Friedrich, der Ich-Erzähler in Würgers Roman, stammt aus Verhältnissen, in denen man nicht über Geld, sondern nur über Herkunft redet. Geboren im Jahr 1922, aufgewachsen in einer herrschaftlichen Villa am Genfer See, mangelt es ihm nicht an materiellem Wohlstand, wohl aber an emotionaler Zuwendung.
Der Vater leitet eine Firma, die Stoffe aus Italien importiert; die Mutter ist die Tochter eines deutschen Großgrundbesitzers. Schon der hatte zu viel getrunken; die Mutter tut es ihm nach. Noch dazu ist sie schon lange vor Hitlers Machtergreifung eine überzeugte Antisemitin.
In diesem Klima aus Großbourgeoisie und Menschenverachtung wächst Friedrich auf. Im Alter von acht Jahren hat er ein einschneidendes Erlebnis: Nachdem Friedrich im Spaß einen Schneeball auf einen Kutscher geworfen hat, schlägt dieser ihn brutal nieder. Die Folge: Eine Narbe entstellt Friedrichs Gesicht, darüber hinaus verliert er die Fähigkeit, Farben zu sehen.
Ende des Jahres 1941 fasst Friedrich den Entschluss, auf unbestimmte Zeit nach Berlin zu gehen. Er, der gefahrenlos aufgewachsene Jüngling, wittert im nationalsozialistischen Deutschland die Möglichkeit zur Bewährung im echten Leben:
"Die Deutschen waren in meinem Kopf das, was ich sein wollte. Ich hatte im Lichtspielhaus Bilder von marschierenden Soldaten gesehen. Ich wollte kein Soldat sein, aber vielleicht würde ein Teil der Stärke auf mich überspringen."
Pralinen, mit Pervitin getränkt
Ein heikler und auch ein provokanter Ansatz. Das Berlin der 1940er-Jahre als Abenteuerspielplatz. Es sind drei Stilelemente, die Würgers Roman vorantreiben: Das serielle Arrangement harter Gegensätze, ein flotter sprachlicher Sound und extravagant ausgepinselte Kulissen, die nach Bedarf hin- und hergeschoben werden.
Friedrich kommt am 2. Januar 1942 in Berlin an und mietet sich in einem Luxushotel ein. Er streunt durch die Stadt, folgt einem Impuls und landet in einer Zeichenschule. Dort lernt er die junge Kristin kennen, die als Aktmodell arbeitet. Eine Bekanntschaft, die sein Leben verändern wird.
Denn Kristin, so scheint es jedenfalls, ist eben jene leichtlebige Verkörperung von Freiheit und Boheme, nach der Friedrich sich gesehnt hat. Kristin führt ihn in verbotene Clubs mit Jazzmusik und Drogen; in seinem mondänen Hotelzimmer geht sie ein und aus; auf der Fensterbank stapelt sie die Kondomschachteln; die Pralinen, die sie verspeist, sind mit der NS-Wunderdroge Pervitin getränkt. Das Berlin der NS-Zeit erscheint bei Würger als ein verruchter Ort mit dunklen Kellergeheimnissen. Über einen geheimnisvollen Freund landet das Paar auf einer Party in einer Wannsee-Villa.
"Kristin zog mich übers Parkett durch die Räume im Erdgeschoss der Villa, bis wir das Buffet erreichten. Dort lagen aufgeschnittene hart gekochte Eier mit Forellenkaviar und dünne Scheiben Rehfleisch. Man hätte vergessen können, dass wir im Krieg lebten. Kristin lud sich Eier auf den Teller, ging auf die Terrasse und aß mit den Fingern. Sie sagte: ‚Die Männer gucken alle, aber ich will die nicht. Ich bin jetzt deine Frau.‘"
Der Verrat von schätzungsweise 300 Juden
Es ist recht schnell erkennbar, dass der Roman auf einen Wendepunkt zusteuert. "Stella" folgt einem schematischen Bauplan: Jedem Kapitel sind die zeitgeschichtlichen Ereignisse des jeweiligen Monats vorangestellt. Ein Erzählverfahren, das wohl dem in Florian Illies‘ Bestseller "1913" erprobten Prinzip folgt, nach dem sich aus einer Ansammlung von Anekdoten automatisch historische Evidenz herauskristallisiert. Ob aber die Bombardierung Bremens im Juni 1942 und die Geburt von Paul McCartney im gleichen Monat tatsächlich in einem Zusammenhang stehen, oder ob eine derartige Reihung nur ein recht alberner Autoreneinfall ist, mag offen bleiben.
Allerdings sind in den fiktionalen Text auch diverse Protokollauszüge eingefügt, die, wie das Quellenverzeichnis verrät, aus Prozessakten des Landesarchivs Berlin stammen und authentisch sind. Stets geht es um Fälle, in denen eine namentlich nicht genannte Angeschuldigte zur Verhaftung und Deportation von Juden beigetragen hat. Diese Angeschuldigte, das ahnt man schnell, ist Friedrichs Geliebte Kristin. Die junge, schöne Frau mit den blauen Augen und den blonden Locken, deren arische Abstammung niemand in Zweifel zieht, heißt in Wahrheit Stella Goldschlag und ist Jüdin.
Die Gestapo verschleppt sie und ihre Eltern, misshandelt Stella brutal und zwingt sie dazu, als so genannte Greiferin jüdische Mitbürger auszuliefern. Stella Goldschlag ist eine historisch verbürgte Figur. Ihr ehemaliger Mitschüler Peter Wyden hat 1995 bereits ein Buch veröffentlicht, das ebenfalls den Titel "Stella" trägt. Darin schildert Wyden das Wirken der Greiferin, die schätzungsweise 300 Juden verraten haben soll, nach dem Krieg zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, anschließend zum Christentum konvertierte und zur überzeugten Antisemitin wurde.
Würgers Romanheld Friedrich wiederum ahnt zwar, dass Stella in heikle Operationen verwickelt ist, doch blind vor Liebe zieht er es vor, die Hinweise zu ignorieren. Erst viele Jahre später reflektiert er auf nicht allzu hohem Niveau Stellas Person und inneren Konflikt:
"Diese Frau trug so viele Rollen in sich, das Aktmodell, die Sängerin mit der dünnen Stimme, die Schönheit in meiner Badewanne, die Büßerin, die Lügnerin, das Opfer, die Täterin. Ich weiß nicht, ob es falsch ist, einen Menschen zu verraten, um einen anderen zu retten."
Schrecken und Schmerz als bloße Behauptung
"Stella" ist ein Roman, der auf unangenehme Weise berührt. Der Verdacht, Takis Würger benutze die reale Geschichte einer NS-Täterin als Vehikel für eine zweifellos gut geschriebene, flotte Erzählung, der so viel Verruchtheit wie möglich anhaften soll, ist nicht abzuschütteln. Die Feinheiten des moralischen Konflikts, der sich dahinter auftut, opfert Würger allzu bereitwillig dem exotisch angepinselten Ambiente und der pompösen Ausstattung.
Vor allem aber erweist sich die Stella-Figur nicht deswegen als so groß, weil Würger sie so facettenreich dargestellt hätte, sondern weil sein Ich-Erzähler Friedrich in seiner großäugigen Naivität und Wahrheitsliebe neben ihr so klein erscheint. Den Menschen kommt Takis Würger in diesem Roman nicht näher; sie bleiben schrullig gezeichnete Klischees.
So ist aus dem faszinierenden Stoff und aus dem rätselhaften Charakter Stella Goldschlag, die ihre Tätigkeit auch nach der Deportation ihrer Eltern nach Auschwitz bis Kriegsende weitergeführt hat, kein gelungener Roman geworden, sondern eine Nazischnurre mit Fertigfiguren.
Die reale Stella Goldschlag stürzte sich 1994 im Alter von 72 Jahren aus dem Fenster. Der Schrecken und der Schmerz, die in dieser komplexen Geschichte stecken, bleiben bei Takis Würger bloße Behauptung.
Takis Würger: "Stella", Carl Hanser Verlag, München, 220 Seiten, 22 Euro