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"Tanz im August" in Berlin
Entgrenzung der Künste

Zum 27. Mal findet in Berlin mit "Tanz im August" das größte Tanzfestival Deutschlands statt. In den ersten Festivaltagen stieß man die Türen zu den Nachbarkünsten weit auf: Das Sammlerehepaar Haubrok zeigte Teile seiner Kunstsammlung im "Hebbel am Ufer" in Berlin.

Von Elisabeth Nehring |
    Zack, schon ist es passiert: Wieder ist jemand auf's Kunstwerk getreten. Denn die am Boden liegende schlichte, schwarze Geldbörse trägt zwar den Namen "found identity", wurde aber von niemandem verloren und wird garantiert auch nicht vermisst. Stattdessen hat Axel Haubrok das Portemonnaie auf der Bühne des HAU1 ganz bewusst in der Mitte platziert.
    Was ist Kunst, was nicht? lautet die zentrale Frage, die sich der Besucher stellt angesichts der vielen Readymades, die Kunstsammler Haubrok hier zeigt. Das überdimensionierte Blumenbukett des niederländischen Künstlers Willem De Rooij mit seinen 99 verschiedenen Blüten ist da noch leicht zu identifizieren. Was aber ist mit dem karierten Hemd, das wie vergessen über einer Stuhllehne hängt? Oder dem Wust an ineinander geschalteten Stromsteckern - auch AC/DC Snakes genannt? Sind die nicht Teil der Bühnentechnik? Oder doch Kunstobjekte?
    In einer Zeit, in der die Tanz- und Performancekunst Museen und Galerien (wieder)entdeckt und erobert, luden das Sammlerehepaar Haubrok - quasi in einer Gegenbewegung - in den Bühnen- und Zuschauerraum des HAU1 zu ihrer Ausstellung mit dem Titel "Die Erde, zur gleichen Zeit halb so klein und doppelt so groß". Zeitlich auf einen Tag begrenzt, eröffnete sie - nur einige Stunden vor Lucinda Childs fulminanter Choreografie "Available Light" - Deutschlands größtes Internationales Tanzfestival. Dabei zeigten sich auf feine Weise zwar nicht obligatorische, aber durchaus mögliche Schnittmengen zwischen den Künsten: Denn wie man es aus Performancepraktiken der 60er-Jahre kennt, in denen Alltagsbewegungen zu Kunst erklärt wurden, verwandeln sich auch die meisten der von Haubrok präsentierten Ausstellungsstücke erst durch die ausgewiesene Deklaration in Kunstwerke. Und auch der Sinngehalt der Objekte erschloss sich erst durch das Gespräch, das man darüber zu führen aufgefordert wurde. So konnte man einen sympathischen und auch rhetorisch sehr bodenständigen Axel Haubrok erleben, wie er mit Emphase und durchaus pädagogischem Impetus seine bestimmt sehr teuer erworbenen Kunstwerke erläuterte.
    Haubroks Ausstellung wies dem aufmerksamen Festivalbeobachter den Weg zum nachfolgenden Programm: der Retrospektive der britischen Minimalismus-Ikone Rosemary Butcher in der Akademie der Künste sowie der 24-Stunden Performance "Durcheinander" des Berliner Künstlerteams Deufert und Plischke. Auch bei letzteren entsteht Kunst, respektive Theater erst durch das Gespräch, das Menschen miteinander führen. Das Publikum muss selbst aktiv werden, damit es überhaupt zu so etwas wie einem Theatererlebnis kommt: Erinnerungen an Theaterbesuche aufschreiben oder öffentlich darüber erzählen. An einem fußbodengroßen Wandbild mit persönlichen Stadterfahrungen mitsticken. Oder in einer geführten Tour mit Forscherlampen an der Stirn die letzten Winkel des Hebbel Theaters entdecken.
    Ein kluger Festivalauftakt
    Natürlich hat das auf den ersten Blick wenig bis gar nichts mit der gängigen Vorstellung von "Tanz" zu tun - aber in den Voraussetzungen dann wieder doch: Die Bereitschaft, sich einzulassen auf ein künstlerisches Konzept, eine gewisse Akzeptanz, dass konventionelle Erwartungshaltungen nicht befriedigt werden sowie die Herausforderung geistiger oder sogar physischer Aktion und Partizipation statt bloßer sinnlicher Konsumption - diese von Künstlerpaar Deufert und Plischke gesetzten Prämissen galten bereits in der heute als "revolutionär" hoch gelobten Tanz- und Performancekunst der 60er- und 70er-Jahre.
    Davon kann man sich in der Retrospektive Rosemary Butchers ein Bild machen. Die inzwischen über 70-jährige Britin forscht seit den 60er-Jahren an Bewegungen, die nicht zum üblichen Kanon des Tanzes gehören und die - quasi als bewegte Readymades - ebenfalls erst durch die Zuweisung eines künstlerischen Gehalts zu "Tanz" werden. Darüber hinaus war es interessant zu beobachten, welche unterschiedlichen Wege Rosemary Butcher und ihre ebenfalls im Festival anwesende, fast gleichaltrige amerikanische Kollegin Lucinda Childs gegangen sind - kommen sie doch beide aus dem Umfeld der legendären amerikanischen Judson Church Bewegung, deren Bewegungsexperimente zur Keimzelle künstlerischer Innovationen wurden.
    Im Sinne solch' inhaltlicher Verknüpfungen von ganz unterschiedlichen künstlerischen Epochen einerseits, aber auch verschiedenen Kunstformen andererseits hat Tanz im August-Kuratorin Virve Sutinen einen wirklich klugen Festivalauftakt konzipiert. Der zeigt unter anderem, dass es keinen Sinn hat, mit dem Mantra "Wo bleibt der Tanz?" fortwährend nach einer Begrenzung der Künste zu rufen, wo sie in ihren interessantesten Formen sich stets entgrenzen wollen.