"Luther ist ein Teil meines Lebens, den habe ich gewissermaßen mit der Muttermilch eingesaugt. Und die nächste Frage ist, ist das jetzt für meine Kinder eigentlich noch interessant? Da würde ich sagen: ganz schwierig, eigentlich nicht. Also das habe ich denen nicht so vermitteln können. Die leben in einer anderen Welt als Ende 20-, Anfang 30-Jährige. Und wenn ich mit denen jemals über Luther noch mal reden sollte, dann wird das nur auf einem hoch indirekten Weg passieren."
Dr. Rüdiger Sachau, groß geworden in einer lutherisch geprägten Großfamilie, heute Vorsitzender der Evangelischen Akademien in Deutschland, bringt das Dilemma auf den Punkt. Mitten in der Lutherdekade und zeitlich nicht mehr weit entfernt von ihrem Höhepunkt im sogenannten Jahr 2017 diskutieren die Protagonisten des großen Erinnerns immer noch über das Wie und Wozu des Ganzen.
Dass Luther und seine Weggefährten, etwa der Franzose Johannes Calvin oder der Schweizer Ulrich Zwingli, mit der Reformation bis in die Politik und Rechtssprechung der europäischen Gegenwart wirken, steht - wie die Tagung über Reformation und Politik zeigt - außer Frage.
Spannend liest sich die Geschichte des Wittenberger Mönches und Theologieprofessors allemal: Ein Nonkonformist, der im Jahr 1517 mit 95 Thesen gegen den Ablasshandel der römisch-katholischen Kirche vorgeht, die Bannandrohungsbulle des Papstes verbrennt und auch gegenüber Kaiser Karl V. seine Schriften nicht widerruft, der sich auf der Wartburg versteckt und die Bibel ins Deutsche übersetzt. Dennoch hakt es mit dem Erinnern, stellt Dr. Michael Inacker fest, Vorsitzender der Internationalen Martin-Luther-Stiftung.
"Wir sind sprachlos geworden, was die Kommunikation von Luther und Reformation angeht. Wenn Sie zu Recht sagen, Sie haben als Jugendlicher einen Film gesehen, der sich fest geprägt hat, dann sehen wir ja schon, dass all die Worte, die von den Kanzeln gekommen sind und die von unserer Kirche gekommen sind, dass die nicht gefruchtet haben. Sondern es haben Dinge gefruchtet, die das Leben Luthers plastisch gemacht haben."
An Kongressen, Tagungen und Sonderausstellungen zu 500 Jahren Reformation herrscht kein Mangel, stellt Stefan Zowislo fest. Wie aber schafft man populäre Formate, die breite Teile der Bevölkerung erreichen, fragt der Geschäftsführer der staatlichen Geschäftsstelle "Luther 2017". - Eine berechtigte Frage, lauschte doch auf dieser Tagung ein überschaubarer Zuhörerkreis den historischen Details und dem abgehobenen Fachdiskurs.
Der Politologe kritisiert, dass auch das kommende Themenjahr 2015 nicht mit einem flotteren Titel daher kommt, sondern Ende Oktober unter der Bezeichnung "Reformation - Bild und Bibel" eröffnet wird. "Wenn wir über Vermittlung und auch das Erreichen auch der Kinder reden wollen, was wäre das für ein Zeichen gewesen, wir würden nicht über Bild und Bibel reden in '15 - wichtige Themen - sondern über das, was heute in der säkularen Gesellschaft brutal ankommt: die Veränderung der Mediengewohnheiten. Reformation und Medien. Ich werde nicht müde werden, es wird nächstes Jahr ja viele Veranstaltungen geben, das immer wieder zu sagen: Dass wir jetzt Bild und Bibel haben, wo Reformation und Medien gut stehen könnte."
Mit einer weniger religiösen Sprache könnten auch andere als die kirchennahen Zielgruppen erreicht werden, darin zeigte sich das Podium einig. Umstritten war dagegen, was über 500 Jahre Reformation erzählt werden soll. Wie viel Luther soll es sein? Der evangelische Theologe Rüdiger Sachau sieht seine Aufgabe nicht darin, den Menschen heute Luther zu verkaufen und ihnen möglichst viele Kenntnisse über die Reformation zu vermitteln. Vielmehr ließen sich bei Luther geistliche, theologisch begründete Antworten finden für die Fragen der heutigen Zeit. Ein Beispiel: Der Reformator sei ein Mann der Angst gewesen.
"Er hat sich mit seinen Ängsten auseinandergesetzt. Angst um sein Seelenheil und so weiter - wir wissen das alles. Aber ich finde, spannend ist erst mal, mit Angst können wir modernen Menschen durchaus was anfangen. Bude hat gerade ein Buch herausgegeben über die Gesellschaft der Angst. Das Schattenthema der Moderne ist die Angst."
Dagegen hält der Politologe und Historiker Michael Inacker die Person Luthers im Gedenken für zentral und plädiert dafür, "dass wir Luther ganz weit nach vorne schieben müssen. Also eine evangelische Kirche ohne Luther (auch ohne Calvin und ein paar andere), wäre für mich nicht denkbar. Das Problem ist eben, dass dieser Luther so ungeheuer sperrig ist, und dass wir dann dazu neigen, da wo Personen sperrig sind, am liebsten Dinge dann wegzustecken, ihn abzuschließen. Dann gibt es ein paar zeitgebundene unkluge Äußerungen über die Juden. Und da lassen wir uns auch alle immer direkt verschrecken durch die neueste Studie, dass Luther Antisemit ist."
Einen Rat von außen gibt der Direktor der Katholischen Akademie in Berlin, Joachim Hake. Während bei einer Papstmesse die Kirchen aus allen Nähten platzen, sei der protestantische Anspruch falsch, mit einer Luther-Tagung den Saal füllen zu wollen. Der Theologe empfiehlt daher, mit Neugier den Kirchen-, Schul- und Bildungsreformator zu entdecken und dazu möglichst unterschiedliche Meinungen einzuholen. Zentral aber sei, dass die Luther-Dekade lerne, zu erzählen.
"Ich finde, und das sage ich jetzt als Katholik, Sie sollten als Protestanten auch ein Überlegenheitsgefühl für die Feier zulassen. Wenn Sie sich nicht wirklich darüber freuen und darin auch ein Überlegenheitsgefühl haben, dann wird's schief. Die Größe und Verlorenheit Luthers so deutlich zu machen, dass eine Freude spürbar wird, die nichts falsch Sportliches hat."
Die Gedenkveranstalter geben Joachim Hake recht. Die Wartburg hat eine neue Stützmauer, und über der Lutherstadt Wittenberg kreisen noch die Kräne. Kurz vor dem Jubiläum müsse weniger in Steine und mehr in eine gute Stimmung investiert werden. Was könnte nach dem 31.10.2017 vom großen Erinnern bleiben? Michael Inacker: "Ich hoffe, es gelingt uns, diesen etwas angestaubten Menschen, der da auf dem Podest steht, am besten runterzuholen und dass die Menschen ihn weniger angstvoll und distanziert betrachten, sondern in einen Dialog eintreten, ihm Fragen stellen, damit der Kirche Fragen stellen. Und wir es schaffen, Luther in einer Sprache zu vermitteln, die es möglich macht, dass sowohl die kirchenfernen wie die kirchennahen wie die Muslime wie auch Juden in Deutschland in ihm nicht diesen protestantischen Übervater sehen, sondern einen Mensch, der uns auch heute noch viel zu sagen hat."