Schon einen Tag nach dem letzten Wettkampf seiner Karriere kümmert sich Heinrich Popow um die Zukunft der paralympischen Leichtathletik. Neben dem Jahn-Stadion betreibt er die "Running Clinic". Popow hat Menschen aus ganz Europa eingeladen, jung und erwachsen. Er möchte sie mit Prothesen vertraut machen, mit den Chancen und Hürden des Behindertensports. Neulich war er für einen Workshop in Kiel. Und merkte wieder einmal, wie groß die Hürden noch sind.
"Da habe ich ein 17-jähriges Mädchen kennengelernt, was in meinen Augen ein Toptalent wäre für den paralympischen Sport. Und was sagt man der: wohin geht die in Kiel? Du hast keine Ahnung, wo du die Leute hinschicken kannst in Deutschland. Wenn es in Leverkusen und drum herum ist, dann bist du dankbar, da haben wir komplett alles. Paar hundert Kilometer weiter bist du aufgeschmissen. Ich werde die Leute motivieren, Sport zu treiben."
Heinrich Popow ist für Bayer Leverkusen gestartet, einem Vorzeigeverein des paralympischen Sports mit etlichen Seriensiegern. Doch in anderen Regionen hätte er sich nicht so entfalten können. Das bevölkerungsreiche Bayern ist bei den Europameisterschaften nur mit einer Athletin vertreten. Es gibt dort wenige Vereine und Trainer, die Leichtathleten mit einer Behinderung an die Spitze führen können.
Auch die Stützpunkte anderer Sportarten sind bundesweit verteilt: Für Schwimmen in Berlin, Rollstuhlbasketball in Hamburg, Skisport in Freiburg. So müssen Talente entweder umziehen oder sich dem Angebot vor Ort anpassen. "Im Moment kriege ich viel von Eltern zu hören, die sagen: 'Ne, mein Kind macht keinen Behindertensport, das macht richtigen Sport'", sagt Lars Pickardt. Der Vorsitzende der Deutschen Behindertensportjugend stößt an der Basis immer wieder auf Unwissenheit und Klischees, trotz der medialen Präsenz von Paralympics-Siegern wie Heinrich Popow.
"Da in den Ländern, wo die Förderschulen abgeschafft werden, oder halt im Zuge der Inklusion: Wenn einem der linke Unterarm fehlt oder ähnliches, der geht halt in eine Regelschule. Der ist tagsüber mit seinen Kumpels in der Schule und geht halt mit denen abends zum Sport, spielt Tischtennis, macht Leichtathletik. Und die machen da mit. Und da muss der Übungsleiter fit sein, um die eben nicht nach Hause zu schicken, sondern mit denen was zu machen. Es gibt immer noch eine ganze Reihe Eltern, die nicht wissen, dass es im Behindertensport auch einen Wettbewerb und einen Leistungssport gibt. Und dass es gar nicht schlecht ist, Behindertensport zu machen, sondern dass es ein zusätzliches Angebot sein kann."
Der Deutsche Behindertensportverband besteht aus 17 Landesverbänden, ihre Strukturen sind unterschiedlich entwickelt. Die Behindertensportjugend fördert die Vernetzung von Vereinen und Schulen: mit Schnupperkursen, Talenttagen oder dem Schwulwettbewerb "Jugend trainiert für Paralympics", der seit vier Jahren an sein olympisches Pendant gekoppelt ist.
Mut zur Improvisation
Wichtig seien Investitionen in die Barrierefreiheit von Sportstätten und eine breite Ausbildung von Lehrern. Doch auch ohne großen Aufwand sei ein Bewegungsangebot möglich, sagt Thomas Abel, Experte für paralympischen Sport an der Sporthochschule Köln.
"Ja, das stimmt. Und wenn wir jetzt sagen: wir haben jetzt einen Schüler mit einer Behinderung, der einen Rollstuhl im Alltag braucht. Und deshalb brauchen wir jetzt gleichzeitig neun weitere Stühle, damit die mal gemeinsam Rollstuhlbasketball spielen können, das ist schwierig, das wird nicht jede Schule leisten können. Bei vielen anderen Sportarten ist es gar nicht so kompliziert. Also es ist gar nicht so, dass man sagen muss: Wir brauchen erstmal ganz besondere Hallen, und dann brauchen wir ganz besonderes Material. Man muss manchmal auch Mut haben zu improvisieren. Das soll aber nicht willkürlich, nicht gefährdend sein."
Paralympische Sport braucht bessere Talenförderung
Die Experten sind sich einig: Für eine bessere Talentförderung braucht der paralympische Sport die Infrastruktur des olympischen Sports. An einigen Trainingsstandorten gelingt die Verzahnung, doch an den Eliteschulen des Sports werden paralympische Inhalte noch immer unterschiedlich gewichtet. In manchen Punkten gibt es sogar Rückschritte, sagt Jörg Frischmann, Geschäftsführer für Behindertensport bei Bayer Leverkusen.
Die Inklusionsdebatte wurde zuletzt stark auf Markus Rehm fokussiert. Der unterschenkelamputierte Weitspringer kämpfte vergeblich für einen Start bei Olympia: "Wir haben erlebt, dass Eltern gesagt haben: 'Pass auf, der hat eine Prothese, der hat einen Vorteil'. Und das sind einfach für mich erschreckende Sachen. Wenn junge Kinder nicht mehr gemeinsam Sport machen können", so Frischmann.
Vielleicht haben die Para-Europameisterschaften den Behindertensport mehr ins Bewusstsein gerückt. Rund 10.000 Schüler haben die Wettkämpfe im Jahn-Stadion verfolgt. Viele beschäftigten sich in Projekten zum ersten Mal damit. Sie wissen nun, dass es sich um Hochleistungssport handelt.