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Tanzimat-Ära im Osmanischen Reich
Der erste Versuch einer Reform in der Türkei

Seitdem die AKP an der Macht ist, wird die Türkei islamischer - und das, obwohl die Verfassung seit Kemal Atatürk die säkulare Natur des Staates betont. Aber Atatürks Säkularisierung ist nicht vom Himmel gefallen. Schon im 19. Jahrhundert prägte die Reform-Phase „Tanzimat“ das Osmanische Reich.

Von Thomas B. Ibrahim |
Sultan Abdülmecid I.
Sultan Abdülmecid I. leitete 1839 mit dem Edikt von Gülhane die Tanzimat-Reformen ein (imago stock&people)
Das Osmanische Reich zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Noch immer erstreckt sich der islamische Vielvölkerstaat fast über den gesamten Balkan, Teile der heutigen Ukraine und die meisten arabischen Gebiete. Der Niedergang wird jedoch immer deutlicher und bleibt auch den Herrschern in Konstantinopel nicht verborgen. Aufgeschreckt durch territoriale Verluste und den immer größer werdenden Einfluss der europäischen Großmächte außerhalb und innerhalb ihres Reiches, sehen sich die osmanischen Herrscher gezwungen, ihren Staat zu modernisieren.
"Die Reform geht ja schon Ende des 18. Jahrhunderts, Anfang des 19. Jahrhunderts los", sagt Markus Dreßler.

"Reformen, um das riesige Reich zu retten"

Er forscht an der Universität Leipzig unter anderem zur Politik und Gesellschaft des späten Osmanischen Reiches. Ohne Reformen, so Dreßler, war das Riesenreich nicht zu retten.
Serbien und Griechenland haben sich vom Reich gelöst - in der Regierungszeit von Sultan Mahmud II., der 1839 stirbt. Als sein Sohn Sultan Abdülmecid I. die Macht übernimmt, kündigt er weitere umfassende Reformen an, die die Osmanen zurück zu alter Größe führen sollen. Die folgenden Jahrzehnte sind geprägt von diversen Reformerlassen, die das Reich immer weiter von seiner islamischen Identität wegführen. Diese Reformperiode wird heute als "Tanzimat" bezeichnet.
Markus Dreßler steht mit verschränkten Armen vor einer Wand
Markus Dreßler von der Universität Leipzig beschäftigt sich mit der Politik und Gesellschaft des späten Osmanischen Reiches (Privat)
"Tanzimat, als Begriff heißt das so viel wie Neuordnung. Und damit benennt man eine Phase, die 1839 mit einem sehr wichtigen sultanischen Edikt, Edikt von Gülhane, begonnen hat und dann führt bis zur Proklamation der osmanischen Verfassung 1876", so Dreßler.

Vor der Reform: Religionen mit eigener Rechtsprechung

Bei dieser Neuordnung ging es - wie bei vorangegangenen Reformen auch – vor allem darum, die Armee zu modernisieren. Auch das Steuersystem und die Verwaltung wurden neu strukturiert: Geradezu revolutionär war jedoch die Reform des Rechtssystems. Die bis dahin bestehende Herrschaftsordnung basierte nicht nur darauf, zwischen herrschender Klasse und dem Rest zu unterscheiden, sondern auch auf der Unterscheidung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen:
"Es war ganz klar, dass die Bevölkerung in gewisser Weise nach Religionsgemeinschaften unterteilt war. Das war schon in klassisch islamischen Kontexten so und das war auch bei den Osmanen so."
AKP verliert Ansehen: Vom Scheitern des politischen Islams in der Türkei Die AKP brachte den politischen Islam in der Türkei an die Regierungsmacht. Doch von der anfänglichen Begeisterung ihrer Anhänger ist nicht viel übrig geblieben. Weil immer mehr Menschen unzufrieden sind mit dem autoritären Regierungsstil, wächst der Widerwille gegen Religion und Partei.
Die Osmanen folgten dabei einer Tradition, die schon in frühen islamischen Herrschaftskontexten entsteht. Da der Koran Christen und Juden explizit als "Ahl al-Kitab", als "Leute des Buches" erwähnt, werden sie anerkannt, weil sie teilhaben an der Offenbarung. Sie müssen eine Kopfsteuer, die Dschizya, entrichten und sind vom Militärdienst ausgeschlossen. Im Gegenzug können sie ihren Glauben behalten und sich bis zu einem gewissen Maße selbst verwalten.

Gleichheit vor dem Gesetz

"Die Nicht-Muslime, also diese anerkannten Nicht-Muslime, das sind im osmanischen Kontext hauptsächlich Christen und Juden. Die hatten jetzt gewisse Autonomie. Also eine Autonomie in ihren eigenen sozialen Angelegenheiten in ihren eigenen religiösen, religiös-praktischen Angelegenheiten: Ritus, da hat denen in der Regel niemand reingesprochen, so lang es quasi die Muslime nicht tangiert hat. Aber prinzipiell war es Juden und Christen freigestellt, hier zu walten, in ihren Räumen, wie sie wollten. Und dann auch in Bezug auf Rechtsangelegenheiten: Alles, was gemeinschaftsinterne Angelegenheiten anbelangte, haben die unter sich geregelt. Und mit den Tanzimat-Reformen wurde eben eine Gleichheit gegenüber dem Staat und gegenüber dem Gesetz als Ziel formuliert."
Gleichheit vor dem Gesetz war ein revolutionärer Wandel. Es ging nicht länger um einzelne Religionsgemeinschaften, die ihre eigene Rechtsprechung genossen, sondern um Individuen, die vor dem Gesetz alle gleich sein sollten. Dieser Wandel wurde im Edikt von Gülhane ausgerechnet damit begründet, dass die Scharia-Gesetze nicht mehr ausreichend beachtet würden:
"Wie allgemein bekannt, wurden seit den ersten Zeiten Unseres ruhmvollen Reiches die erhabenen Bestimmungen des Koran und die gesetzlichen Vorschriften genau beachtet. Unsere Herrschaft nahm daher an Macht und Kraft zu und alle Untertanen gelangten zum höchsten Grade von Wohlstand und Glück. Seit 150 Jahren aber waren eine Kette von unglücklichen Ereignissen und verschiedene andere Umstände der Grund, dass man abließ, die erhabenen Vorschriften der Scheriat- und Kanun-Gesetze zu befolgen, weshalb sich die frühere Macht und der einstige Wohlstand in das Gegenteil, nämlich in Schwäche und Armut, verwandelten."

Radikaler Bruch mit der islamischen Tradition

Das Abweichen von der islamischen Rechtsprechung, der Scharia, musste dem Edikt zufolge also durch neue Gesetze korrigiert werden. Aber der Erlass neuer Gesetze bedeutete, dass das islamische Recht nicht mehr ausreichte. Die osmanischen Reform-Herrscher waren überzeugt: Gottes Gesetze waren nicht mehr genug. Neue Rechtsprinzipien sollten eingeführt werden, die auf weltlichen Rechtsquellen fußten. Und gerade die rechtliche Gleichstellung aller Untertanen stellte einen radikalen Bruch mit der islamischen Tradition dar. Diese Säkularisierung des Rechts war ein schwerer Schlag für die Würdenträger aller Religionsgemeinschaften und ihre Autorität.
Freitagsgebet in der Hagia Sophia: Die "neo-osmanische" Moschee
Bei der Rückumwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee geht es neben der Religion auch um Nationalismus und Identitätspolitik, so der Religionswissenschaftler Markus Dreßler. Außerdem wolle der türkische Präsident Erdogan so seine Macht sichern, sagte Dreßler im Dlf.
"Bis zum Tanzimat, war es so, dass die Anführer der Religionsgemeinschaften diejenigen waren, die diese Religionsgemeinschaften gegenüber dem osmanischen Staat repräsentiert haben. Also das gab denen eine besondere Macht. Mit der Nivellierung dieses Systems, also mit der formalen Gleichsetzung der Untertanen der Osmanen, wurde dieses System im Prinzip abgeschafft. Das heißt: Die Machtposition des Klerus innerhalb der Religionsgemeinschaften ging quasi schrittweise verloren", so Dreßler.

Wachsender Nationalismus

Istanbul hoffte so, die Loyalität seiner Untertanen zu sichern. Mehr Teilhabe innerhalb des Reiches sollte vor allem den christlichen Untertanen ermöglicht werden. Doch tatsächlich wurde genau das erreicht, was verhindert werden sollte: Die Unabhängigkeitsbestrebungen in den christlichen Gebieten wurden durch die Reformen angeheizt. Christen im Osmanischen Reich forderten: Wenn es Gleichheit geben sollte, dann in Form souveräner Staaten außerhalb des Imperiums.
"Im Prinzip ist das ein langsamer Prozess der Nationalisierung der Religionsgrenzen. Die sozialen und politischen Grenzen zwischen den Religionsgemeinschaften waren ja seit alters her quasi institutionalisiert. Und mit dem politischen Anspruch auf Unabhängigkeit, mit dem politischen Anspruch ein eigenes politisches Wesen, ein eigenes Staatswesen zu gründen und der Idee, eine Nation zu sein, das kam dann zusammen und führte zu nationalistischen Bewegungen."
Politischer Islam in der Türkei: "Erdogan hat die Türkei in eine islamistische Ecke getrieben"
Der türkische Präsident vertritt eine "fundamentalistische Religiosität", kritisiert Susanne Schröter, Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam. Recep Tayyip Erdogan stehe für eine "Vermischung von Nationalismus und Islamismus", er habe "Schritt für Schritt die Gesellschaft unterwandert", sagte Schröter im DLF.
Für diese Bewegungen innerhalb des Osmanischen Reiches war die Religion ein identitätsstiftendes Leitmotiv.
"Das Vorverständnis der Unterschiedlichkeit der verschiedenen Religionsgemeinschaften war etwas, was dann den Nationalismus in der Form möglich gemacht hat. Sodass wir im 19. Jahrhundert nationalistische Bewegungen haben, die fast immer deckungsgleich sind mit vorher bestehenden Religionsgrenzen."
Die Reformen der Tanzimat-Periode konnten das Osmanische Reich nicht retten, zögerten seinen Niedergang aber noch 80 Jahre hinaus und legten einen Grundstein für die laizistische Türkei, die aus dem Reich hervorgehen sollte.