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Taiwanesische Inselgruppe Kinmen
Kuriosum der Weltgeschichte

Zu Taiwan gehört auch Kinmen, eine winzige Inselgruppe direkt vor dem chinesischen Festland. Nach jahrzehntelanger Isolation als militärisches Sperrgebiet ist Kinmen seit einigen Jahren auch wieder touristisch zugänglich.

Von Jürgen Hanefeld |
    Bildnummer: 58481960 Datum: 17.09.2012 Copyright: imago/Xinhua (120917) -- KINMEN, Sept. 17, 2012 (Xinhua) -- Photo taken on Sept. 17, 2012 shows an ancient house at Shuitou Village in Kinmen, southeast China s Taiwan. Over 500 ancient houses, which dated back to hundreds of years, now still could be seen in Kinmen, with construction styles similar to those in south Fujian Province across the Taiwan Strait. A total of 61 ancient houses have been refitted into guest houses, attracting many tourists every year.(Xinhua/Yin Bogu) (ry) CHINA-KINMEN-ANCIENT HOUSES (CN) PUBLICATIONxNOTxINxCHN Gesellschaft Historie Dorf Siedlung Gebäude x0x xmb 2012 quer 58481960 Date 17 09 2012 Copyright Imago XINHUA Of Kinmen Sept 17 2012 XINHUA Photo Taken ON Sept 17 2012 Shows to Ancient House AT Village in Of Kinmen South East China S TAIWAN Over 500 Ancient Houses Which dated Back to hundreds of Years Now quiet Could Be Lakes in Of Kinmen With Construction Styles Similar to Those in South Fujian Province across The TAIWAN Strait a total of 61 Ancient Houses have been into Guest Houses Attracting MANY tourists Every Year XINHUA Yin Bogu Ry China Of Kinmen Ancient Houses CN PUBLICATIONxNOTxINxCHN Society History Village Settlement Building x0x 2012 horizontal
    Nicht nur in den alten Gebäuden Kinmens steckt Geschichte (imago / Xinhua )
    Vom Winde verweht ist der süßliche Gesang von Teresa Teng. Doch auf Kinmen bleibt die früh verstorbene Künstlerin auf ewig unvergessen. Als emsige und bildhübsche Truppenbetreuerin hob sie die Moral der taiwanischen Soldaten gerade hier, so nah am chinesischen Festland.
    Noch heute quillt ihre Stimme regelmäßig aus den 48 gewaltigen Lautsprechern am Kliff von Beishan. Eingebaut sind sie in einen monströsen Betonklotz, drei Stockwerke hoch, der nur einen einzigen Zweck hatte: Propaganda gegen die Kommunisten "da drüben".
    An der engsten Stelle ist Kinmen nicht einmal zwei Kilometer von China entfernt. Die Schallwellen der "Beishan Broadcast Station" trugen die Stimme der in ganz Asien beliebten Sängerin 25 Kilometer tief ins Feindesland.
    Teresa Teng machte nicht nur Musik, in langen Reden gab sie ihrer Hoffnung Ausdruck, die Volksrepublik möge bald demokratisch werden. Zu einer Zeit übrigens, als Taiwan selbst noch eine Diktatur war.
    Allenfalls touristische Bedeutung
    Inzwischen ist die Beschallung auf Zimmerlautstärke herunter gedreht. Eine Touristenattraktion wie die meisten militärischen Anlagen auf Taiwans Außenposten, sagt der stellvertretende Insel-Chef Wu Cherng-Dean:
    "Es sind ja nur noch etwa 7000 Soldaten auf Kinmen. Mit wenigen Ausnahmen haben die altenVerteidigungsstellungen allenfalls touristische Bedeutung. Wir wollen keinen Krieg mehr. Wir haben auch alle Minen am Strand ausgegraben und hoffen auf eine friedliche Zukunft."
    Kinmen ist ein Kuriosum. Bei Sonnenuntergang flanieren Liebespaare am Strand entlang. Sie blicken auf die imposante Hochhauskulisse jenseits des Meeres. Xiamen heißt die Zwei-Millionen-Metropole da drüben, in China. Im Gegenlicht erscheint der Himmel orangerot, im Vordergrund die Silhouette ausrangierter Panzer, deren Kanonen aufs Festland zielen. Kinmens Strand ist gespickt mit Abertausenden von schräg in den Boden gerammten Spießen aus rostigem Stahl. Sie sollten die erwartete Landung der feindlichen Truppen ver- oder zumindest behindern.
    Mehrmals wagten Maos Truppen in den 50er-Jahren solche Manöver. Bis in die 70er-Jahre wurde Kinmen immer wieder bombardiert. Eine Million Granaten gingen auf das Inselchen nieder, mit 153 Quadratkilometer kleiner als Fehmarn. 2.500 Zivilisten und Soldaten kamen ums Leben. In den Hirsefeldern sind die Fundorte ihrer Leichen durch Stöckchen gekennzeichnet, auf denen Plastikflaschen stecken. An jeder zweiten Straßenkreuzung ist General Chiang Kai-shek verewigt. Bis 1992 galt auf Kinmen noch Kriegsrecht, Brieftauben waren verboten und helle Kleidung. Die Insulaner lebten wie Maulwürfe, ihre Dörfer waren komplett untertunnelt. In Qionglin kann man einige dieser engen Passagen durchstreifen. Einer der Zugänge liegt im Rathaus, wo Rentner ein paar Cent Eintritt nehmen. Der 90-jährige Herr Tsai erinnert sich:
    "Wir waren ausgerüstet wie Soldaten. Wir hatten Waffen, Maschinenpistolen, Revolver und Uniformen. Tagsüber haben wir auf dem Feld gearbeitet oder Fische gefangen, und nachts sind wir Patrouille gegangen. Im Versteck hätten wir einen halben oder ganzen Tag überleben können."
    Nicht nur unterirdische Attraktionen
    Ein anderer alter Herr, der auch Tsai heißt, erklärt: "Die Tunnel sollten groß genug sein, damit sich die gesamte Bevölkerung verstecken konnte. Aber als sie endlich fertig waren, gab es gar keine Invasionsgefahr mehr. Deshalb wurden unsere Tunnel nie benutzt."
    Qionglin birgt aber nicht nur unterirdische Attraktionen. Erst vor kurzem hat man sich darauf besonnen, dass der Besuch von ausgedienten Militäranlagen auf Dauer nicht ausreicht, um Touristen anzuziehen. Vor allem keine jüngeren oder Familien. Wegen der jahrzehntelangen Bedrohung wurde wenig Neues gebaut. Jetzt ein Vorteil für Kinmen. Alte Bauernhäuser, die am Festland längst dem Fortschritt zum Opfer gefallen sind, stehen hier noch, wenn auch meist in beklagenswertem Zustand. In Qionglin, und nicht nur dort, hat man begonnen, die zum Teil prächtigen Hofgebäude aufwändig zu restaurieren und als Pensionen für Touristen zu betreiben.
    "Wir sprechen von der Minan-Kultur, sagt Herr Wu, Häuser, die im 19. Jahrhundert gebaut und üppig verziert wurden. Ihre geschwungen Dächer nennt man "Schwalben-Schwänze". Viele haben bunte Friese mit Motiven aus dem Taoismus. Davon werden zur Zeit etliche restauriert."
    Dazu kommen kleine Paläste der Händler, die vor hundert Jahren in Indonesien und Malaya reich geworden waren und dann in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Kinmen ist wie eine Zeitkapsel, eine verschüttete Schmuckschatulle. Man muss nur graben. Dabei hilft der Staat bei der Restaurierung, in dem er selbst alle Kosten übernimmt und den Eigentümern in einer Art Erbpacht erlaubt, hundert Jahre im instand gesetzten Haus zu wohnen.
    "Tee-Häuser" für Soldaten
    Mit überraschender Unbefangenheit wurden auch Kriegsbordelle restauriert. Vornehm als "Tee-Häuser" für Soldaten getarnt, arbeiteten hier Prostituierte aus dem Rotlichtbezirk von Taipeh im Schichtdienst zu festgelegten Tarifen. Die Armee-Führung wollte damit vermeiden, dass sich Soldaten an Dorfmädchen vergingen - was trotzdem vorkam. Immerhin waren in Krisenzeiten bis zu 50.000 Soldaten auf Kinmen stationiert. Manch einer, so suggeriert dieser Film, verliebte sich in ein Freudenmädchen - was natürlich auch nicht erlaubt war.
    Beinahe trotzig sagt eine Besucherin: "Ich bin sehr bewegt. Und ich bin stolz auf die taiwanischen Soldaten."
    Die Insel ist von grau-grünen Betonblasen und Wachtürmchen übersät, von Bunkern und Tunneln unterminiert. Besonders spektakulär: Eine in den Fels gesprengte, 357 Meter lange Höhle mit Zugang zum Meer, in der Landungsboote versteckt wurden. Ein Reiseleiter sagt:
    "Touristen aus Taiwan wollen Kriegsrelikte sehen. Viele waren selbst als junge Soldaten hier, jetzt wollen sie ihren Frauen und Kindern zeigen, wie das war. Es ist ja jetzt alles Geschichte. Nicht nur, weil sich die Lage mit China entspannt hat, sondern weil moderne Kriege anders geführt werden. Für die Verteidigung Taiwans spielt Kinmen heute keine Rolle mehr.
    Nützliches aus Granaten
    Einer, der die Brücke schlägt zwischen damals und heute, ist Maestro Wu. Das jedenfalls ist sein Künstlername, der ihn von den anderen Wus abhebt. Maestro Wu ist ein inselweit bekannter Schmied, der aus den ausgegrabenen Granaten etwas Nützliches macht.
    "Ursprünglich haben wir Messer für Profis gemacht, also für Köche und Markthändler. Inzwischen hat sich das Sortiment erweitert, wir machen auch westliche Messer, Outdoormesser, Obstmesser, was Sie wollen."
    Im Schnitt sechs Messer pro Granathülse, sagt Maestro Wu.
    "Die Qualität ist ziemlich gut, denn der Stahl der Granaten ist aus Russland gekommen, aus der Sowjetunion."
    Bildnummer: 59077004 Datum: 14.01.2013 Copyright: imago/Xinhua (130114) -- KINMEN, Jan. 14, 2013 (Xinhua) -- Wu Tzeng-dong cuts an artillery shell in Maestro Wu s Steel Knife Factory that Wu s grandfather founded in 1937 and passed down to him in Kinmen, southeast China s Taiwan, Jan. 14, 2013. The factory is famed for making Kinmen knife , which is a series of kitchen knives and household cutlery made from abandoned artillery shells. (Xinhua/Xing Guangli) (zn) CHINA-TAIWAN-KINMEN-KNIFE MAKING (CN) PUBLICATIONxNOTxINxCHN Wirtschaft Produktion Messer Stahlmesser x0x xac 2013 quer 59077004 Date 14 01 2013 Copyright Imago XINHUA Of Kinmen Jan 14 2013 XINHUA Wu Dong cuts to Artillery Shell in Maestro Wu S Steel Knife Factory Thatcher Wu S Grandfather Founded in 1937 and passed Down to HIM in Of Kinmen South East China S TAIWAN Jan 14 2013 The Factory IS famed for Making Of Kinmen Knife Which IS a Series of Kitchen knives and House cutlery Made from Abandoned Artillery Shells XINHUA Xing Guangli Zn China TAIWAN Of Kinmen Knife Making CN PUBLICATIONxNOTxINxCHN Economy Production Knife x0x 2013 horizontal
    Maestro Wu bei der Arbeit (imago / Xinhua )
    Wobei es Unterschiede gibt. Die besten sind die sogenannten Propaganda-Granaten. Die hatten nur wenig Schwarzpulver im Bauch aber haufenweise Flugblätter, die sich beim Aufschlag des Geschosses verteilen sollten. Die Stahl-Mäntel sind unzerstört, sagt der Meister. Bei einer Million Granaten, die auf Kinmen niedergingen, wird das Material vorerst nicht knapp. Auch, wenn die Nachfrage steigt:
    "Ursprünglich waren das Souvenirs für Taiwaner, aber jetzt, wo sehr viele Chinesen hierher kommen, die auch Geld haben, verkaufen wir viele Messer an Touristen vom Festland. Die verbinden auch noch einen historischen Wert damit. Früher diente der Stahl dem Krieg, heute werden die Messer für friedliche Zwecke benutzt."
    Witze und Rabatt
    Tatsächlich wimmelt es in seinem Laden vor Chinesen. Einige machen Witze: Sie wollten Rabatt, schließlich hätten sie doch das Material rüber geschossen! Es ist ein gutes Geschäft, nicht nur moralisch, sondern auch kommerziell, sagt der andere Herr Wu, der von der Inselverwaltung:
    "Kinmen hat ja nur zwei Einnahmequellen: Tourismus und Hirseschnaps. Für beides sind die Chinesen entscheidend."
    Er lacht, aber er meint es auch ernst.
    "In vieler Hinsicht sind wir hier auf Kinmen der Küstenbevölkerung Chinas ähnlicher als den Leuten auf Taiwan. Ich habe eine Tante in Xiamen. Wir sprechen denselben Dialekt, haben dieselben Sitten und Gebräuche. Und auf Dauer sind Blutsbande eben stärker als politische Loyalitäten."
    Will Kinmen etwa das freiwillig vollziehen, wogegen es sich jahrzehntelang mit Waffen gewehrt hat? Den Anschluss an China? Herr Wu zögert. Tatsächlich pendeln heute pro Jahr 1,75 Millionen Menschen über Kinmen zwischen China und Taiwan hin und her, darunter 300.000 Touristen. Selbst für Nicht-Chinesen ist es kein Problem, im kleinen Grenzverkehr zwischen den offiziell verfeindeten Staaten zu reisen - Visum vorausgesetzt. Auch Kinmen floriert. Seine Einwohnerzahl hat sich binnen zehn Jahren von 80.000 auf 130.000 gesteigert. Die meisten sind Geschäftsleute, die von der Nähe zur Volksrepublik profitieren. Weil in Taipeh zur Zeit eine China-kritische Regierung am Ruder ist, sei der Aufschwung gefährdet, warnt Wu Cherng-Dean:
    "Wir wollen uns nicht von Taiwan trennen, denn Demokratie ist wichtig. Auf der anderen Seite vollzieht sich in China ein großer Wandel. Wir hätten kein Problem damit, den Status von Hongkong zu übernehmen: ein Land, zwei Systeme. Wirtschaftlich hängen wir ja sowieso mehr von Xiamen ab als von Taipeh. Und wie gesagt: Nur die Festland-Chinesen trinken unseren Schnaps!"