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Tagung "Krieg erzählen"
Den Schrecken erklären und legitimieren

Jede Geschichte, jedes Bild aus dem Krieg, so könnte eine Quintessenz der Berliner Tagung "Krieg erzählen" lauten, haben noch eine weitere Dimension als nur die Darstellung von Leid. Es geht bei Opfern und bei Tätern des Krieges um Sinnstiftung, Erklärung oder sogar Legitimation von Gewalt, Schrecken und Elend.

Von Cornelius Wüllenkemper |
    "Krieg ist eine Konstante, irgendwo ist immer einer. Wenn man regelmäßig in Regionen fährt wie zum Beispiel Ruanda, dann stellt man sich zu Hause die Frage: Was ist los mit diesen Menschen, warum tun sie das? Ich denke, wir müssen uns die Frage ganz einfach so beantworten: Krieg ist der älteste Beruf der Welt, und Krieg macht den Menschen im Kern aus. Menschen kämpfen, und sie werden immer kämpfen, und oft liebt es der Mensch sogar zu kämpfen."
    Ebenso nüchtern wie ernüchternd fasst Philip Gourevitch seine langjährigen Erfahrungen als Kriegsberichterstatter zusammen. Der US-amerikanische Autor und Journalist hat unter anderem für den New Yorker über den Völkermord in Ruanda berichtet. Krieg als geschichtliches Phänomen ist nur schwerlich zu fassen: ob Ex-Jugoslawien, ob Irak, Afghanistan, Tschetschenien oder der Sudan - es gibt nie die eine allgemeingültige Wahrheit über das Geschehen. Ob direkte Zeugen und Opfer der Gewalt, oder professionelle Berichterstatter: Stets steht die Sprachlosigkeit am Anfang, meint Hans Christoph Buch. Als Autor und Schriftsteller wurde er Zeuge von unzähligen Gewaltexzessen, von Leid, Vertreibung und Chaos.
    "Als ich zum Beispiel in einem Massaker war, mittendrin in einem Flüchtlingslager in Ruanda, dachte ich immer: Das ist ein Irrtum, was hier passiert. Hier sind irgendwelche Soldaten, die irgendetwas machen, was niemand befohlen hat, vielleicht auf eigene Faust Rache nehmen. Erst zu Hause im Hotel wurden mir die Knie weich, und mir fiel ein: Was du gesehen hast, war ein Massaker mit tausenden von Toten. Das Wort war mir gar nicht eingefallen, während das Massaker passierte. Dass man nicht versteht, ist auch Schutz, denn sonst würde man in Panik geraten."
    "Es gibt die objektive Geschichte nicht"
    Eine lineare Erzählung von Krieg, eine Kriegsgeschichte, die Sinn und Ordnung im eigentlich Unfassbaren herstellt, ist schlechterdings unmöglich, so ein Tenor der Tagung im Berliner Haus der Kulturen. Kriegsüberlebende, die den Schrecken hautnah miterlebten, sind oft allein aufgrund ihrer Traumatisierung nicht in der Lage, nach klassischen Ordnungsschemata über das Geschehen zu berichten. Krisenreporter dagegen erzählen auf Grundlage einzelner Aussagen und Informationsversatzstücke nur eine mögliche Version des eigentlich Unvorstellbaren, meint Albrecht Koschorke, Literaturwissenschaftler an der Universität Konstanz:
    "Es gibt die objektive Geschichte nicht, die einem dann die Wahrheit gibt. Die Geschichte ist immer unvollendet, und sie ist immer auch im Modus der unvollständigen Information erzählt. Wir wissen nicht alles über Geschichte. Man versucht, Plausibilitäten zu erzeugen. Aber auch ein Kriegsberichterstatter muss das irgendwann zusammenbauen, sonst wird keine Geschichte daraus, die er erzählen kann, und mit der er womöglich zu Hause Leute mobilisiert."
    Erzählungen über den Krieg sind also stets geprägt von Lücken und Unerklärtem, von der Subjektivität dessen, der versucht, der Gewalt so etwas wie einen sinnstiftenden Rahmen zu geben. Das gilt nicht nur für die Opfer der Gewalt, sondern auch für die Täter. Die Rassenfantasien der Nationalsozialisten, die Rede Saddam Husseins über die "Mutter aller Schlachten" oder Slobodan Miloševićs Visionen über die mythische Bedeutung des Amselfelds im Kosovo für das großserbische Volk: Diese Erzählungen wollen eine Legitimation schaffen für Gewalt, Vertreibung und Unterdrückung.
    "Daten-Overkill" in sozialen Netzwerken
    Auch der unbegrenzte Informationszugang, wenn im Internet, auf Twitter oder Facebook das Kriegsgeschehen und die Zeugnisse tausender Menschen immer unmittelbarer in unsere Wohnzimmer drängen, ändert daran nichts, meint die Berliner Literaturwissenschaftlerin Ethel Matala. Sie spricht vom "Daten-Overkill".
    "Durch die massenhafte Verfügbarkeit von Daten ist ja prinzipiell erst einmal eine Situation gegeben, bei der man davon ausgehen muss, das alles wird nicht wahrgenommen, weil kein Hirn in der Welt das alles simultan überblicken kann. Insofern würde ich sagen, ist die Aufgabe professioneller Kriegsberichterstatter die des Filterns, des Selegierens, des Entscheidens auch, welche Geschichten den Charakter potenzieller Symbole für einen ganzen Krieg haben. Da geht es immer um eine pars pro toto Logik, ein Teil, über den ein Ganzes erschlossen werden soll, das in seiner Gänze eben nicht erzählt werden kann."
    Das Erzählen über den Krieg, der Wettlauf um die beste Story ist dabei längst zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden. 3.000 bis 4.000 Dollar pro Tag koste der reguläre Aufenthalt eines Krisenreporters beispielsweise im Irak, berichtet der Fotograf und Filmemacher Marcel Mettelsiefen. Die Kosten für Unterbringung, Verpflegung, Sicherheitstraining, einen lokalen Vermittler sowie für Fahrer und Auto steigen spätestens nach drei Monaten Kriegsgeschehen derart an, dass Journalisten immer öfter auf die Infrastruktur des Militärs zurückgreifen müssen. Die Auswirkungen auf eine neutrale Berichterstattung sind leicht vorstellbar. Der vielfach ausgezeichnete Fotojournalist Michael Kamber, der unter anderem für die New York Times im Irak fotografierte, sieht diese Entwicklung äußerst kritisch.
    Krieg ist auch Krieg um Bilder
    "Die Chicago Tribune hat unlängst ihr komplettes Foto-Team entlassen, 38 Fotografen und Gewinner von Pulitzerpreisen. Jetzt kaufen sie für hundert Dollar Fotos von Freelancern vor Ort. Denen müssen sie keine Versicherung, kein Vorbereitungstraining und keine Spesen bezahlen. Das passiert überall in der amerikanischen Presse. Gerade im Arabischen Frühling haben einige Medien Fotos von 18 oder 19 Jahre alten Jugendlichen vor Ort gekauft, um die sie sich nicht weiter kümmern müssen. Einmal 100 Dollar, und das war’s."
    Krieg ist zugleich ein Krieg um Bilder. Tageszeitungen und Fernsehkanäle brauchen spektakuläre Szenen, um die Konsumenten zu bedienen, und die Kriegsparteien nutzen sie, um sich selbst ins rechte Licht zu setzen. Aber auch für außenstehende Militärs sind Bilder das wichtigste Mittel, um die Stimmung der Bevölkerung zu beeinflussen und politische Mehrheiten für einen Einsatz zu organisieren.
    "Die persönliche Betroffenheit derer, die entscheiden, aber auch die der Bevölkerung, die aufgrund der Bilder ja erst gebracht wird - ohne diese Bilder wirst du nicht zu dieser Entscheidung kommen und wirst nicht hinter der Bundesregierung stehen, die dann die Entscheidung trifft: Da gehen wir hin oder nicht - ohne die läuft nichts!"
    ...bestätigte auf der Berliner Tagung Klaus Reinhardt, ehemaliger General und Befehlshaber der KFOR-Truppen in Kosovo. Dabei sei spätestens seit dem Ersten Weltkrieg bekannt, dass Frontbilder bestenfalls ein Schnappschuss eines winzigen Ausschnitts der Realität seien, meint dagegen Gerhard Paul, Historiker an der Universität Flensburg.
    "Der Warencharakter des Bildes selektiert für mich Realität. Bilder müssen spektakulär sein, sie müssen möglichst dramatisch sein, sie müssen Personen in einer Interaktion zeigen, möglicherweise leidende Menschen. All diese Sachen haben aufgrund des Warencharakters des Bildes eine größere Möglichkeit, in die Öffentlichkeit zu gelangen als weniger spektakuläre Bilder. Und der Krieg ist in aller Regel nicht spektakulär!"
    Falsche Informationen im Kriegstheater
    In diesem Sinn erscheint das Kriegsgeschehen wie eine Bühne, auf der die unterschiedlichen Parteien je nach Interessenlage präsentiert werden. Und tatsächlich spricht man im Englischen vom "war theatre", vom Kriegstheater. Die neuen Medien böten zwar die Möglichkeit, sich umfassend zu informieren, so betont Valentin Groebner, Historiker an der Universität Luzern und einer der Kuratoren der Tagung. Zugleich sei es immer schwieriger, die Herkunft der Informationen im Netz zu überprüfen.
    "'War theatre' heißt, dass in allen diesen Kriegen - und das hat sich durch die neuen Medien eher noch beschleunigt - simuliert, fiktive Nachrichten unterwegs sind. Die selbstverständlich, um zu wirken, echte Nachrichten nachmachen. Und wie gehen wir heute damit um, wenn wir klüger sein wollen als die Leute vor 100 Jahren, die ja auch sehr lange den Berichterstattern des Ersten Weltkriegs geglaubt haben, die von persönlicher Tapferkeit und religiöser Pflichterfüllung gesprochen haben. Auch wenn das der Realität in den Schützengräben überhaupt nicht entsprochen hat."
    Jede Geschichte hat eine weitere Dimension
    Vom Krieg zu erzählen bedeutet heute vor allem, sich in der Informationsflut eine gewisse Orientierung zu verschaffen und skeptisch zu sein gegenüber allzu einfachen Erklärungen des im Grunde Unerklärlichen. Jede Geschichte, jedes Bild aus dem Krieg, so könnte eine Quintessenz der Tagung "Krieg erzählen" lauten, haben noch eine weitere Dimension als nur die Darstellung des Leids anderer Menschen. Erzählungen und Bilder vom Krieg verfolgen stets noch ein anderes Ziel als die bloße Erregung von Mitgefühl: Es geht sowohl bei Opfern als auch bei Tätern des Krieges um Sinnstiftung, Erklärung oder sogar Legitimation von Gewalt, Schrecken und Elend.