Tanisha M. Fazal begann die Arbeit an dem Buch unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001.1) Als US-amerikanische Truppen nach Afghanistan entsandt wurden, fragte sich die damals frisch promovierte Politikwissenschaftlerin, warum die Vereinigten Staaten nicht den Krieg erklärten. Sie erkannte bald: Es war kein Einzelfall, dass es in zwischenstaatlichen Konflikten keine Kriegserklärung gab. Fazal spricht hier von einem weltweiten Trend. Ebenso werden zwischenstaatliche Konflikte nur noch äußerst selten mit einem Friedensvertrag beendet. Das sei in früheren Zeiten anders gewesen.
"Vom Ende der Napoleonischen Kriege 1815 bis 1948 wurde die Hälfte der zwischenstaatlichen Kriege formell erklärt, und 70 Prozent endeten mit einem formellen Friedensvertrag."
Kriegserklärungen werden vermieden
Seit dem Abschluss der Genfer Abkommen von 1949 ist das anders. Auch im Zusammenhang mit Bürgerkriegen stellt Fazal Veränderungen fest – es gab weniger formelle Unabhängigkeitserklärungen, aber mehr formelle Friedensverträge am Ende der Auseinandersetzungen.
"Kriegserklärungen und Friedensverträge sind mehr als bloße Formalitäten; sie sagen uns, wann Kriege beginnen und enden. Sie setzen bestimmte rechtliche Regelungen in Kraft – die Gesetze des Krieges –, die für die Kriegszeit gelten sollen."
Auf eine Initiative des Schweizer Geschäftsmanns Henry Dunant, der auch das Internationale Komitee des Roten Kreuzes gründete, wurde 1864 das erste Genfer Abkommen verabschiedet. Die heute geltenden vier Genfer Abkommen von 1949 und die beiden Zusatzprotokolle von 1977 sind das Kernstück des humanitären Völkerrechts. Sie schützen Menschen vor Grausamkeit und Unmenschlichkeit in Kriegssituationen: verletzte, kranke oder schiffbrüchige Kombattanten und vor allem Zivilpersonen.
Kriege unter neuen Namen
Das humanitäre Völkerrecht hat immer mehr Bestimmungen hinzugewonnen. Tanisha M. Fazal untersucht in ihrem Buch, inwieweit sich das auf die Art der Kriegsführung auswirkt. Wollen die kriegführenden Parteien das Kriegsrecht umgehen, indem sie den Krieg nicht offiziell erklären?
"Staaten, die formell einen Krieg erklären, erkennen explizit an, dass sie sich in einem Kriegszustand befinden. Im Kriegszustand ist die Verpflichtung zur Anwendung des humanitären Völkerrechts eindeutig, mit der Kriegserklärung muss ein Staat sich an das humanitäre Völkerrecht halten. Weil die damit verbundenen Belastungen immer schwerer wiegen, ist der Anreiz gesunken, diese klare Grenze zu überschreiten."
Es werden also weiterhin Kriege geführt, nur dass sie nicht mehr so genannt werden. Die Akteure sprechen von "Polizeiaktionen", von "Kampf gegen den Terrorismus" oder von "Aufstandsbekämpfung". Tanisha M. Fazal hat für ihr Buch zwei Gruppen von Fallbeispielen ausgewählt. Das sind für die zwischenstaatlichen Kriege der Spanisch-Amerikanische Krieg von 1898, der Boxeraufstand von 1900, der Bangladesch-Krieg von 1971 und der Krieg um die Falklandinseln von 1982. Für die Bürgerkriege, in denen sezessionistische Rebellengruppen für die Unabhängigkeit kämpfen, gelten als Fallbeispiele Texas im 19. Jahrhundert, der separatistische Krieg der Republik der Südmolukken 1950 und der Konflikt im Südsudan, der von den 1970er Jahren bis zur Unabhängigkeit 2011 dauerte.
Das ist das Besondere und das Neue an Fazals Untersuchung, dass sie Trends bei den Gesetzen und den Formalitäten des Krieges in zwischenstaatlichen Konflikten und in Bürgerkriegen parallel analysiert. Dabei geht sie streng wissenschaftlich vor, sie bringt Kapitel für Kapitel zunächst quantitative, dann qualitative Analysen; für die zahlreichen Tabellen benutzt sie verschiedene Datensätze, die sie im Einzelnen erläutert. Das ist mühsam zu lesen, zumal sie immer wieder in Fachjargon verfällt, der selbst dem politisch interessierten Leser nicht immer geläufig ist. Leider fehlt dem Buch ein Glossar, und die Abkürzungen werden nicht erklärt. Ein besseres Lektorat für die deutsche Übersetzung hätte vielleicht auch geholfen.
Völkerrecht und Menschenrechte werden in Kriegen missachtet
Interessant wird es immer dann, wenn Fazal historische Ereignisse im Zusammenhang mit ihrer Forschung beschreibt. Zum Beispiel im Kapitel über Kriegserklärungen, die erstaunlicherweise im 18. und 19. Jahrhundert oft nicht vor Beginn des Krieges, sondern erst im Nachhinein ergingen.
"In einer relativ aktuellen Geschichte von Kriegserklärungen ist das schändlichste Beispiel die japanische Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten zweieinhalb Stunden nach dem Angriff auf Pearl Harbour."
Das humanitäre Völkerrecht ist in einem Bürgerkrieg viel schwächer als in einem zwischenstaatlichen Krieg. Dennoch würden sich vor allem die sezessionistischen Rebellengruppen an die Regeln halten, weil sie sich in ihrem Kampf um Unabhängigkeit um Unterstützung in der internationalen Gemeinschaft bemühten, erläutert Fazal.
In vielen kriegerischen Auseinandersetzungen, ob in zwischenstaatlichen oder bürgerkriegsähnlichen, greift das humanitäre Völkerrecht jedoch nicht. Es werden schwerste Verbrechen begangen, Vergewaltigungen, Rekrutierung von Kindersoldaten, Giftgaseinsätze, Bombardierungen von Krankenhäusern und Schulen. Hier sind die Menschenrechte gefragt, die allzu oft noch weniger beachtet werden als das humanitäre Völkerrecht. Aber das ist ein Kapitel, das Tanisha M. Fazal in diesem Buch nicht aufschlägt. Dennoch ist die Lektüre für jeden, der sich für die Entwicklungen des humanitären Völkerrechts interessiert, ein Gewinn.
1) Korrektur: In der ursprünglichen Version war versehentlich der 9. September genannt worden.
Tanisha M. Fazal: "[Kein] Recht im Krieg? Nicht intendierte Folgen der völkerrechtlichen Regelung bewaffneter Konflikte",
Hamburger Edition, 418 Seiten, 35 Euro.
Hamburger Edition, 418 Seiten, 35 Euro.