"70 Jahre habe ich gelitten darunter, unter dem Spruch: 'Die Häftlinge von Buchenwald haben sich selbst befreit.' Das ist in der Weltgeschichte eine Lüge, die unwahrscheinlich ist! AUFHÖREN!"
Der 102-jährige Wiener Jude Marko Max Feingold musste es loswerden im April dieses Jahres, zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald. In dem Moment, an dem Feingold auf die Befreiung des Lagers durch die Amerikaner kommt, macht sich in der Ecke der Antifa, der roten Fahnenträger mit Thälmann, Marx, Hammer und Sichel auf dem roten Stoff, Unruhe breit: "Aufhören!", rufen sie dem Mann zu, der Buchenwald überlebt hat. Sie wollen ihm das Wort verbieten, weil seine Erinnerungen nicht zu ihrer Vorstellung von Wirklichkeit passt. Für Peter Reif-Spirek von der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung war der Eklat zum Buchenwald-Gedenken im April auch ein Grund dafür, sich auf einer Tagung zur Erinnerungspolitik wieder mit dem Thema zu beschäftigen, das doch geklärt erschien: die Rolle des kommunistischen Widerstands in Buchenwald und die Legende von der Selbstbefreiung der Häftlinge.
"Ich war doch überrascht, mit welch großer Bereitschaft es doch zu mindestens einen Teil des politischen Spektrums gibt, der nach wie vor vorhat, Erinnerungspolizei zu spielen. Und nichts anderes ist es ja, wenn man einem Häftling seine konkrete Erinnerung vorwirft und ihn für seine Erinnerung gewissermaßen abstraft, weil es in das eigene politische Konzept nicht passt."
Die Historikerin Annette Leo führte aus, wie zweischneidig die Rolle der kommunistischen Funktionshäftlinge in Buchenwald war, die zum Selbsterhalt Erfüllungsgehilfen des Terrors wurden.
Am Beispiel eines kommunistischen Pflegers in der Krankenbaracke verdeutlichte Leo, dass unter den Bedingungen der absoluten Macht der SS jeder Vorteil, den ein Häftling für sich herausschlug, einen Preis hatte, den ein anderer Häftling zu zahlen hatte.
"Die SS-Ärzte mordeten, und mehrere Genossen - und auch ich - mussten uns als Helfer beteiligen. Nicht, dass ich nur geholfen habe, sondern ich wurde gezwungen, ebenfalls zu 'beseitigen'. Ich konnte es zwar ablehnen, und hatte mich am Anfang auch dagegen gewehrt; nachdem ich aber durch die Partei auf die Notwendigkeit hingewiesen wurde, habe ich die Konsequenzen ziehen müssen. Hätte ich das abgelehnt, wäre kein Genosse im Krankenbau mehr beschäftigt worden. Da uns unsere Genossen mehr wert waren als alle anderen, mussten wir also einen Schritt gemeinsam mit der SS gehen, und zwar in der Vernichtung von aussichtslosen Kranken."
Roman machte Legenden von heldenhaftem Widerstand populär
Nur um den Preis der politischen Selbstvernichtung hätten die Kommunisten nach der Befreiung diese Geschichten erzählen können. Stattdessen machte der Buchenwald-Überlebende Bruno Apitz in seinem Roman "Nackt unter Wölfen" die Legenden von heldenhaftem Widerstand, selbstloser Solidarität und Selbstbefreiung erst richtig populär. Nach Roman, Hörspiel und zwei Verfilmungen in der DDR hatte sich der MDR in diesem Jahr an eine Neuverfilmung des Stoffes gewagt: Die Geschichte der Rettung eines kleinen jüdischen Jungen im KZ, weniger heroisch, aber dennoch weitab von der wahren Geschichte des realen Jungen, für dessen Rettung ein anderer, ein Sinto, ins Gas ging. Die Diskussion um den Film scheint noch nicht beendet zu sein. Der Historiker Axel Dossmann fragte:
"Warum ist dieser Stoff im Jahr 2015 gesellschaftlich so erfolgreich in Ost wie West? Das ist nicht zuletzt deswegen, weil dieser Roman eine Geschichte erzählt, wie Deutsche einen Juden retten. Die Geschichte lief aber im Kern andersherum. Was ist diese kleine Geschichte gegenüber der Schoah? Und was überschattet sie erneut? Das ist der Massenmord an den Sinti und Roma. Das ist eine Enthistorisierung von einem eigentlich ganz wunderbar überlieferten Stoff!"
Auch Romani Rose vom Zentralrat der Sinti und Roma merkte verbittert an, dass der Völkermord an seinem Volk noch immer kein Thema sei.
"Auch im Beitrag ihres Drehbuchs tauchen Sinti und Roma in Buchenwald überhaupt nicht auf. Und die Unmenschlichkeit des Systems zeichnet sich dadurch aus, dass die eine Biografie vollkommen weggeblendet wird, die war überhaupt nicht zur Kenntnis gebracht. Und das war für viele Überlebende unserer Minderheit ganz einfach eine unerträgliche Situation, diesen Beitrag so zu sehen."
Alles auf Anfang also in Buchenwald: Hinter jeder traurigen Geschichte schält sich eine neue heraus, nicht weniger abgründig. Sie alle müssen erzählt werden.