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Tanz mit dem Schafsmann

Den Schafsmann hatte er zuerst in einer entlegenen Hütte hoch in den Bergen gesehen. Einen kleinen Mann, eingehüllt in ein schmutziges Fell, eine schwarze Maske vor den Augen, eine ledernen Kappe über den herabhängenden Ohren. Doch wahrscheinlich ist der Schafsmann schon lange zuvor da gewesen, hat ihn beobachtet und geleitet, als er sich zusammen mit seiner Freundin, der Frau mit den bezaubernden Ohren, auf dem Suche nach einem außergewöhnlichen Schaf machte. Diese Geschichte eines namenlosen Ich-Erzählers, der zwischen wirklicher, phantastischer und Totenwelt hin und hertaumelt, hat Haruki Murakami in Die wilde Schafsjagd erzählt.

Simone Hamm |
    Damals war die Hauptperson dreißig Jahre alt. Vier Jahre später führt der Mann aus Tokio immer noch ein einfaches, gleichförmiges Leben, arbeitet für verschiedene Firmenbroschüren, PR Magazine und Frauenzeitschriften. Immer stärker aber wird die Erinnerung an das, was vier Jahre zuvor geschehen ist.

    Ich träume oft vom Hotel Delfin. Im Traum bin Ich ein Teil davon. Und zwar als eine Art Dauerzustand. Der Traum sug-g-erlert das ganz deutlich... Das Hotel umhüllt mich. Ich kann seinen Puls fühlen, seine Temperatur spüren. Im Traum bin Ich Teil des Hotels.

    So fängt Tanz mit dem Schafsmann an. Das Hotel Delfin in Sapporo ist Dreh- und Angelpunkt im leben des namenlosen Ich-Erzählers. Hier hat alles begonnen. In dem kleinen heruntergekommenen Hotel in Sapporo hatten der Hotelbesitzer mit seinem Vater, einem Schafsprofessor gelebt, der dem Erzähler und seiner Freundin weitergeholfen hatte. Dieses Hotel ist ein magischer Ort gewesen, irgendwie nicht von dieser Welt.

    Immer stärker wird für den Mann das Bedürfnis, hierhin zurückzukehren. Ihm ist, als werde er von jemanden verzweifelt gerufen. Von seiner Freundin mit den schönen Ohren, die in Hals über Kopf verlassen hat? Ruft ihn diese Traumfrau, die drei verschiedene Berufe hat, die Ohrenmodell ist, im Büro arbeitet, und Callgirl in einem exklusiven Club für die High Society ist? Davon ist der Erzähler restlos überzeugt. Er kehrt zurück. Das Hotel Delfin erkennt er nicht wieder. Es heißt jetzt Dolphin Hotel, ist ein sechsundzwanzigstöckiger Wolkenkratzer aus Glas und Stahl im Bauhausstil. Die Hotelangestellten, die er nach dem alten Delfin Hotel fragt, geben sich zugeknöpft. Sie verbergen etwas. Eine große Hotelkette hatte alles Gelände rundherum aufgekauft, die kleinen Ladenbesitzer verschreckt, ihnen Abfindungen bezahlt. Nur der Besitzer des Delfinhotels hatte lange standgehalten und dann eine einzige Bedingung gestellt, dass das Hotel weiter Delfin Hotel heißen solle. Und das nur aus dem Grunde, damit der Ich - Erzähler es wiederfinden könne. Denn das alte Hotel Delfin existiert weiter. Tief im Inneren des gigantischen Neubaus gibt es einen stockdunklen Gang. Es herrscht Totenstille.

    Ein altes Licht, ein altes Geräusch, eine alte Stimme. - "Ich habe auf dich gewartet," sagte das Etwas," die ganze Zelt sehen. Komm rein." - Ich brauchte die Augen nicht zu öffnen, um zu wissen, wer da sprach. Es war der Schafsmann.

    Jenes Wesen aus einer Zeit, einem anderen Reich (dem Schattenreich?) ist für die Menschen im Allgemeinen unsichtbar. Es existiert nur ihm Verborgenen. Es erklärt dem Mann, das dieser tatsächlich ein Teil des Hotel des Hotel Delfin sei, und das hier alles miteinander verbunden werde, einfach alles, was er verloren habe und noch verlieren werde. Und er gibt ihm einen rat, wie er weiterleben solle:

    Tanzen. Weiterkamen. Und nicht darüber nachdenken, warum du tanzt. Versuche nicht, einen Sinn darin zu finden. Es gibt nämlich keinen. Sobald du nachdenkst, versagen dir die Beine. Und dann kann Ich nichts mehr für dich tun. Deine Verbindung'en lösen sich In nichts auf. Verschwinden für Immer Lind ewig'. Und dann kannst du nur noch In dieser Welt existieren. Wirst allmählich In diese Welt hineingezogen. Ächte also darauf, das deine Füße nicht Innehalten... Tanzen Solange die Musik spielt.

    Haruki Murakami schafft eine eigene Welt, eine phantastische, metaphysische Welt. Br zeigt das Düstere, Unheimliche, ja Übersinnliche des alten Hotels. Dem gegenüber setzt er die kalte Perfektion des neuen. Die Philosophie, so Murakami, ist längst zur Wirtschaftslehre mutiert. Warum sollte der Turbokapitalismus ausgerechnet vor einem heruntergekommenen kleinen Hotel haltmachen? Der gigantischen Neubau ist Symbol der neuen Zeit, glatt, cool, beliebig.

    Murakami ist ein Meister darin, Atmosphären herzustellen. Das schmutzig modrige Zimmer des Schafsmannes kann man geradezu riechen und wenn es kaum noch auszuhalten ist, springt Murakami zurück in die diskrete, kühle Welt der Rezeptionshalle des ^Luxushotels. Aber natürlich existieren die beiden Welten nicht einfach nebeneinander. Es gibt Bruchstellen - immer da, wo man sie am wenigsten erwartet hätte: Auf den ersten Blick ist das bodenständige nette Fräulein von der Rezeption das Gegenstück zu der geheimnisvollen Schönen mit den tollen Ohren. Aber gerade sie ist die erste, die den geheimnisvollen Gang im Hotel beschreitet, der zum Zimmer des Schafmannes führt. Und ein dreizehnjähriges Mädchen, Tochter zweier vielbeschäftigter Künstler, das gelangweilt Walkman hört, spürt Dinge, die den anderen verborgen bleiben. Sie kann sogar in die Zukunft sehen. Und was sie sieht, ist nicht gut. Immer verzweifelter sucht der Ich-Erzähler seine ehemalige Geliebte. Immer sicherer ist er, das sie gar nicht mehr lebt. Da findet er ihr Bild. Sie spielt mit in einem Film, hat eine winzige Rolle neben einem ehemaligen Schulkameraden des Erzählers, der zum Filmstar geworden ist. Er nimmt Kontakt zu dem Schauspieler auf. Der hatte sie über den Callgirlring kennen gelernt. Er lädt den Journalisten ein, bestellt die Freundin der Frau mit den schönen Ohren. Sie weiß auch nichts über die Verschwundene, dafür aber erfährt der Ich- Erzähler etwas anderes:

    Dann kam sie zu mir und tat Dinge, die noch niemand In meinem ganzen vierunddreißigjährihen Leben mit mir gemacht hatte. Gewagte, aufregende Dinge, auf die man nicht so ohne weiteres käme. Doch Irgend jemanden waren sie offensichtlich eingefallen. Meine Nervosität legte sich. Ich schloß die Augen und gab mich ganz dem Strom der Wollust hin. Diese Art von "Sex war ganz anders als alles, was Ich bisher erlebt hatte.

    Wenige Tage später stehen zwei Polizisten vor der Tür. Das Mädchen, das diese aufregenden Dinge mit ihm getan hatte, ist ermordet worden. In einem Hotelzimmer. Gefunden hatte man bei ihr nur ein Portemonnaie. Darin seine Visitenkarte. Haruki Murakami ist sich für kein Klischee zu schade: Der reiche, unglückliche Filmstar, der so allein ist. Das Callgirl, das sich in Gefahr begibt und darin umkommt. Der Kunde, der seinen Preis zu zahlen hat, der in den Katakomben des Polizeipräsidiums verschwindet. Die altkluge Dreizehnjährige, von den Eltern mit viel Geld und wenig Zuneigung bedacht. Doch natürlich spielt Murakami mit diesen Klischees, er bricht sie allesamt, nichts ist das, was es scheint. Düster und unheimlich wie der verborgene Gang im Hotel Delfin ist das Buch. Der Ich - Erzähler wird noch gruseligere Gänge entlanggehen, unheimlichere Räume finden. Und er wird nie erfahren, wie real sie sind. Aber er wird auf unerwartete Weise eine Menge über sich selbst erfahren. Ungeheuer spannend ist der "Tanz mit dem Schafsmann": Kriminalstory, phantastische Literatur und Entwicklungsroman in einem.