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Tagung zu politischem Protest
Protestieren ist anerkannter

Demonstrationen, Kampagnen, Online-Petitionen: Protest scheint in den vergangenen Jahren einerseits globaler, andererseits weiter in die Mitte der Gesellschaft gerückt zu sein. Das war auch das Thema der Hamburger Tagung "Auf die Straße! Politischer Protest in Deutschland".

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger    |
Zwei bis Dreihundert Schüler bei einer "Fridays for Future"-Demonstration auf dem Operplatz in Hannover.
Die Fridays for Future-Bewegung unter Greta Thunberg mobilisiert allein in Deutschland zehntausende Schülerinnen und Schüler (Geisler-Fotopress/picture alliance)
"Dass wir selbst Forschungsgegenstand werden inzwischen und dass wir auf die eigene Geschichte gucken können, finde ich wirklich imponierend. Als wir vor fast 40 Jahren einen Platz besetzt haben in Gorleben und dieses legendäre Hüttendorf errichtet hatten – 1004, die Freie Republik Wendland – gab es da freilaufende Hühner, wir hatten da eine Solaranlage und eine Windanlage und wurden belächelt, verspottet als Ökospinner und nachher im Widerstand waren wir Chaoten und dreckiges Pack."
Protest hat in Deutschland viele Namen. Der Widerstand gegen Atomkraft ist – wie in diesem Fall – eng mit Gorleben verbunden, der gegen große Infrastrukturprojekte mit der Frankfurter Startbahn West oder Stuttgart 21.
Längst ist er zum selbstverständlichen Teil der politischen Kultur geworden, wie der Austausch von alten und jungen Aktivisten mit Polizei, Verwaltungsbeamten und Wissenschaftlern auf der Tagung in Hamburg zeigt. Prof. Dieter Rucht vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin:
"Proteste in den 50er Jahren galten vor allem in der herrschenden dominanten Wahrnehmung als Proteste von Querteibern, Querulanten oder Proteste gesteuert von Moskau. Heute ist das Bild anders geworden, es ist aber immer noch ein gemischtes Bild wohl gemerkt. Wenn man sieht, welchen Rückhalt Fridays for Future heute genießt, auch ein Wohlwollen in der Berichterstattung bei den Medien, die Wissenschaftler, die sich anschließen, die Verbände, einzelne Unternehmer, die alles das beklatschen."
Bürger sind selbstbewusster und offensiver geworden
Auch die Protestforschung ist aus ihrer Nische getreten, galten sie und Protestforscher wie Dieter Rucht doch lange Zeit als exotisch. Ihr Befund: Die Formen von Kritik und Widerspruch haben sich stark verändert – weg von der wenig aufregenden Massenkundgebung mit vielen Reden hin zu einem bunten, kreativen Protestgeschehen mit Sternmarsch, Kulturprogramm und Unterschriftensammlung.
Die Bürger, stellt der Soziologe fest, sind selbstbewusster und offensiver geworden. Sie wollen kontrollieren und verlangen Begründungen für eine politische Entscheidung. Ohne Protest keine demokratische Entwicklung, keine Abschaffung der Zensur, kein Acht-Stunden-Tag:
"Und meine These ist, nichts davon hätten wir ohne Protest und ohne den Druck von unten. Das ist nicht einfach gewährt worden aus Einsicht, sondern es ist erzwungen worden, es ist erkämpft worden. Daraus erwächst uns, und das ist jetzt eine politische Botschaft, eine Verpflichtung, dieses Erbe nicht zu missachten, sondern weiterzuführen."
Den häufigen Vorwurf, Demonstranten und Streikende würden nur "nein" sagen und "dagegen" sein, hält Dieter Rucht für falsch. Wenn nicht-staatliche Akteure kollektiv-öffentlich protestieren, so seine Definition, bringen sie nicht nur Kritik zum Ausdruck, sondern formulieren zugleich ein gesellschaftliches oder politisches Ziel.
Protestierende gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf halten am 18. Mai 1986 Banner hoch. 
Protest gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf im Mai 1986 (picture alliance/AP Images/ Horst Schaefer)
Der Zeithistoriker Philipp Gassert widerspricht. Protest sei weniger der Motor als vielmehr der Resonanzraum und Ausdruck sozialen Wandels, so der Professor von der Universität Mannheim. Dass die Menschen zum Beispiel Ende der 50er Jahre und dann erst wieder Anfang der 80er gegen die nukleare Bedrohung demonstrierten, sich zwischendurch aber mehr für Frauenrechte und Umweltschutz einsetzten, hängt für ihn vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext ab.
"Protest reagiert immer auf den gesellschaftlichen Kontext, auf den historischen Kontext. Und wenn wir die jüngsten Klimaproteste uns anschauen, dann ist jetzt eben der Kontext so, dass das Thema durchdringen kann. Und hinzu kommen individuelle Faktoren, dass jemand wie Greta Thunberg auftaucht, die sowas wie eine Ikone, wie ein Symbol einer Bewegung werden kann, die Orientierung und Identifikationsmerkmal einer solchen Bewegung ist."
Umgekehrt wird die Wahrnehmung und zugleich der Erfolg eines Protests auch dadurch bestimmt, welches Bild eine Gesellschaft von sich zeichnet – oder im Nachhinein tranportiert. So habe die Währungsreform im Jahr '48 zu einer riesigen Mobilisierung geführt. Diese sei ebenso aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt worden wie Proteste gegen die Alliierten und eine Vielzahl antisemitischer Demonstrationen der späten 40er Jahre – passten sie doch nicht ins Bild der neuen Bundesrepublik.
In den Wohnzimmern des Landes
Die meisten Proteste scheitern, stellten die Experten fest. Doch die 68er schafften es als kleinste der großen Protestbewegungen über das damals neue Medium Fernsehen in alle Wohnzimmer des Landes. Philipp Gassert plädiert dafür, auch den revolutionären Akt in der DDR 1989 stärker als Teil der bundesdeutschen Protestgeschichte zu sehen.
"Also die Erfahrung der Menschen, die bei der Montagsdemonstration in Leipzig waren, sind solche, dass Protest wirklich in den Lauf der Geschichte eingreifen kann. Und diese Erfahrungen sind grundsätzlich andere als die, die Menschen im Westen mit Protestbewegungen gemacht haben, die (…) wissen, dass wir nicht sofort die Uhr einfach umstellen können, sondern dass Protest eher indirekt, eher langfristig wirkt."
Inwiefern die neuen Medien politischem Protest zum Erfolg verhelfen, ist kaum erforscht. Die Möglichkeit, per Mausklick abzustimmen, macht diesen jederzeit an jedem Ort möglich. Die Politik- und Medienwissenschaftlerin Lisa Villioth untersucht an der Uni Siegen das Zusammenspiel von Straßenprotest und Netz-Aktivismus. Sie hat 18 Aktivisten nach ihren Motiven befragt, online oder offline zu protestieren – und festgestellt, dass es ohne die Straße nicht geht.
Die Schwedin Greta Thunberg beim "Fridays for Future"-Klimaprotest in Rom.
Die Schwedin Greta Thunberg beim "Fridays for Future"-Klimaprotest in Rom (AP/Alessandra Tarantino)
"Das Gefühl von Zusammenhalt und Gemeinschaft, dass ich Gleichgesinnte treffe, dass ich mich meiner eigenen Werte vergewissere. Also ich komme auf der Straße bei großen Demos wie zum Beispiel der 'Wir haben es satt'-Demo einfach mit Leuten zusammen, die genauso ticken wie ich, die für die gleiche Sache auf die Straße gehen. Und so haben das auch Interviewpartner - und partnerinnen von mir berichtet, die gesagt haben, dass sie da vor Ort gemerkt haben, sie sind nicht der einzige Spinner – so ungefähr. Man sieht: Es gibt noch Leute, die gehen für das gleiche – und das ist auf der Straße doch anders als im Netz."
Noch sind viele Fragen zu Protest und seiner Wirkung ungelöst. Wie umgehen mit seiner hässlichen Seite, der Verlagerung gewalttätiger Demonstrationen ins rechte Lager seit Beginn der 90er Jahre? Wie die eskalierende Gewalt auf dem G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 verhindern? Wie lassen sich aber auch die Bürger und Bürgerinnen beim Bau einer Stromtrasse oder bei der aktuellen Suche nach einem Endlager für Atommüll frühzeitig beteiligen?
Droht umgekehrt die breite gesellschaftliche Akzeptanz von Fridays for Future diese Bewegung nicht zu ersticken? Denn nach wie vor, so Dieter Rucht, finden große Teile der Bevölkerung Protest nur auf abstrakter Ebene ganz gut,...
"...die aber, sobald es an die Grenze von Regelverletzungen geht, kalte Füße bekommen. Die dann auch dem Missverständnis aufsitzen, dass Formen zivilen Ungehorsams die Vorstufe zur Gewalt seien. Und wir haben eine ganz aktuelle Diskussion, ich komme jetzt nochmal auf Fridays for future, da wird jetzt schon so ein bisschen Stimmung gemacht wo gesagt wird, linksradikale Gruppen sind dabei, Fridays for Future zu unterwandern."