Die Terror-Organisation "Islamischer Staat" (IS) hat sich zum Bombenanschlag am Flughafen in Kabul bekannt. IS-K nennt sich der regionale Ableger des IS und er ist eine von mehreren dschihadistischen Gruppierungen, die in Afghanistan operieren, um ihre extremistischen Ziele durchzusetzen. Sie stehen zum Teil in Konkurrenz zueinander. Den größten Einfluss haben Experten zufolge bislang noch die Taliban. Es gibt aber auch Warnungen, dass sich alle Kräfte unter dem gemeinsamen Banner des Dschihadismus zusammentun könnten.
Spätestens seitdem sie die afghanische Regierung blitzartig vertrieben haben, geben die Taliban nach knapp 20 Jahren wieder den Ton im Land an – nicht zuletzt eine Folge des Abzugs der US-Truppen im August. Auch quantitativ sind sie der größte lokale Akteur, erklärte
Sicherheitsexperte Nicolas Stockhammer
im Dlf. Er leitet an der Donau-Universität Krems ein Forschungscluster, das sich unter anderem mit Terrorismusbekämpfung und Geheimdiensten beschäftigt.
Die Taliban befänden sich nun "in einer Art Regierungsverantwortung" und müssten sich zumindest nach außen gemäßigter geben. Es liege in ihrem Interesse, die vielfältige finanzielle Unterstützung Afghanistans auch seitens des Westens aufrecht zu erhalten. Dadurch dürften sie Stockhammers Einschätzung nach langfristig als der zentrale Akteur in der Region feststehen. Andere terroristische Fraktionen müssten sich mit den Taliban arrangieren oder würden weiter in den Untergrund gedrängt und klein gehalten.
Die Taliban sind aber auch kein monolithischer Block. Es gibt die militärischen Köpfe der Bewegung, aber auch eine Vielzahl regionaler Feldherren und Kommandeure, bei denen nicht sicher ist, ob sie sich ebenfalls so gemäßigt geben wie die Köpfe der Bewegung.
Den IS etwa betrachten die Taliban prinzipiell als Feind und haben ihn in den vergangenen Jahren bereits bekämpft. "Es waren die Taliban, die ihn vor wenigen Jahren aus seinem Hauptquartier in der Provinz Nangarhar vertrieben haben", betont der
Islamwissenschaftler Guido Steinberg
im Dlf. Der IS musste sich weiter in die Berge zurückziehen. Die Taliban wollten auch jetzt ebenso wie die USA ein Erstarken des IS sowie weitere Anschläge verhindern, so der Nahostexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Eine direkte Zusammenarbeit zwischen Amerikanern und Taliban in der Anti-Terror-Bekämpfung werde es nicht geben, möglicherweise aber Absprachen, vermutet Steinberg.
Der Terrorismusforscher Peter Neumann hat bereits entsprechende Versuche der Amerikaner ausgemacht. Äußerungen eines Sprechers des US-Außenministeriums ließen drauf schließen, dass Washington versuche "die Teile der Taliban, die mit internationalem Terrorismus zu tun haben, zu separieren vom Rest der Taliban", also mit den moderaten Teilen der Bewegung zu kooperieren gegen El Kaida und gegen den IS, sagte Neumann im Dlf.
Der regionale Ableger der salafistischen Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) verübte seit spätestens 2014 Anschläge und Morde in Afghanistan. Die Gruppe bezeichnet sich selbst als "Islamischer Staat Provinz Khorasan", abgekürzt IS-K oder ISIS-K. Khorasan ist die Bezeichnung für eine historische Region aus dem 7. Jahrhundert in Zentralasien, die sich über Gebiete der heutigen Staaten Afghanistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan erstreckte.
Das Hauptgebiet von IS-K liegt im Nordosten des Landes und auch im Grenzgebiet mit Pakistan. "Das ist eine Gruppe, die ganz offensichtlich über die Grenze hinweg operiert", sagte der Terrorismusforscher Peter Neumann im Dlf. Bekannt sei auch, dass die Gruppe zahlreiche Mitglieder habe, "die keine Afghanen sind, die aus benachbarten Ländern kommen, aus Pakistan und aus Zentralasien".
Trotzdem sei der in Afghanistan operierende IS eine sehr kleine Organisation von wenigen hundert Mann, so Nahostexperte Steinberg. Mit dem Anschlag am Kabuler Flughafen wollte der IS nach Ansicht von Steinberg vor allem zeigen, dass er am Kampf gegen die Amerikaner beteiligt gewesen sei und "dass die Amerikaner sich jetzt unter dem Feuer des IS zurückziehen". Der IS bestimme nun die Schlagzeilen und werde für sich reklamieren, für die Zukunft des Dschihadismus in Afghanistan zu stehen. Mit dem Anschlag in Kabul seien seine Chancen dafür gewachsen, glaubt Steinberg.
Für den Westen sei der IS in Afghanistan jedoch "nicht besonders gefährlich, zumindest aktuell noch nicht",
so die Einschätzung des Terrorismusforscher Neumann.
Einig sich die Experten darin, dass die Gruppe zu klein ist, um die Macht am Hindukusch zu übernehmen. Aber es bestehe aber die Gefahr, dass IS-K nun Chaos stiften könnte mit dem gleichen Ziel, das Dschihadisten auch in Libyen und dem Irak verfolgt haben: "Nämlich bürgerkriegsähnliche Zustände produzieren, wo nur noch Chaos und Anarchie herrscht und wo es keiner Miliz und keiner Organisation gelingt, tatsächlich Kontrolle zu haben." Der IS sei immer dort stark geworden, wo Chaos herrsche.
Seine Stärke besteht laut Nahostexperte Steinberg auch darin, immer wieder neue Anhänger rekrutieren zu können - trotz Niederlagen. Der IS sei besonders attraktiv für junge Dschihadisten aus aller Welt. Das liege an seiner Ideologie: "Der IS ist kompromisslos und will seine Version des islamischen Rechts, der Scharia, anwenden und islamische Staaten gründen, egal, wie klein die sind", so Steinberg. "Wenn der IS sagt: 'Wir haben hier ein kleines Territorium, kommt, macht mit, kämpft für das Kalifat, gegen die Taliban, gegen die Amerikaner, gegen die Minderheiten in Afghanistan' – dann kommen sehr viele junge Leute."
Nach Aussagen der Experten kann auch die Führung Pakistans aus verschiedenen Gründen ein Interesse daran haben, dass der IS nun stärker in Erscheinung tritt. "Weil man befürchtet, dass mit einer weiteren Etablierung der Taliban im Land eine Konsolidierung einhergehen könnte und man die Taliban dann nicht mehr so kontrollieren könnte vonseiten Pakistans", erläuterte Stockerhammer. Ein starker IS könnte auch die Taliban moderat erscheinen lassen, meint der Terrorismusforscher Neumann. Momentan wisse man noch zu wenig: "Es gibt unterschiedliche Theorien, sehr wenige tatsächliche Belege, alle möglichen Spekulationen."
Zumal es offenbar durchaus auch Berührungspunkte zwischen IS-K und den Taliban gibt. So kooperiert IS-K nach Angaben von Stockhammer mit dem sogenannten Haqqani-Netzwerk. Dieses wiederum gilt als Teil der Taliban ist aber "aber auch extrem eng vernetzt mit internationalen Terroristen", wie Neumann betont.
Das weltweit operierende Terrornetzwerk El Kaida umfasst verschiedene radikale, meist sunnitisch-islamistische Gruppierungen. Spätestens mit den Anschlägen vom 11. September 2001 hat das Netzwerk breite internationale Bekanntheit erlangt. Damals erklärten die USA den Krieg gegen den internationalen Terrorismus und forderten von Afghanistan die Auslieferung von El-Kaida-Anführer Osama bin Laden. Die Taliban, die damals schon einmal in Afghanistan regierten, kamen dieser Aufforderung jedoch nicht nach.
Die NATO rief den "Bündnisfall" aus, knapp einen Monat nach den Anschlägen begann der Militäreinsatz am Hindukusch. Durch massive Luftschläge und die Mithilfe der sogenannten Nordallianz, einer Koalition verschiedener afghanischer Kriegsherren, wurden die Taliban bis Ende des Jahres besiegt. Mit dem Sturz der Taliban wurde es in der Region auch um El Kaida vergleichsweise still.
Noch im April 2021 zog Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) im Dlf eine positive Bilanz der Afghanistan-Mission: "Wir haben das Ziel erreicht, dass ganz sicherlich El Kaida nicht in dem Maße international operiert hat, wie es der Fall war, als es zu 9/11 gekommen ist."
Die aktuelle Situation in Afghanistan schätzt Sicherheitsexperte Stockhammer so ein: "Es entwickelt sich gerade eine Art Wechselspiel, wo die Hauptakteure des IS und vor allem El Kaida um die Vorherrschaft rittern." In diesem Kampf um die dschihadistische Deutungshoheit habe weiterhin El Kaida die Nase vorn. "Aber es ist nicht auszuschließen, dass Splittergruppen entstehen und dass sich hier neue Synergien entwickeln."