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"Tamburinis Buckel"
Subtile Komik unterhalb der Nachweisgrenze

Je leiser, subtiler, subkutaner ein Autor vorgeht, desto größer ist die Begeisterung des Literaturkritikers Michael Maar. In "Tamburinis Buckel. Meister von heute" finden sich auch Rezensionen, die Michael Maar in den letzten Jahren veröffentlicht hat und deren Auswahl etwas zufällig wirkt.

Von Martin Ebel |
    Michael Maar ist der Anti-Reich-Ranicki unter den deutschen Literaturkritikern. Vielleicht ohne es zu wissen oder es zu wollen, aber unverkennbar. Liebte der verstorbene Grosskritiker der FAZ den rhetorischen Gegensatz, die plakative Zuspitzung, das laute Etikett, den lärmenden Effekt, so findet man in den Essays des zwei Generationen Jüngeren genau das Gegenteil.
    Je leiser, subtiler, subkutaner ein Autor vorgeht, desto größer ist die Begeisterung seines Interpreten. Immer wieder findet sich in Maars Interpretationen die Bemerkung, eine Pointe sei besonders versteckt, ein Witz hintergründig, ein Motiv raffiniert montiert. "Diese Komik", schreibt Maar an einer Stelle, "ist fast unterhalb der Nachweisgrenze." Genau an dieser Grenze operiert er mit Vorliebe. Es sind die homöopathischen Dosen der Literatur, denen er auf der Spur ist.
    Deshalb liebt er auch die Nebenfiguren. Eine hat er zur Titelfigur seines neuen Essaybandes gemacht: Tamburini, den buckligen Opernsänger aus Heinrich Manns spätem Roman "Empfang bei der Welt". Wobei man sich fragen könnte, ob nicht Heinrich Mann selbst zu einer Nebenfigur der Literaturgeschichte geworden ist, in den Augen der Nachwelt ein Zwerg neben dem ins Gigantische gewachsenen Bruder Thomas.
    Nun, gerade in solchen Fällen tritt Michael Maar als Zurechtrücker in Aktion. Heinrich Mann galt nicht nur Maars allererste Veröffentlichung, der junge Student hatte sie einst in einer gratis ausliegenden Buchhändlerbroschüre platziert. Die Zuerkennung des Heinrich-Mann-Preises gibt ihm nun die Gelegenheit zu einem gross angelegten Doppelporträt der feindlich liebenden Brüder, das auf überraschende Weise dem älteren, ins Abseits geratenen Heinrich den Vorzug gibt. Zwar nicht literarisch, aber was die Gesamtanlage des Lebens angeht.
    Das Scharnier der Argumentation bilden die beiden buckligen Gestalten in den Werken der Brüder. Der kleine Herr Friedemann, in Thomas Manns gleichnamiger Erzählung, wird von der Frau, die er anbetet, furchtbar gedemütigt und ertränkt sich; Heinrichs Tamburini dagegen wird von der Frau erlöst. „Das war der Unterschied", schließt Michael Maar kühn auf zwei komplette Biografien: "Der eine Mann wurde zurückgestoßen und hatte nur die Kunst, um sich wieder aufzurichten. Der andere Mann wurde erhöht und hatte neben der Kunst auch noch Geschmack fürs Leben." So, schlussfolgert Maar, wurde aus dem einen der "große Mann", aber aus dem anderen ein "ganzer Mann".
    Muss man Michael Maar zustimmen? Nicht unbedingt. Auch nicht, wenn er anlässlich des englischen Autors und Flaubert-Verehrers Julian Barnes das "Lob der Pedanterie" singt. Denn meint er nicht eigentlich Genauigkeit? Und ist Pedanterie nicht gerade eine falsche, eine exzessive Genauigkeit, eine, die jede Verhältnismäßigkeit vermissen lässt, die Korinthen für das Ganze nimmt?
    So nimmt man bei der Lektüre unvermittelt das Gespräch mit dem Autor auf.
    Maar ist selbst eben kein Pedant, sondern ein Meister des genauen Blicks am richtigen Ort. Er ist zu Recht berühmt dafür, Dinge zu bemerken, die andere Leser, sogar viele Kollegen Berufsleser, übersehen. Wie viele etwa sind an dem vertrackten Plot von Wolfgang Herrndorfs Wüstenroman „Sand" gescheitert? Wer hat bis zuletzt nicht verstanden, wer überhaupt der Held des Buches ist? Herrndorf wusste und wollte das so. Maar analysiert sich aber so lange vor und zurück durch das Wüstenlabyrinth, bis er alle Fragen beantwortet hat - ohne dass das Buch auch nur das Geringste von seinem Geheimnis verloren hat, erst recht nichts von seinem böse schillernden Zauber.
    Der Herrndorf-Essay gehört zu den Hauptstücken des Bandes, ebenso die Rede vor der Thomas-Mann-Gesellschaft in Zürich, bei der Maar als Jongleur auftritt. Die Bälle heißen Mann, Wagner und Proust, aber das Spiel gelingt erst, als er einen vierten Ball namens Schopenhauer in die Luft wirft und in dessen Mitleidsethik das verbindende Element der drei Künstler herausarbeitet. Grandios ist auch das Porträt des Amerikaners Richard Yates. "Revolutionary Road", sein geniales Romandebüt, kann nicht nur in der Qualität mit Flauberts "Madame Bovary" mithalten, sondern ist voll von Verweisen und Bezügen auf diesen Klassiker. Auch das hatte man, bei aller Bewunderung für Yates, in dieser Fülle und Genauigkeit eben noch nicht bemerkt.
    Nicht alle Texte in diesem Band haben die Qualität der genannten großen Essays. Es finden sich auch Rezensionen, die Michael Maar in den letzten Jahren veröffentlicht hat und deren Auswahl etwas zufällig wirkt. Besprechungen neuer Bücher von Sibylle Lewitscharoff oder Michael Köhlmeier, Gedichte von Harald Hartung, Geschichtsessays des Publizisten Burkhard Müller, Brigitte Kronauers Essays und Daniel Kehlmanns Lobreden: Man liest das alles erfreut und bereichert, man begreift auch von Seite zu Seite besser, was Maars Vorlieben sind. Man delektiert sich an seiner eleganten Prosa und schmeckt originelle Vergleiche ab - einmal heißt es gar Ein Königspinguin von einem Buch". Man schließt sich seinem immer gut begründeten Urteil an - oder findet den Begriff "Meisterwerk" manchmal etwas gar zu großzügig verteilt. Was dem Band aber fehlt, ist ein grosser Text grundsätzlicher Art. Vielleicht sogar einer, der eigens für diesen Band geschrieben worden wäre.
    Michael Maar: Tamburinis Buckel. Meister von heute. C. H. Beck, München 2014. 190 S., 19.95 Euro