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Tarifeinheitsgesetz
"Es geht nicht weit genug"

Der Vorsitzende der Unions-Mittelstandsvereinigung, Carsten Linnemann, hat das Tarifeinheitsgesetz als nicht ausreichend kritisiert. Das Gesetz gehe zwar in die richtige Richtung, sagte er im Deutschlandfunk. Es fehlten aber Rahmenbedingungen für Streiks. Unter anderem forderte Linnemann eine Ankündigungsfrist von vier Tagen.

Carsten Linnemann im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Carsten Linnemann (CDU), Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU, spricht in Köln beim Bundesparteitag der CDU
    Der CDU-Politiker Carsten Linnemann (pa/dpa/Kappeler)
    Linnemann erklärte, er stehe mit seiner Meinung innerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht alleine da. "Wir müssen auch über die Verhältnismäßigkeit reden", sagte er. In dem Gesetz, das heute vom Bundestag verabschiedet werden soll, fehlten Verfahrensweisen, wie mit Streiks umgegangen werden müsse. Es müsse eine Balance geben zwischen Grundrechten der Gewerkschaften und Rechten von Dritten, womit er die unmittelbar von Streiks betroffenen Personen meinte.
    Die Bürger müssten bei Streiks im Bereich der Daseinsvorsorge, wozu er Kindertagesstätten zählte, und der kritischen Infrastruktur im Voraus informiert werden. "In Italien gibt es eine Zehn-Tage-Ankündigungsfrist. Wir fordern vier Tage", sagte Linnemann. Außerdem müsse es bereits vor Streikbeginn einen Schlichterspruch geben.
    Das Tarifeinheitsgesetz enthält Regelungen für Konflikte konkurrierender Gewerkschaften innerhalb eines Betriebes. Können diese sich nicht einigen, sieht das Gesetz vor, dass der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern zum Zuge kommt. Kleinere Berufsgewerkschaften wie die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die Pilotenvereinigung Cockpit und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund haben bereits Verfassungsklage angekündigt.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Die Tarifverhandlungen zwischen der Deutschen Bahn und der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG sind in der Nacht auf kommenden Mittwoch vertagt worden. Es gibt Annäherungen, es hakt aber noch bei den Lohnforderungen. Am Mittwoch beginnt außerdem die Schlichtung zwischen Bahn und der Gewerkschaft GDL. Die Reisenden können vorerst erst einmal aufatmen. Apropos GDL: Der Deutsche Bundestag stimmt heute über das Tarifeinheitsgesetz ab. Den Inhalt des Textes könnte man so zusammenfassen: Ätsch, Herr Weselsky.
    Am Telefon ist Carsten Linnemann, Mitglied des Bundestagsausschusses Arbeit und Soziales und Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU. Guten Morgen!
    Carsten Linnemann: Guten Morgen, Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Linnemann, stimmen Sie heute über eine Lex Weselsky ab?
    Linnemann: Nein. So einfach kann man es sich nicht machen. Ich meine, wir haben seit 2010 dieses Urteil vom Bundesarbeitsgericht, dass der Grundsatz, der seit mehr als 50, rund 60 Jahren gilt, ein Betrieb, ein Tarifvertrag, aufgehoben wird und wurde, und wir sehen jetzt auch an der einen oder anderen Stelle, auch beim Thema GDL und EVG, was passieren kann. Das sind Andeutungen und man will hier vorweggreifen und eine Regel schaffen, damit in Zukunft dieses Prinzip ein Betrieb, ein Tarifvertrag wieder gilt.
    Heinemann: Also doch Lex Weselsky?
    Linnemann: Nein! Das Urteil ist aus dem Jahre 2010. Wir diskutieren jetzt schon länger darum. Wir müssen das jetzt umsetzen. Es gibt unterschiedliche Meinungen, es gibt unterschiedliche juristische Meinungen. Meiner Meinung nach geht das Gesetz nicht weit genug. Auch die Meinungen gibt es und ich stehe da nicht alleine in der Fraktion, und deswegen gehen wir das jetzt an.
    "Es gibt auch Grundrechte Dritter und die müssen auch geschützt werden"
    Heinemann: Was fehlt?
    Linnemann: Ich glaube, dass wir auch über die Verhältnismäßigkeit reden müssen Dritter. Denken Sie an die Streiks jetzt im Kita-Bereich, wo es um die Daseinsvorsorge geht, denken Sie an die Bahn, da geht es um die kritische Infrastruktur. Da, meine ich, fehlen in Deutschland Rahmenbedingungen. Es fehlen Verfahrensweisen, wie wir mit Streiks umgehen, beispielsweise bei Kitas, dass man früh genug weiß, wann gestreikt wird, oder bei der Bahn. Es kann nicht sein, dass man wenige Stunden oder einen Tag vorher weiß, jetzt wird gestreikt. Stellen Sie sich mal vor, wir hätten jetzt die Abiturzeit, junge Leute wollen mit der S-Bahn zur Schule, können ihre Prüfungen nicht machen, Bewerbungsgespräche. Also es gibt auch Grundrechte Dritter und die müssen auch geschützt werden.
    Heinemann: Streiks tun nun mal weh. Das liegt in der Natur der Sache.
    Linnemann: Richtig. Und Streiks müssen auch wehtun und müssen auch in Zukunft wehtun. Aber es muss doch eine Balance geben zwischen den Grundrechten. Ja, es gibt ein Grundrecht Koalitionsfreiheit, aber es gibt auch ein Grundrecht für Dritte. Die müssen auch geschützt werden und man sieht ja in anderen Ländern, dass es beispielsweise eine Ankündigungspflicht gibt von einigen Tagen. In Italien sind es zehn, wir fordern vier Tage. Oder, dass es eine gesetzlich klar geregelte Notfallversorgung geben muss. Man sieht ja im Bereich Kita, was da passiert. Oder, dass es - für mich am wichtigsten - zumindest mal einen Versuch eines Schlichterspruches gibt. Wir haben jetzt den neunten Streik bei der GDL und man hat den Eindruck, dass man gar kein ernsthaftes Interesse lange hatte, überhaupt einen Schlichterspruch oder in ein Schlichterverfahren erst mal zu gehen. Es gab keine Transparenz und diese Dinge fehlen meines Erachtens.
    Heinemann: Und über gute und schlechte Streiks soll der Gesetzgeber entscheiden?
    Linnemann: Nein! Im Kern bleibt ja das Streikrecht gleich. Der Streik muss wehtun. Aber es kann doch nicht sein, wie jetzt beispielsweise bei der Bahn, dass es faktisch nicht mehr gegen den Arbeitgeber geht, also gegen die Bahn, sondern dass die GDL faktisch gegen die EVG streikt.
    Heinemann: Was spricht denn gegen den Wettbewerb um den besten Tarifvertrag?
    Linnemann: Es geht im Kern auch um den Betriebsfrieden. Wir reden beispielsweise über Equal Pay bei der Zeitarbeit, und hier müssen wir uns die Frage stellen: Wollen wir wirklich eine Ordnung haben, dass beispielsweise ein Lokführer 38 Stunden arbeitet, der andere 36 Stunden, oder wollen wir auch das hohe Gut der Tarifeinheit, das auch mit Betriebsfrieden zusammenhängt, geschützt wissen. Das hat 50, 60 Jahre sehr gut funktioniert und deshalb ist dieses Gesetz ein richtiger Schritt. Man muss abwarten. Ja, es gibt juristisch unterschiedliche Meinungen. Es wurde gerade angesprochen. Di Fabio sieht es kritisch, Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sieht es anders. Aber im Kern ist es richtig, aber es ist zu wenig. Wir brauchen weitergehende Regelungen im Bereich der Daseinsvorsorge und bei der kritischen Infrastruktur.
    Heinemann: Stichwort: Wie groß ist denn die Chance, dass Ihr "richtiger Schritt", dieses Gesetz, in Karlsruhe dann durchfällt am Ende?
    Linnemann: Das kann ich nicht einschätzen. Ich bin von Hause aus Volkswirt. Ich war bei der Anhörung mit dabei. Herr Papier wie gesagt hat gesagt, die Minderheitenrechte werden ganz klar geschützt. Es gibt ein Anhörungsrecht, es gibt auch ein Nachzeichnungsrecht. Das heißt, jede auch kleinere Gewerkschaft kann nachzeichnen. Das heißt, keiner wird schlechter gestellt als die andere Gewerkschaft im Betrieb. Und Herr Papier sagt, es reicht aus. Es gibt andere Juristen, die das anders sehen. Das muss man abwarten. Das haben Sie wie so oft. Ich bin jetzt seit sechs Jahren im Bundestag. Das war nicht die erste Anhörung, die ich erlebt habe, wo Juristen unterschiedliche Meinungen hatten.
    Heinemann: Sie stimmen heute unter Umständen einem verfassungswidrigen Gesetz zu?
    Linnemann: Nein! Ich stimme dem zu, weil es eine klare Aussage gibt, auch von dem Verfassungsressort, aus dem Ministerium von Herrn de Maizière, das ganz klar gesagt hat, dass das verfassungsgemäß ist, und darauf muss ich mich dann verlassen und deshalb stimme ich zu.
    Heinemann: Wäre ja nicht das erste Gesetz, das trotz der Bekundung der Regierung durchfällt. Schauen wir uns mal gerade die Grundlage an. Das ist Artikel neun Absatz drei des Grundgesetzes. Ich bin auch kein Jurist, aber wir können ja beide lesen. "Das Recht zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, Vereinigungen zu bilden, ist für Jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig. Hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig." Das sind relativ deutliche Worte, Herr Linnemann, selbst für Nichtjuristen.
    "Kernproblem für mich ist, dass wir in der Bevölkerung eine Erwartungshaltung wecken"
    Linnemann: Exakt. Das ist faktisch ein Recht ganz klar auf Koalitionsfreiheit, ein Recht, Gewerkschaften zu gründen. Aber gleichzeitig gibt es auch ein Recht, die Tarifautonomie zu wahren und auch zu lenken, und das sind zwei Rechte, die ausgewogen sein müssen, wo die Balance stimmen muss. Und die Balance meiner Meinung nach stimmt: Die kleinere Gewerkschaft hat auch in Zukunft die Chance, ganz klar mitzureden. Sie hat Rechte, die, so sagen Juristen, unter anderem Herr Papier, ausreichend sind. Sie können sich übrigens auch abstimmen mit den anderen Gewerkschaften. Vielleicht wird es ja so ausgehen, dass die sich abstimmen und dadurch noch stärker werden. Das weiß man ja nicht, da gibt es auch unterschiedliche Einstellungen.
    Kern für mich oder das Kernproblem ist jetzt nicht in erster Linie, dass ich die Tarifeinheit wiederherstelle. Ich glaube, das ist der richtige Schritt. Kernproblem für mich ist, dass wir in der Bevölkerung eine Erwartungshaltung wecken. Die Bevölkerung erlebt jetzt den neunten Streik und hat den Eindruck, dass die gar nicht daran ein ernsthaftes Interesse haben, sich zu einigen. Und meines Erachtens stimmt das. Dieser Erwartungshaltung werden wir nicht gerecht. Dieser Erwartungshaltung werden wir dann gerecht, wenn wir Rahmenbedingungen für Streiks definieren, die es überall im Ausland gibt, die ich gesagt habe: eine Ankündigungspflicht, dass ganz klar auch ein Schlichterspruch erst mal da sein muss, bevor ich streike. Ich bin mir sicher, dass wenn man schon vor dem ersten oder vor dem zweiten Streik zumindest mal versucht hätte - es gab ja überhaupt gar keinen Versuch, zu einem Schlichterspruch zu gelangen -, und es wäre offen gewesen und auch die Mitglieder der GDL (Anmerkung der Redaktion: Im Live-Interview sagte Linnemann EVG statt GDL. Linnemann hat sich nach eigenen Angaben versprochen. Dies haben wir auf seinen Wunsch hin in der Online-Version korrigiert) hätten das mitbekommen, die ja über 30.000 Mitglieder haben, glaube ich, hätten wir mehr Transparenz und die Tarifeinheit wäre stärker geschützt und wir hätten auch die Daseinsvorsorge und die kritische Infrastruktur auch der Beschäftigten.
    Heinemann: Herr Linnemann, Sie haben eben von der kleineren und der größeren Gewerkschaft gesprochen. Wie wollen Sie überhaupt ermitteln, wer in welcher Sparte oder in welchem Betrieb wie gewerkschaftlich organisiert ist? Das ist ja nicht vorgeschrieben, das offenzulegen. Findet da so eine Art Volkszählung statt im jeweiligen Betrieb?
    Linnemann: Nein. Man kann es ja jetzt grundsätzlich feststellen. Ja, das ist ein Kritikpunkt auch derjenigen, die das ablehnen, weil ja keiner dazu verpflichtet ist. Ich meine, wenn Sie sich die Bahn ansehen, da sieht man jetzt schon von 300 Betrieben: In 280 Betrieben hat die EVG die Mehrheit und in 20 Betrieben die GDL. Das muss man sehen. Das ist übrigens ein Ähnliches, was heißt Problem, wie die Frage, wie definiert man überhaupt einen Betrieb. Auch da gibt es Verfahrensregeln, die sind im Betriebsverfassungsgesetz festgelegt, wo es um den Arbeitsbereich geht und so weiter, und daraus ableitend kann man dann auch die andere Frage beantworten. Aber das muss man dann sehen.
    Heinemann: Diejenigen, die kritisieren, dass hiermit das Streikrecht eingeschränkt wird, sagen, in Zukunft ist jeder Streik einer kleineren Gewerkschaft, die neben der größeren ja verhandelt, aber nicht abschließen kann, automatisch unverhältnismäßig.
    Linnemann: Ja! Aber noch mal: Die kleinere Gewerkschaft hat nicht nur ein Anhörungsrecht, sondern ich meine, die größere Gewerkschaft hat doch mindestens die gleichen Interessen, wenn nicht noch größere, weil sie natürlich auch größer ist, etwas durchzusetzen im Tarifvertrag, und die kleinere Gewerkschaft, wenn es wirklich nicht zu einer Abstimmung kommt, kann diesen Tarifvertrag immer abzeichnen.
    Heinemann: Aber, Herr Linnemann, wer wird denn noch Mitglied einer Gewerkschaft, die niemals einen Tarifvertrag abschließen kann?
    Linnemann: Das wissen Sie doch heute nicht, wie es sich entwickelt. Es kann doch auch sein, dass die Gewerkschaften sich in Zukunft abstimmen, dass Verdi und Marburger Bund sagt, wir stimmen uns jetzt ab und werden dadurch noch stärker. Das wissen Sie nicht. Nur auf der anderen Seite kann es doch nicht sein, dass es unterschiedliche Tarifverträge für die gleichen Arbeitnehmergruppen gibt, dass wirklich ein Zugführer, der die gleiche Arbeit macht wie der Kollege, ein anderes Gehalt bekommt, dass der weniger Stunden arbeitet. Das stört doch den Betriebsfrieden, das ist doch offenkundig.
    "Es hat 50, 60 Jahre funktioniert, die Tarifeinheit in Deutschland"
    Heinemann: Steht aber nicht im Grundgesetz, dass das nicht funktionieren würde.
    Linnemann: Im Grundgesetz steht aber auch, dass es Rechte gibt auch für Dritte. Und noch mal: Es hat 50, 60 Jahre funktioniert, die Tarifeinheit in Deutschland. Und das Bundesarbeitsgericht hat ja gesagt, dass das Tarifvertragsgesetz keinen vorgehenden allgemeinen Grundsatz der Tarifeinheit enthalte. Damit sagt es ja implizit, der Gesetzgeber muss nachbessern. Und es hat ja 50 Jahre auch funktioniert und deshalb bessern wir heute nach.
    Heinemann: Carsten Linnemann von der CDU, Mitglied im Bundestagsausschuss Arbeit und Soziales und Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der Union. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Linnemann: Danke, Herr Heinemann.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.