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Tanzwunder im Südwesten

Sie setzen unterschiedliche Akzente: die Delattre Dance Company an den Mainzer Kammerspielen und die Kompagnie der niederländischen Choreografin Nanine Linning am Heidelberger Staatstheater. Für die Tanzszene sind beide ein Gewinn.

Von Natali Kurth | 21.01.2013
    Zwei neue Kompanien im Südwesten, das grenzt an ein Wunder. Allerdings: Man kann sie nicht über einen Kamm scheren, denn es gelten völlig unterschiedliche Bedingungen. In Mainz hat sich neben dem Staatstheater die Delattre Dance Company in den Mainzer Kammerspielen als freie Truppe installiert. In Heidelberg engagierte der neue tanzbegeisterte Intendant Holger Schultze die niederländische Choreografin Nanine Linning an sein gerade komplett neu renoviertes und wiedereröffnetes Stadttheater.

    Künstlerischer Direktor der neuen siebenköpfigen Company ist der 30-jährige Franzose Stéphen Delattre. Delattre tanzte unter anderem in Stücken von Nacho Duato und Itzik Gallili. Zuletzt war er Solist bei Pascal Touzeau am Mainzer Staatstheater. 2012 kam es zum Bruch. Stéphen Delattre, der immer auch choreografierte – zum Beispiel für Katja Wünsche oder Bridget Breiner - sah in der Krise für sich eine Chance, sich intensiv um ein eigenes Ensemble zu kümmern. Das klingt geradezu verwegen im Bundesland Rheinland-Pfalz, das faktisch keine freie Tanzszene hat. Es gibt zwar einzelne Choreografen, die wie Sternschnuppen ab und an aufleuchten, aber dann mangels Geld und Aufführungsmöglichkeiten wieder in der Versenkung verschwinden. Bei Stéphen Delattre könnte es klappen. Er hat sich von Anfang an perfekt organisiert. Großes Vorbild ist die Eric Gauthier Company in Stuttgart:

    "Es stimmt, Stuttgart ist ein gutes Beispiel zu sehen, dass es möglich ist, ein Staatstheater zu haben und dazu noch eine freie kleinere Kompagnie. Warum soll Mainz nicht auch die Wahl haben. Es ist gut für die Tänzer, die Choreografen, das Publikum, zwei Direktionen zu haben, die sich komplett unterscheiden, aber gut ergänzen."

    Stéphen Delattre ist ehrgeizig, hat Mut, ein gutes Netzwerk, hervorragende Kontakte und: Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort –nämlich in den Mainzer Kammerspielen. Einem etabliertem Haus mit einer langen Tanztradition. Seit dem Tod der langjährigen Hauschoreografin Nancy Seitz-McIntyre vor sechs Jahren suchte man vergeblich eine Nachfolge. Jetzt hat der Topf einen Deckel gefunden. Und der passt genau. Die ausverkaufte und umjubelnde Premiere des Tanzabends "xChange" zeigt: Das Konzept geht auf. Stéphen Delattre hat die nötige Freiheit für seine Projekte, arbeitet allerdings auf eigene Rechnung und eigenes Risiko. Außerdem kümmert er sich um Musik, Bühnenbild und Kostüme.

    Sein jetzt vorgestelltes Stück "The art of expression" ist ein kleiner Seitenhieb auf die Presse. Vier Tänzer in aquarellierten Shirts sind die Künstler. Die anderen, die mit den blutigen Händen, sind die Kritiker. Mit festem Griff rammen sie die Kunst in den Boden. Stéphen Delattre tanzt blitzschnelle Muster in den Raum, wehrt sich gegen die Buchstaben, die sich im Hintergrund auf einer Leinwand zu harten Kritikerworten formieren.

    Charakteristisch für Delattre: Er durchmischt klassische und zeitgenössische Elemente, zeigt einen eigenen kreativen, athletischen Stil und er kann fantasievoll erzählen. Man merkt zwar, dass die Tänzer sich noch aufeinander einspielen müssen. Aber ihre Individualität kann auch eine Chance sein. Die Delattre Dance Company ist ein Glücksfall für Mainz.

    In Heidelberg baumeln derweil leblose Gestalten in bizarren Stellungen über der Bühne. Verkohlt, verkrampft, vergessen von der Welt, schweben sie schwerelos in der Atmosphäre. Unten setzt eine Mannschaft maskierter Außerirdischer zum Sprung an. Aufgeblasene Masken verdecken die Gesichter der zehn Tänzer, die sich animalisch heranpirschen wie tollwütige Wölfe, unverständliche Töne ausspucken und mit aufgerissenen Mäulern Luft in ihre Körper pumpen. Später hängen sie artistisch an Seilkonstruktionen, bevor sie in endlos fließenden Bewegungen, Schleifen und Wellen in eine neue Zeitrechnung gleiten. Nach dem Urknall zurück auf Null.

    In dieser spektakulären Arbeit "Zero" bringt die neue Heidelberger Tanzchefin Nanine Linning die Apokalypse und das, was danach kommt, auf die Bühne und überzeugt in jeder Hinsicht: tänzerisch, choreografisch, bildlich. Ein Ausrufezeichen für das deutsche Tanztheater. Und das ausgerechnet in Heidelberg, wo der Tanz so lange Stiefkind war.

    Möglich gemacht hat das der neue Intendant Holger Schultze. Bereits in seiner Intendanz in Osnabrück arbeitete er mit großem Erfolg mit Nanine Linning zusammen und weiß daher, auf was und wen er sich einlässt und wie hoch er pokern kann. Sehr hoch! Außerdem steht er mit Leib und Seele hinter dem Tanz und das stärkt die Sparte:

    "Ich denke, es ist ungeheuer wichtig für die Stadt, eine eigene Tanzcompany zu haben, weil da die Identifikation sehr groß ist. Weil eine Kompanie auch stilbildend sein kann in einer Stadt. Man kann es auch ganz sachlich in Zahlen ausdrücken: Bei der Kooperation mit Freiburg gab es circa 2500 Zuschauer. In diesem Jahr – also jetzt, das merkt man schon, weil der Vorverkauf sehr weit fortgeschritten ist - haben wir 10.000 Zuschauer. Also man merkt, wie die Tanzbegeisterung in Heidelberg wächst."

    Das Erstaunliche ist: Die neue Company von Nanine Linning kostet, so Holger Schultze, mit 300.000 Euro keinen Cent mehr als die ehemals ungeliebte Kooperation mit Freiburg, die derzeit offiziell ruht. Dort gibt es jetzt kein eigenes Ensemble mehr, sondern man hat eine Kuratorin installiert, die versucht, einzelne zeitgenössische Tanzprojekte in der Stadt zu realisieren. Das braucht Heidelberg jetzt nicht mehr zu interessieren. Mit Nanine Linning und ihrer Produktion "Zero" ist nun offiziell der Startschuss gefallen in eine neue Tanzära. Mit auf einen Schlag gleich zwei neuen Kompagnien setzt sich der Südwesten Deutschlands jetzt - hoffentlich nachhaltig - in Szene.