen zum Nationalsozialismus, das rechnet etwa Ulrich Herbert vor, nahm er nur zwei Prozent des Textes ein.
Einer bei diesem Klassentreffen, der immer wieder Impulse für die Forschung gesetzt hat, der aber auch immer wieder provoziert, schlägt auch hier die lautesten Töne an: Götz Aly. In seinem Vortrag, vorab in der "Süddeutschen Zeitung" und im "Spiegel" vorbereitet, skandalisierte er den Umgang des Instituts für Zeitgeschichte mit Raul Hilberg. Dieses habe mehrfach die Publikation Hilbergs in Deutschland "hintertrieben", in dem es deutschen Verlagen eine Übersetzung nicht empfohlen habe.
Mit dem "Enthüllungsgestus" Götz Alys fremdeln einige
In der Sache sind sich die meisten Historiker hier mit Aly einig: Das Unverständnis darüber, dass gerade die ersten renommierten NS-Forscher die Bedeutung Hilbergs nicht erkannten, oder nicht erkennen wollten. Nur mit dem "Enthüllungsgestus" Alys fremdeln einige.
Auch Ulrich Herbert erzählt persönlich, welche Unkenntnis über den Holocaust selbst Fachhistoriker hatten:
"Ich bin eigentlich davon ausgegangen, das weiß man schon alles, das ist bekannt. Und erst dann, Ende der 80er Jahre, habe ich zum ersten Mal das Buch von Hilberg gelesen. Und dann plötzlich hatte ich das Gefühl, ich bin auf dem Stand der Kenntnisse. Und dann erst kann man eigentlich anfangen zu fragen, wo ist eigentlich die neue Forschung?"
Auch über die Grenzen von Hilbergs Forschung wurde gesprochen. Er, der sich selbst als "document man" sah, stütze sich fast ausschließlich auf die Akten der Täter. Die Aufzeichnungen und Erinnerungen der Opfer, der Überlebenden, interessierten ihn kaum. Erst Saul Friedländer, stieß mit seinen Arbeiten eine solche integrierte Holocaustgeschichte an, die heute als Maßstab gilt. Doch trotzdem: Hilbergs Buch, in seinen vielen überarbeiteten Versionen, bleibt ein Standardwerk.