Sind Denken und Erkenntnis heute ein Ergebnis der globalen Vernetzung maschineller Rechenleistungen? Spielt dabei die geistige Leistung des einzelnen Menschen womöglich nur eine Nebenrolle? Im digitalen Zeitalter muss das Verständnis von Geist und Erkennen neu bestimmt werden. Dabei sind die Auffassungen vom menschlichen Gehirn und Geist als Quelle von Sinn und Erkenntnis kulturell äußerst unterschiedlich geprägt - so der Tenor des Symposiums der Neuen Gesellschaft für Bildende Künste über das "soziale Gehirn". Der italienische Philosoph Matteo Pasquinelli bezeichnet das Internet als "neues Nervensystem der Welt". Nicht nur wirtschaftliche Trends, auch politische Bewegungen oder staatliche Sicherheitsstrategien unterlägen einer "anthropologischen Wende", so Pasquinelli:
"Nehmen sie Google oder Facebook als die Hauptakteure in der digitalen Ökonomie heute. Die interessieren sich nicht für das Verhalten eines Individuums, sondern für die statistischen Ergebnisse des kollektiven Verhaltens. Wenn sie einen kollektiven Trend identifiziert haben, können sie Werbekampagnen planen, aber auch zukünftiges Verhalten der Massen und politische Entwicklungen voraussagen. Regierungen und vor allem Geheimdienste interessieren sich immer weniger für Individuen, sondern eher für Voraussagen über das so genannte 'soziale Gehirn'. Wir sind am Übergang von der Gesellschaft der Netzwerke zur Gesellschaft der Metadaten."
Die maschinelle Vernetzung menschlicher Denkprozesse schaffe zudem neue Realitäten und Konflikte, meint Pasquinelli. Das habe sich nicht nur bei der Organisation des Arabischen Frühlings über soziale Netzwerke gezeigt. Auch die Entdeckung der Klimaerwärmung basiere nicht auf der Denkleistung eines Einzelnen.
"Erst mit Computern, mit denen sie Daten anhäufen und über mathematische Rechenmodelle aufbereiten können, kommt man zu dem Punkt, wo man sagen kann: Tatsächlich global gesehen verändert sich die Temperatur. Das funktioniert aber nur, wenn sie ein globales technologisches und institutionelles Netzwerk zur Verfügung haben, globale Erklärungsmodelle. Darum geht es, wenn wir über die Konstruktion von Realitäten sprechen, die sich globaler Technologien und mathematischer Rechenmodelle bedient."
Kollektive menschliche Intelligenz
Die kollektive menschliche Intelligenz verwandelt und verästelt sich. Gedanken werden zu Wörtern, Wörter zu Zeichen, Zeichen zu Daten, Daten zu Mustern, Muster zu Trends und Trends schließlich zu Maschinenintelligenz - so Pasquinellis Theorie. Die Beschaffenheit des kollektiven Geistes ist dabei nicht erst seit der digitalen Revolution Untersuchungsgegenstand von Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen. Für den indischen Soziologen Benjamin Zacharias ist der Begriff des Geistes, des Gehirns als sinnstiftendes menschliches Organ, ein künstliches Produkt der Zivilisation. Er ist überzeugt davon:
"Dass es keine bestimmten Strukturen gibt, die als Gehirn oder Geist funktionieren, es ist ein Konstrukt. Es ist auch eine gefährliche Idee, dass wir kollektiv denken. Ich glaube, dass es eher ideologisch gedacht ist, dass wir "etwas zusammen glauben". Individuen glauben das nicht, obwohl sie manchmal sagen müssen, dass sie es glauben. Ein kollektives Gedächtnis ist das Gedächtnis von keinem. Es ist, wie soziale Kollektive funktionieren müssen. Als Legitimation ist es wichtig, zu sagen, dass wir alle kollektiv an irgendetwas glauben."
Die Vorstellung vom kollektiven Gehirn ist für den Soziologen Zacharias vor allem ein Mittel der Einigung und Lenkung von menschlichen Gemeinschaften. Dahinter steht der Ur-Instinkt, einer Gruppe angehören zu wollen, oder, wie Zacharias sagt, "eine Angst vor der Freiheit. Dass man ganz allein denken könnte, das scheint gefährlich zu sein. Dann ist man allein und ohne Unterstützung. Das ist ein Anfang vom Faschismus, wenn jemand bereit ist, seine oder ihre eigene Freiheit nicht selber zu benutzen, sondern jemandem anderes zu geben."
In einer fremden Gesellschaft
Wie eine Gesellschaft funktioniert, die nur aus eigenbrötlerischen Freigeistern besteht, die ihr Denken nicht mit anderen vernetzen, steht auf einem anderen Blatt. Die Vorstellungen von dem, was "Geist" eigentlich bedeutet, vom Gehirn als einzigem "Denkorgan", aber auch der Begriff davon, welches Denken als "gesund" und "normal" gilt, unterliegen kulturell und individuell verschieden geprägten Weltvorstellungen. Der Frankfurter Psychiater Eben Louw beschäftigt sich mit der psychisch-mentalen Sondersituation von Migranten in einer fremden Gesellschaft. Er spricht vom "institutionalisierten Rassismus" in den psychiatrischen Pathologien der westlichen Wissenschaft.
"Die Instrumente, die wir für bestimmte psychologische und psychiatrische Phänomene haben, wie ein Intelligenztest zum Beispiel, die sind natürlich nicht angepasst an die migrantische Bevölkerung. Im besten Fall wird noch übersetzt, aber es wird nicht angepasst. Es kann sein, dass Menschen dann als krank klassifiziert werden, die nicht krank sind, weil kulturelle Unterschiede, Demarkationserlebnisse, nicht mitberechnet wurden. Und das an sich wirkt dann diskriminierend auf diese Menschen."
Louw verwies auf eine aktuelle Studie aus Großbritannien. Sie besagt, dass unter den Einwanderern aus dem Karibikraum eine deutlich erhöhte Anzahl an Fällen von Schizophrenie diagnostiziert wurde. Die auffällige Häufung ähnlicher Krankheitsbilder in einer soziokulturellen Gruppe lege nahe, die Untersuchungsmethoden infrage zu stellen, denn das kulturelle Umfeld bestimmt, wann Denken und kognitive Erkenntnis als realitätsbezogen oder als bloße Fantasie des Gehirns gelten. Dass unterschiedliche Kulturkreise verschiedene Vorstellungen vom denkenden Gesamtkonzept Mensch haben, legte auf der Berliner Tagung der südafrikanische Philosoph Edwin Etieyibo dar. Unlängst habe das höchste Zivilgericht in Johannesburg alternative, in der westlichen Wissenschaft verpönte Behandlungsmethoden bei psychiatrischen Erkrankungen als solche anerkannt.
"Wenn jemand davon überzeugt ist, dass Vorfahren ihn mit einem Fluch belegt haben, sollte man diese Ansicht ernst nehmen. Medizinisch-wissenschaftliche Untersuchungen in Südafrika haben den Zusammenhang zwischen ärztlichen Behandlungserfolgen und dem persönlichen Glauben des Patienten bewiesen. Der Patient ist davon überzeugt, dass er – egal bei welcher Behandlung - nicht geheilt ist, solange er nicht bei einem traditionellen Heiler war. Dieser Placebo-Effekt hat direkte Auswirkungen auf die chemischen Abläufe im Körper und Gehirn des Patienten."
Das thematisch breit angelegte Berliner Symposium über das soziale Gehirn gab unterschiedliche Denkanstöße. Am konkretesten wurde das Nachdenken über Geist und Gehirn im Blick auf die digitale Revolution: Die Bedeutung individueller Erkenntnisse als Denkleistung eines einzelnen Gehirns wird in der vernetzten, globalen Informationsgesellschaft zusehends relativiert.