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Tanzen auf dem Grat zwischen Literatur und Philosophie

Assoziationen, Impressionen und Erzählungen im Stil von "minimal music" und "short cuts" als Aussagen über Theorien: Funktioniert das? Der Philosoph Martin Seel hat es versucht und ein spannendes, kurzweilig zu lesendes Buch vorgelegt.

Eine Rezension von Hans-Jürgen Heinrichs |
    Martin Seels Buch mit dem schlichten Titel "Theorien" ist weniger Theorie als vielmehr ein leichtfüßiges Umspielen dessen, was Theorien sind: nämlich Anschauungen, Textproduktionen, Auseinandersetzungen mit vorgefundenen Texten, Fortschreibungen und Variationen.

    Der in Frankfurt lehrende Philosoph reflektiert und beschreibt, was mit einem Wort-Produzenten geschieht, der innehält, der sich selbst anschaut, Bruchstücke stehen lässt, ohne den Zwang, alles sinnvoll und in sich kohärent miteinander zu verknüpfen. Das einzig erkennbare äußere Ordnungsprinzip dieses Buches ist die Durchnummerierung der Sequenzen und Kürzestkapitel. Der Zufall scheint dabei stärker als der Wunsch nach Systematisierung zu sein.

    Der Zufall tut seine Arbeit ohnehin, warum ihn also
    nicht für sich arbeiten lassen.
    Was mir zufällt, nehme ich auf und wandle es ab, bis
    es mir gefällt.
    Ich erfülle mir den Traum, zugleich Ordnung und
    UNOrdnung zu halten.


    Der Philosoph nennt seine Satzreihungen auch "eine Art minimal music, die sich ständig selbst unterbricht” oder "short cuts", die sich zu keiner Geschichte verbinden. Natürlich zahlt der Autor auch einen Preis dafür: Die fehlende Fokussierung und Zuspitzung in diesem philopoetisch-assoziativen Traktat haben zuweilen etwas Ermüdendes an sich. Das Buch eignet sich mehr zum Stöbern und Querlesen. Dabei aber wird man reich belohnt.

    "Das Buch soll - aber das sagt jetzt nur der Autor, der Leser ist ja in dem Fall die entscheidende Figur - auf beide Weisen gelesen werden können, nämlich dass man es einfach als eine Sammlung von Stücken nimmt und wo man sich sucht, wo man hängen bleibt, was einen interessiert, und überspringt, was einen eher kaltlässt. Man kann es aber auch, da es eine gewisse Komposition hat, und es gibt ja Passagen, die an einem bestimmten Thema, ob es jetzt die Wahrnehmung, der Schlaf oder die Willensfreiheit sein mag, es gibt so Passagen, die auch eine Weile einen Gedankenzusammenhang entfalten. Also das ist beides möglich, und ich bin froh über jeden Leser, der da offen ist für die offene Form des Buches selbst."

    Martin Seel stellt sich nicht als einen wissenden Produzenten seines Textes, nicht als Herrscher über das Reich der Wörter und Sätze dar, vielmehr als einen Empfangenen, als einen, der auf den richtigen Augenblick wartet und sich berühren lässt.

    Beim Schreiben nahm ich früher den schweren, herkulischen Weg, nahm es mit allem auf, kämpfte mit Hingabe gegen Windmühlen ... Heute weiche ich jeder Schwierigkeit aus, wechsle die Front, das Problem, das Textstück, den Text, sobald sich der Berg nicht zu mir bewegen will ... Ergib dich!, sage ich heute bei meiner Behandlung der Sachen, die ich umkreise.

    Autor und Text warten aufeinander, flirten, bis es funkt. Alles Weitere ist, in Seels Sichtweise, Millimeterarbeit, Arbeit an winzigen Verschiebungen, um so am Ende etwas Großformatiges, etwas, das man auch "Umsturz des Denkens" nennt, anzustreben.
    Dabei bleibt, im Prozess des Schreibens, letztlich alles in der Schwebe. Es kommt dem Schreibenden auf den Prozess und die Bewegung, auf das Unterwegs in der Sprache an. Philosophie als kinetische Kunst. Und als ein Aufspüren der Stellen, an denen das eigene Versagen dem Sagen die Richtung vorgibt.

    In den Fehlern liegt die Tugend; wer keine macht, wird nie etwas richtig machen... Die Schreibenden schreiben nicht, um geschrieben zu haben, sondern um schreiben zu können. Ihr Pensum soll sich nicht erfüllen. Sie wollen nie zum Ende, sondern immer zum Anfang kommen; hier, in dieser Schwebe sind sie zu Hause.

    Gibt es nicht aber doch den Wunsch, die Schwebe in eine Richtung zu beeinflussen, dem tradierten Anspruch der Theorie Genüge zu leisten? Das Bruchstückhafte und Fragmentarische, die Impressionen und Skizzen zu verknüpfen, nicht alles, was ins Gesichtsfeld tritt, auch mitzuteilen, also den Redefluss zu selektieren? Und wieso ist in den vielen Worten auch das "Gift der Arroganz”, wie es einmal heißt, verborgen?

    "Den Wunsch, jetzt stärker systematisch vorzugehen, hatte ich beim Schreiben dieses Buches nicht. Es war der umgekehrte Wunsch, einmal das systematische Schreiben, das ja viele meiner anderen Bücher prägt, zu durchbrechen und zu unterbrechen, gerade durch Blicke auf Gelegenheiten, Gegebenheiten, auch persönliche wie die Demenz meiner Mutter, die nicht sofort in irgendeine Theorie eingebettet werden oder die nicht funktionalisiert werden. Insofern war es schon der Versuch, das wirklich fragmentarisch sein und bleiben zu lassen.
    Das Gift der Arroganz, von dem ich an einer Stelle spreche, ist auch dort noch vorhanden, wo man sehr stark mit der Sprache arbeitet in einem philosophischen Text, und dann aber immer in der Gefahr ist, zu narzisstisch zu sein, gewissermaßen hochmütig gegenüber dem Leser. Es gibt ein schönes Zitat von Wittgenstein aus seinen 'Philosophischen Bemerkungen', das lautet: 'Was der Leser auch kann, das überlass dem Leser.' Ich glaube, man muss auch versuchen, ich habe mich bemüht, ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, auch ein bisschen demütig mit der eigenen Schreib- und Denkkunst umzugehen."

    Martin Seel schreibt über die Lust und die Qual des Schreibens. Er reiht die Sätze wie Perlen aneinander, gemäß der Idee von Ludwig Wittgenstein, dass alle Sätze gleichwertig seien. Man kann sich an jeder Stelle in diese Satz-Gewebe gleichsam einflechten und sich wieder entziehen, zum Co-Autor werden, in freischwebender Aufmerksamkeit Fäden aufgreifen und sie auf eigene Weise weiter spinnen. Alles ist bei Martin Seel so lose und auch unverbindlich gewoben, dass der Leser unendlich viel Raum für die Fantasie und auch für die Erinnerungen an seine Kindheit hat. Und in der Tat öffnet der Autor diesen Raum des persönlich Erlebten immer wieder, zeigt die Kindheit und Jugend als Quelle und Referenzmythos späterer Erzählungen und Mythen von der Welt.

    Ohne Führerschein fuhr ich den klapprigen hellblauen Eicher-Traktor (der formidable Benz hatte den Mähdrescher im Schlepptau) leichten Herzens die steil abfallende Hohe Straße hinab, der Anhänger war randvoll mit dem frisch geernteten Getreide, als sich vor dem Bahnübergang die Schranken senkten. ... Wäre nicht mein Stolz gewesen, der es nicht zulassen konnte, die Fracht meines Onkels in den Sand zu setzen, welche Verlockung wäre es gewesen, allen Widerstand aufzugeben. Einmal nicht den eigenen, von der Kraft der Welt beflügelten Schwung abzubremsen, einmal Anstand und Umsicht fahrenzulassen, mit voller Wucht durch die Schranken zu krachen - ein Abglanz dieser Lust liegt noch in der Willkür des Schreibens.

    Schreiben also als ein Aufbegehren gegen die Konvention, gegen die Einengung des Triebhaften und Ungezügelten, ganz im Sinne von Henry Millers pathetischem Satz "Einmal war man frei, wild, mörderisch”. Zugleich erfährt der Schreibende, selbst wenn er seinen Widerstand aufgibt und der Verlockung zum Anarchischen folgt, die Macht eines anderen Widerstands, der ihm von der Sprache und deren vorgegebener Ordnung entgegenkommt. Da müsse der Autor, so Seels Schlusssätze, über sich hinauswachsen, mehr noch als ein Seiltänzer werden.

    Sich auf dem Seil zu lümmeln, als wäre es der raue Boden, das wäre die Kunst.

    Martin Seels Buch ist ein Übungsbuch, offen für Erfahrungen und Fantasie, eine Einführung in die mögliche Leichtigkeit und Flexibilität des Denkens und des assoziativen und sprachgeleiteten Schreibens; Philosophie auch als Exerzitium und Artistik.

    "Dagegen habe ich keinerlei Einwände. Es gab ja mal in den 80er-Jahren heftige Debatten über Philosophie und Literatur, und die eine Seite sagte, Philosophie ist eigentlich eine Form der Literatur, die andere Seite sagte - auch so in der Tradition der platonischen Kritik an der Rhetorik -, das müsse man ganz strikt trennen. Das ist irgendwie in meinen Augen ja eine verstaubte und verfehlte Debatte gewesen, und ich habe schon versucht, so ein bisschen auf dem Grat zwischen Literatur und Philosophie zu wandeln und vielleicht sogar gelegentlich zu tanzen. Und wenn das der Leser, wenn er diesen Tanz mitmachen möchte, dann wäre ich froh."

    Martin Seel: "Theorien". 256 Seiten. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2009. 19,95 Euro