Baum sagte, das Gesetz sei so offensichtlich verfassungswidrig, dass er sich über die heutige Debatte im Bundestag nur wundern könne. Beim Streikrecht und der Tarifautonomie handele es sich um eherne Verfassungsgrundsätze, die nicht verletzt werden dürften. Die Streiks der vergangenen Wochen würden schlimmer gemacht, als sie seien. "Wir haben keine dramatische Streikbilanz."
Das heute beschlossene Gesetz sieht vor, dass in einem Betrieb mit konkurrierenden Gewerkschaften nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern gilt. Gerichte können Streiks der Minderheitsgewerkschaft verbieten.
Baum äußerte Zweifel daran, wie geklärt werden soll, welche Gewerkschaft in einem Betrieb die meisten Mitglieder hat. Da greife man in die Datenschutzrechte der Mitglieder ein. Zudem schüre das Gesetz den Konkurrenzkampf unter den Gewerkschaften. "Jetzt wird ein Kampf um Mitglieder stattfinden: Wer hat die Mehrheit und wer hat die Minderheit?", sagte Baum. Die Pilotengewerkschaft Cockpit will nach den Worten von Baum gegen das Tarifeinheitsgesetz klagen.
Das Interview in voller Länge:
Martin Zagatta: Die Große Koalition will den Einfluss kleiner, durchsetzungsstarker Spartengewerkschaften eindämmen, dadurch sollen Streiks in rascher Folge wie aktuell bei den Lokführern oder auch bei den Piloten mit erheblichen Einschränkungen für das öffentliche Leben und die Wirtschaft erschwert werden. Die Opposition und einige Gewerkschaften halten das Gesetz für verfassungswidrig, die Abgeordneten der Großen Koalition haben es aber am Vormittag verabschiedet.
Am Telefon ist der frühere Innenminister Gerhart Baum, der als Anwalt für die Pilotengewerkschaft Cockpit tätig ist und dieses Tarifeinheitsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht stoppen will. Guten Tag, Herr Baum!
Gerhart Baum: Guten Tag!
Zagatta: Herr Baum, haben Sie die Klage gegen dieses Gesetz, haben Sie die schon in der Schublade?
Baum: Ja, wir arbeiten daran. Und das Gesetz ist so offensichtlich verfassungswidrig, dass mich die Debatte nur verwundert. Man muss doch nur sich vor Augen führen, wenn letztlich eine Mehrheit entscheidet, ist die Minderheit ausgeschlossen. Die kann keinen Arbeitskampf mehr führen, da kann Frau Nahles drum herumreden, wie sie will. Das ist auch das Ziel des Gesetzes. Unser Streikrecht, die Tarifautonomie ist ein eherner Verfassungsgrundsatz. Die Löhne werden nicht von irgendjemandem diktiert, sondern sie werden ausgehandelt. Und zum Aushandeln gehört als Ultima Ratio der Arbeitskampf. Und es ist auch überhaupt nicht Lebenswirklichkeit, dass in einem Betrieb gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird. Man gucke sich nur die Automobilherstellung an, an den Fließbändern stehen Leute mit ganz unterschiedlichen Tarifverträgen!
Zagatta: Aber neun Streiks wie jetzt bei der GDL, neun Streiks in ein- und demselben Tarifkonflikt, neunmal Millionen von Pendlern und Reisenden in eine Art Geiselhaft zu nehmen, erscheint Ihnen das nicht auch irgendwo übertrieben?
Baum: Ja, natürlich ist das übertrieben, aber Sie müssen die Ursachen feststellen! Der Weselsky hat ja dafür gekämpft, dass er für alle seine Mitglieder abschließen kann. Er hat also gegen das Tarifeinheitsgesetz gekämpft. Denn wenn das Gesetz kommt, wird seine Gewerkschaft in einer ganzen Reihe von Bereichen der Bahn bedeutungslos. Und das ist also eine Sondersituation. Wir haben keine dramatische Streikbilanz in Deutschland, die Gewerkschaften haben sich im Großen und Ganzen an dem Gemeinwohl orientiert. Das wird jetzt alles dramatisiert und im Grunde ist das Gesetz auch gar nicht praktikabel. Es sind ja nicht nur einige, die das Gesetz bekämpfen, die Richtervereinigung, die Anwaltsvereinigung, viele Wissenschaftler haben das gesagt. Und das Gesetz ist auch insofern schwierig zu handhaben, als sie eine Mehrheit erst mal feststellen müssen. Da greifen sie in die Datenschutzrechte der Mitglieder ein. Müssen die denn ihre Mitgliedschaft offenbaren? Wer prüft das nach? Alles in einem Eilverfahren mitten in einem Streik! Und in den Anhörungen ist immer wieder darauf hingewiesen, der Betriebsfrieden wird nicht gefördert, sondern er wird gestört, denn jetzt wird ein Kampf um Mitglieder stattfinden, wer hat die Mehrheit und wer ist die Minderheit?
Baum: Ungleiche Löhne für den gleichen Job stören den Betriebsfrieden nicht unbedingt
Zagatta: Aber stört man nicht gerade den Betriebsfrieden, wenn man für exakt die gleiche Arbeit, wie das bei den Lokführern ja dann vielleicht in Zukunft der Fall ist, für exakt die gleich... für exakt den gleichen Job dann den einen zugesteht, dass sie weniger arbeiten müssen und vielleicht sogar noch mehr Geld bekommen? Das stört doch den Betriebsfrieden!
Baum: Nein, das ist nicht unbedingt der Fall. Es gibt ja auch unzählige Betriebe, wo das praktiziert wird. Und es gibt verschiedene Schwerpunkte, die einen legen mehr Wert auf Lohn, die anderen mehr auf Freizeit, also auf die Arbeitszeitregelung. Das ist doch keine dramatische Situation, die zu einem Verfassungsverstoß Anlass gibt! Das ist ein Verfassungsverstoß und das wird das Gericht zu bewerten haben! Und wir werden auch für Cockpit versuchen, das Inkrafttreten des Gesetzes zu hindern durch eine einstweilige Anordnung. Cockpit ist zwar in der Mehrheit bei der Lufthansa, aber in der Minderheit bei anderen Unternehmen.
Zagatta: Also, dass das Gesetz erst gar nicht in Kraft treten kann?
Baum: Nein, das Gesetz sollte nicht in Kraft treten. Es ist so offensichtlich verfassungswidrig, dass ... und das auch noch von einer Sozialdemokratin vertreten, das verwundert mich doch sehr!
Zagatta: Herr Baum, jetzt abgesehen da von juristischen Feinheiten: Machen Sie sich nicht, wenn Sie da jetzt für die Piloten zum Beispiel eintreten, zum Gehilfen von Berufsgruppen, die eben das Glück haben, dass sie über ein ganz, ganz hohes Erpressungspotenzial verfügen?
Baum: Ja, wer hat denn das sogenannte Erpressungspotenzial nicht bei einem Streik? Ich war Verhandlungsführer für den öffentlichen Dienst als Innenminister, da wurde die Müllabfuhr stillgelegt, da wurde der Verkehr stillgelegt. Streik ist unangenehm und natürlich steht dahinter ein Druck. Ein Druck, der auch die Öffentlichkeit trifft. Der Kita-Streik trifft jetzt unzählige Eltern. Und dennoch ist er rechtmäßig und aus meiner Sicht sogar notwendig.
Zagatta: Aber es gibt ja bestimmte Bereiche, man spricht da eigentlich von öffentlicher Daseinsfürsorge. Sollten da nicht andere Regeln gelten für Streiks?
Baum: Ja, im Extremfall würde ich sagen: Ja. Also, wenn jemand die Wasserversorgung von Köln abstellt. Aber doch nicht wenn andere Versorgung gefährdet ist! In Köln beispielsweise hat im letzten Jahr die Straßenbahn zwei Tage gestreikt. Ist das Daseinsvorsorge oder nicht? Hier macht man ein Fass auf, um die Grenze zu ziehen, was ist wirklich Daseinsvorsorge und was ist nur unangenehm? Das ist sehr schwierig. Und im Übrigen, man kann über Weselsky alles Mögliche sagen, ein Drittel der Züge ist gefahren! Und wie hat sich denn der Arbeitgeber verhalten? Zu einem Tarifvertrag gehören immer zwei! Zwei sind verantwortlich!
Zagatta: Die FDP, Ihre Partei, die gilt ja eigentlich als wirtschaftsfreundlich. Warum treten Sie dann für kleine Gewerkschaften ein, die wie jetzt die GDL der Wirtschaft eigentlich einen enormen Schaden zufügen?
Baum: Ja, Streik ist immer schädlich, das ist gar nicht auszuschließen. Im Übrigen hat die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger...
Zagatta: Die ehemalige!
Baum: ... in der letzten Periode des Bundestags dieses Gesetz verhindert, weil sie es genauso wie ich als verfassungswidrig angesehen hat. Also, Wirtschaftsfreundlichkeit ist nicht unbedingt Verfassungswidrigkeit.
"Möchte daran festhalten, dass wir unser Grundgesetz auch in schwierigen Zeiten leben"
Zagatta: Aber aus der Wirtschaft kommen jetzt Forderungen, dringende Forderungen, das Streikrecht von besonders privilegierten Gruppen – also, um die geht es ja – endlich zu begrenzen.
Baum: Wer ist denn besonders privilegiert? Sind die Kindergärtnerinnen besonders privilegiert? Wo fängt man an, wo hört man auf?
Zagatta: Ja, darüber ließe sich wahrscheinlich diskutieren und eine Einigung finden!
Baum: Ja, aber das ... Sie können das Streikreicht nicht einschränken. Ich erwarte von den Gewerkschaften, dass sie sich verantwortungsvoll verhalten, ich erwarte das auch von den Arbeitgebern. Aber es gab bisher keine Exzesse. Und der GDL-Streik ist nicht symptomatisch. Er hatte eine besondere Ursache und er hat mir auch nicht gefallen, aber die Ursache muss man erkunden. Und die Ursache lag darin, dass die GDL – wie übrigens auch der Marburger Bund – in ihrer Existenz bedroht sind, wenn das Gesetz kommt.
Zagatta: Was halten Sie denn von Forderungen, die jetzt Jura-Professoren schon vor einiger Zeit vorgelegt haben? Die sagen, in ganz wichtigen Bereichen, die man dann festlegen müsste, da sollte man verpflichtende Schlichtungen erst einmal einführen. Solche Schlichtungen zur Pflicht machen, schon gesetzlich. Könnten Sie sich damit anfreunden?
Baum: Ja, aber letztlich wird das nicht viel ändern. Eine Schlichtung kann ja nicht verbindlich sein. Die Schlichtung ... Es kann ja nicht der Zwang bestehen, das Schlichtungsergebnis dann umzusetzen. Es kann eine Abkühlungsphase sein. Also, das kann man diskutieren, aber meines Erachtens führt es nicht zu einer Entspannung. Eine Entspannung ist, dass wir ... dass beide, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, rechtzeitig versuchen, aufeinander zuzugehen. Streik wird es immer geben, sonst gibt es keine Tarifautonomie. Und das ist die Geschichte der Bundesrepublik. Wir haben ja Situationen erlebt, unter den Nazis und in der DDR wurden die Löhne festgesetzt vom Staat, hier werden sie ausgehandelt. Das ist das Merkmal einer freien Gesellschaft. Und die Gewerkschaften, die Minderheitsgewerkschaften haben sich ja vielfach deshalb gegründet, weil sie sich nicht mehr vertreten sahen von den großen Gewerkschaften! Und im Übrigen, die großen Gewerkschaften konkurrieren selber jetzt in einigen Betrieben, untereinander.
Zagatta: Herr Baum, Sie haben eben "rechtzeitig" gesagt. In anderen Ländern soll es solche Regelungen geben, dass man gerade in wichtigen Bereichen, zum Beispiel im Verkehrsbereich, da Fristen setzt, dass sehr lange oder mit einigen Tagen Vorlauf das angekündigt werden muss. Würde das Sinn machen, da klarere Regeln zu schaffen?
Baum: Man kann überlegen, im Arbeitskampfrecht etwas zu tun, aber dem sind enge Grenzen gesetzt. Aber hier geht es ja nicht um das Arbeitskampfrecht, sondern es geht um das Tarifrecht. Und mit Verlaub, wir haben ein wunderbares Grundgesetz. Das Grundgesetz ist eine Reaktion auf Zeiten der Unfreiheit. Und die Grundrechte sind unabänderlich und unabwägbar. Ich möchte gerne daran festhalten, dass wir unser Grundgesetz auch in schwierigen Situationen leben!
Zagatta: Heute Mittag im Deutschlandfunk der frühere Innenminister Gerhart Baum, der das Tarifeinheitsgesetz, das der Bundestag heute beschlossen hat, jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht noch stoppen will. Herr Baum, ich bedanke mich für das Gespräch!
Baum: Ja, Wiederhören!
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