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Tanguy Viel: "Selbstjustiz"
Der Täter, das Opfer und das Meer

"Ich brauche diese Landschaft", sagt der Schriftsteller Tanguy Viel über die raue Bretagne. Hier spielt auch die Handlung seines neuen, psychologisch genau erzählten Romans. Ein Immobilienspekulant ertrinkt im Meer, der Mörder wird schnell gefasst. Doch wer ist wirklich Täter, wer Opfer?

Von Holger Heimann |
    Touristen beobachten am 15.08.2007 das Wellenspiel um den Leuchtturm Pointe du Raz von der Atlantikküste der Bretagne/Frankreich aus.
    Der Atlantik vor der bretonischen Küste wird im Roman "Selbstjustiz" zum Ort einer besonderen Vollstreckung (dpa / Ingo Wagner)
    Obwohl er dort nicht mehr lebt, ist die Bretagne für Tanguy Viel die Region, in die er immer wieder zurückkehrt - auch in seinen Büchern
    "Für mich ist das eine sehr wichtiger Ort, schon immer gewesen. Ich habe nur meine Kindheit in Brest verbracht. Alles ist wie in einer Zauberkiste aufbewahrt, das Meer, die Landschaft. Diese Kiste öffnete sich, als ich begann zu schreiben mit 17 oder 18. Ich habe mich nicht bewusst dazu entschieden, alle meine Figuren mit der Bretagne in Verbindung zu bringen. Es war einfach eine Notwendigkeit. Ich habe das Gefühl, dass ich eigentlich nichts schreiben kann, dass in einem anderen Land oder einer anderen Gegend angesiedelt ist. Ich brauche diese Landschaft, und ich komme oft hierher zurück. Wenn ich der Wahrheit meiner Gefühle nachhorche, dann entdecke ich in mir diese Landschaft, den Wind, den Ozean, alte Steine. Mein Leben, mein Schreiben, die Bretagne - all das ist nur ein Wort."
    Niemand trauert dem Toten nach
    Das Cover von Tanguy Viels neuem Roman "Selbstjustiz" zeigt eine Wasserfläche - nichts sonst. Es ist nicht das Blau des Mittelmeers und nicht das der Karibik. Dieses Wasser, das verraten die kühlen Farben, ist rauer, unwirtlicher. Es kann zur Bedrohung werden - so wie der Atlantik vor der bretonischen Küste. Ein Mann ist hier im Meer ertrunken. Doch dem Toten trauert niemand nach. Denn Antoine Lazenec war ein skrupelloser Immobilienspekulant. Mit seinen Plänen von einem glitzernden Seebad hat er die Bewohner eines kleinen Küstenortes in der Nähe von Brest geködert. Ein bretonisches Saint Tropez wollte der Mann aus dem Süden mit dem Geld der arglosen Menschen bauen. Doch anstatt der versprochenen Appartements mit Meerblick hinterließ er nur schlammige Baugruben.
    "Diese Sorte Mensch, so einen hätte man, wären wir in einem Dorf in den Bergen oder sagen wir eher im Wilden Westen vor hundert Jahren, den hätte man sicher kommen sehen, vielleicht zu Fuß beim Betreten der Stadt oder zu Pferde, wie er am Anfang der Hauptstraße stehen bleibt, vom Postamt oder dem Saloon aus hätte man den jedenfalls gesehen, und dann hätte man auch bald gewusst, mit was für einer Sorte man es da zu tun hatte. Wir aber haben ihn nicht kommen sehen. Wir haben ihn eher wachsen sehen, wie einen Pilz am Fuße eines Baumes, der erst einmal eine ordentliche Größe erreicht haben muss, bevor man etwas sehen kann."
    Vom Spekulanten in den Ruin gestürzt
    Die Stimme des Erzählers gehört Martial Kermeur. Er ist einer der Menschen, die durch den Spekulanten in den Ruin gestürzt wurden. Der einfache Mann hatte als Verwalter eines Gutshauses ein bescheidenes Einkommen, bis Lazenec das Haus abreißen ließ und der umliegende Park sich in eine Baustelle verwandelte. Schon auf den ersten Seiten wird klar, dass der Verzweifelte den gewissenlosen Unternehmer von einem Boot ins Wasser gestoßen hat. Deshalb sitzt er dem Richter gegenüber. Es ist die Grundsituation des Buches: Martial Kermeur erzählt von seinem Leben - der Richter, der eher die Rolle eines Therapeuten einnimmt, hört zu.
    "Der Richter bewegte sich nicht. Mir war auf einmal, als befände ich mich im Sprechzimmer eines Psychologen oder jemandem in der Art, weil er so lange reglos und antwortlos dasaß, die Hände unter dem Kinn gefaltet, und weil es mir, je mehr Stunden verstrichen, immer mehr so vorkam, als erwartete er von mir, mein Inneres zu erforschen, wie ein Psychologe es wünschen würde, als sollte ich alles ausgraben, bis zu den staubgewordenen Knochen, als sollte ich für Licht sorgen und noch mehr Licht und als würde er sich nicht fragen, ob ein Übermaß an Licht nicht Menschen wie mich, ja ob es nicht dazu führt, dass wir blind werden."
    Der Richter leidet mit
    Dieser Richter ist nicht jener Gesetzeshüter, den Kafka entworfen hat, um den Schuldigen aus der Welt hinaus zu katapultieren. Tanguy Viels Richter tut das Gegenteil. Er ist bereit, das Leid seines Gegenübers mit zu tragen. Erst so wird es Kermeur möglich, seine ganze Geschichte zu erzählen. Von der Ehefrau also, die ihn verlassen hat und von der schwierigen Beziehung zu seinem kriminell gewordenen Sohn. Nach und nach entfaltet sich das Bild eines Mannes, den das Leben nicht nur beschenkt hat. Doch Kermeur ist trotzdem nicht zum Zyniker und Egoisten geworden. Er hat sich vielmehr eine Redlichkeit und Aufrichtigkeit bewahrt. Daher sieht er sich dazu veranlasst, dort, wo die Gesellschaft versagt hat, die Dinge schließlich selbst in die Hand zu nehmen.
    "Für mich ist es gänzlich unproblematisch, jemanden umzubringen - zumindest im Buch -, wenn man damit das Richtige tut. Häufig ist es sogar besser für die Mehrheit, wenn einige Schurken sterben. Es ist keine juristische, sondern eine psychologische, eine literarische Frage. Die radikale Lösung ist die einzig mögliche im Roman. Antoine Lazenec muss sterben, es reicht nicht, ihn zehn Jahre ins Gefängnis zu stecken. Ich habe nie im Kopf gehabt, dass Martial Kermeur ein Täter ist, das ist merkwürdig. Er schafft eine Gerechtigkeit für alle anderen Menschen im Ort, gegen die Lügen der Zivilisation, gegen eine Zukunft, die er nicht erstrebt. Er hat nur getan, was getan werden musste."
    Sprachlich genau und psychologisch feinsinnig
    Tatsächlich wird die Selbstjustiz in diesem Roman zur guten Tat. Tanguy Viel sorgt mit großer sprachlicher Genauigkeit und psychologischem Feinsinn dafür, dass die radikale Umkehrung des Opfer-Täter-Schemas vollkommen plausibel erscheint: Der Mann, der den anderen in den Tod gestoßen hat, ist das eigentliche Opfer, der Ertrunkene hingegen der wahre Gesetzesbrecher, der kein besseres Ende verdient hat.
    Tanguy Viel hat mit dem Unternehmer einen kalten Egomanen erschaffen, der vor nichts zurückschreckt. Man kann diesen zur Kenntlichkeit überzeichneten Kapitalisten, der Mensch und Natur schamlos benutzt, durchaus als einen Prototyp unserer Zeit sehen. Aber es gehört zur schönen Freiheit des Schriftstellers, im Buch mit drastischen Mitteln für eine Gerechtigkeit zu sorgen, die im Leben oft nicht zu haben ist.
    Tanguy Viel: "Selbstjustiz"
    Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Wagenbach Verlag, 168 Seiten, 20 Euro