Von außen glänzt das ehemalige Centrum-Warenhaus von Hoyerswerda unversehrt und silbern im retro-schicken Wabenmuster der späten 60er Jahre. Getanzt wird im zweiten Stock, inmitten einer riesigen leeren Etage. Nur drei bodenlange schwarze Tücher, Musikboxen und viele Scheinwerfer machen daraus eine Bühne.
"Ich erinnere mich noch sehr gut, für mich waren die Jahre um die Jahrtausendwende so zäh, so lethargisch ..."
Dorit Baumeister sitzt mit verschränkten Armen am Bühnenrand und wartet auf ihren Einsatz.
"Keiner hat Hoffnung gehabt, keiner hat darüber geredet. Es wollte auch niemand wahrhaben, der einfache Bürger, dem hat es nur wehgetan, keiner hat sich ausgetauscht."
Neben ihr sitzen Anna, die Erzieherin in Cottbus lernt, Beate, eine Hausfrau und Mutter von vier Kindern, und Micha, der Fernfahrer, ist auch schon lange vor der Probe da. Dorit ist Architektin. Seit Anfang der 90er Jahre ist ihre Stadt um die Hälfte geschrumpft: Häuser, Menschen, für viele auch der Lebensmut. Doch ...
"... das Irre an der Stadt ist, was sich dahinter abspielt."
Man muss den Mut haben, sich der Sache radikal zu stellen, man muss auch noch eins drauf setzen, sich dem allen mit Mut und Lebensfreude zu stellen und frech daran zu gehen!
Und deshalb tanzen sie, die Hoyerswerdaer, sie setzen sich mit der pulsierenden Musik des Frühlingsopfers "Le sacre du printemps" von Igor Strawinsky auch neue kräftige Lebensadern: Das spürt man in jeder Bewegung. Aufbruch, Moderne, Trotz und Menschlichkeit – hier steckt alles drin. Carsten, der Mann von Dorit, er tanzt inzwischen auch mit.
"2011 bin ich dazu gekommen und war mir nicht sicher, ob das was für mich ist, seitdem bin ich dabei. Man kommt aus seinem Schneckenhaus heraus, man zeigt sich, auch in der Stadt, es ist auch ein Prozess der Selbstfindung."
Aber ohne jede Esoterik. Ein Maschinenbauingenieur, der täglich 60 Kilometer zu seiner Arbeit fährt und dann noch dreimal in der Woche zu Proben geht, der auch vor einer Videokamera von seinem "sacre du printemps", seinem "Frühlingsopfer" erzählt. Ungewöhnlich? Nicht in Hoyerswerda.
"Ich hab hier nie eine Beschäftigung gefunden, ich hab mein ganzes Leben auswärts gearbeitet, da hat man für den Beruf schon viele Opfer gebracht. Das war tägliche Praxis ..."
"Alles bereit!"
Dirk Lienig, einer von zwei Choreografen, die das Tanzprojekt gemeinsam mit zwei Filmemachern und der Kulturfabrik auf die Beine stellen, ruft alle auf die Bühne.
"Wir haben die Biografie der Neigung, die ureigensten Neigungen, die sich abgerieben haben an der Realität, der Arbeitswelt."
Eine Arbeitswelt, die unmenschlich und brutal sein kann, in der Ärzte, Fernfahrer, Verkäuferinnen und selbst schon Schulkinder gegen Zeit und Erfolgsdruck kämpfen. Von all dem wird erzählt, in den Choreografien, unterbrochen von den kurzen Interviewfilmen mit den Tänzern.
"Ich wollte schon immer gerne zum Zirkus, das hat mir gefallen. Und das hier ist die Hauptattraktion."
"Durch die Einblicke, die sie uns geben in ihr Privatleben, in ihre Arbeitswelt, daraus können wir schöpfen."
In Hoyerswerda tanzen Laien aus allen Berufen und jeden Alters regelmäßig zusammen und sie erzählen immer wieder über neue Seiten ihres Lebens. Und wie sie das machen, geht tief unter die Haut.
"So ein Projekt holt sie ab, lässt sie aktiv teilhaben, als Autoren, ihre Meinung ist wichtig, sie wird geteilt, man entdeckt neue Sichtweisen, Perspektivwechsel, davon profitieren alle, denn jeder geht damit nach Hause, zu Familien und Freunden und teilt das weiter."
Hoyerswerda tanzt. Und das bringt jede Menge in Bewegung, die Körper, die Gedanken, die Netzwerke einer ganzen Stadt. Dorit, die Architektin:
"... ohne dass wir wissen, wie es in 20 Jahren aussieht. Es ist noch nicht der Trend gestoppt, aber wir leben heute. Wir wollen Spaß haben und verrückte Sachen machen. Und das machen wir. Punkt!"