Für manche Neurobiologen gehört es zu den faszinierendsten Eigenschaften des menschlichen Gehirns, dass es sich selbst analysieren und dabei beobachten kann, welchen Denkschemata es folgt. Dieses Denken über das Denken selbst hat nun auch Starchoreograf Sidi Larbi Cherkaoui praktiziert und festgestellt: Viel zu voll da oben, das Hirn müsste dringend entrümpelt werden. Täglich, so doziert ein Tänzer in einer Textsequenz an diesem Abend, lässt sich der Mensch zerstreuen und manipulieren von Fernsehtrash und Politpropaganda. Und was Cherkaoui hier kritisiert, nämlich die Indoktrination, probiert er dann ironischerweise gleich selbst. Wie ein Priester wendet er sich gegen Ende des Abends mit einer Ansprache an das Publikum, plädiert für mehr Leere im Kopf und zeigt dann wie es geht: mit furios-entfesseltem Tanz.
Schon immer hat Cherkaoui in seinen Stücken nicht nur für die Miseren der Gegenwart einen choreografischen Ausdruck gefunden, sondern die Zuschauer auch mit positiven Botschaften beglückt. Er hat die Schönheit und Kraft der Spiritualität zelebriert oder die Utopie einer transkulturellen Harmonie. Auch das verhalf ihm zu immenser Popularität und seit Anfang dieses Monats einem neuen Posten als Direktor des Königlichen Balletts Flandern. In seiner aktuellen Choreografie für seine Kompanie Eastman ist es nun also die Lehre von der Befreiung des Geistes durch den Körper, sprich: ein Lobpreis des Tanzes. Für den geht er mal wieder selbst auf die Bühne, und noch immer ist Cherkaoui das charismatischste Tanz-Chamäleon der Szene. Ob Tango, indischer Kathak oder asiatische Kampfkunst – Cherkaoui brilliert in allen Stilen. In "Fractus V" wirft er sich mal eben souverän in ein erotisches Flamenco-Duo. Dann imitiert er den eigenwilligen Popping-Stil eines jungen HipHopper aus Deutschland. Cherkaoui folgt dessen scheinbar gelenklosen Umhergleiten und den verblüffend kleinteilig-zarten Armbewegungen – eine perfekte Mimikry.
Das Kopieren ist ein choreografisches Konzept des Abends und es bestimmt jeden der virtuosen fünf Tänzer – allesamt männlich übrigens, als sei die Emanzipation des Intellekts eine reine Männermission. Ein Solist gibt einen Stil vor, der Rest der Gruppe macht mit. Ästhetische Gleichschaltungen, deren Ambivalenz Cherkaoui subtil markiert: Dann wird aus der beflügelnd-solidarischen Peergroup auch schon mal das übergriffig-normierende Kollektiv. Genauso oft aber bleibt es friedlich und die Tänzer harmonieren etwa als fantastisch choreografierte Body-Percussion-Gruppe – einer der schönsten Momente des Abends. Etwas albern dagegen Choreografien, in denen die Tänzer mit Actionfilm-Kämpfen von der hirntötenden Überpräsenz der medialen Gewalt erzählen, oder gar die skandalöse Szene imitieren, in der jüngst eine ungarische Kamerafrau einem Flüchtling ein Bein stellte. Für Cherkaoui ist das offenbar ein Sinnbild für die Manipulationen des Fernsehens - ein verrutschter Versuch von ihm am Puls der Zeit zu sein. Aber immerhin: Das Timing ist perfekt an diesem Abend und jede Szene ist grandios getanzt und akustisch begleitet: Drei Musiker vermischen ihre jeweiligen Folklore-Einflüsse aus Japan, Korea und Indien zu einem aufregenden Soundtrack, in dem jeder Solist mit seinem Stil hörbar bleibt. Individuelle Freiheit trotz kooperativer Fusion – hier wird Cherkaouis Ideal als Klang- und Tanzgemeinschaft verwirklicht. Ein bisschen sozialromantisch ist das schon, aber letztlich plädiert Cherkaoui diesmal ja ohnehin fürs grübelfreie Genießen: Mit einer sinnlichen Hommage an die Kraft des Tanzes, uns manchmal von der Last des Geistes zu befreien.