Birgid Becker: Der eine Bahnstreik ist kaum vorbei, da kündigt die Lokführergewerkschaft GDL gleich den nächsten an. Vor knapp einer Stunde ist GDL-Chef Weselsky konkret geworden.
Mitgehört hat der Bonner Gesellschafts- und Arbeitsrechtler Gregor Thüsing. Guten Tag.
Gregor Thüsing: Guten Tag!
Becker: Gefühlt ist dieser angekündigte neue Streik für viele Bahnkunden sicherlich nicht verhältnismäßig. Arbeitsrechtlich betrachtet sieht das aber anders aus. Wenn die Bahn vors Arbeitsgericht ziehen würde, um durchzusetzen, dass diese Streiketappe, die ja erst einmal als unbefristet angekündigt wurde, dann als unverhältnismäßig untersagt würde, die Bahn hätte keinen Erfolg damit, oder?
Verhältnismäßigkeit ist Auslegungssache
Thüsing: Das wissen wir nicht so genau, denn in der Tat: Das maßgebliche Kriterium, was die Arbeitsgerichte heute anwenden, ist das Kriterium der Verhältnismäßigkeit. Es muss sich um einen Streik handeln, der in einem angemessenen Verhältnis steht zu dem, was er erreichen will. Was aber verhältnismäßig ist, ist letztlich eine Wägung, die der Richter nur sehr freihändig vornehmen kann. Die Belastungen des Unternehmens oder auch der Öffentlichkeit mit den Streikfolgen und die möglichen Tarifforderungen sind letztlich Größen, die nicht miteinander in ein Maß gesetzt werden können, so dass in der Vergangenheit sich gezeigt hat, dass die Gerichte dazu neigen, hier vorsichtig und in Respekt vor dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit zu sagen, wir können nicht feststellen, dass der Streik prima facie, auf den ersten Blick hin unverhältnismäßig ist, und deswegen lassen wir ihn gewähren.
Becker: Und das erwarten Sie auch, dass das so geschieht?
Thüsing: Es wäre ein Schritt zu neuen Ufern, sollte sich hier ein Gericht einmal dazu bekennen zu sagen, der neunte Streik in einer Tarifauseinandersetzung ist unverhältnismäßig, insbesondere, weil es nicht so sehr um Sachthemen geht, sondern um die Abgrenzung der Zuständigkeiten zueinander. Das kann ein Gericht sagen, es würde dann aber gut daran tun, seine Position zu begründen. Ich kann dafür gewisse Sympathie haben, es ist eine besondere Situation, aber aus der bisherigen Rechtsprechung ergibt sich das nicht zwingend. Es ergibt sich allerdings auch nicht zwingend, das Gegenteil herzuleiten. Das ist eben das Unklare am jetzigen Verhältnismäßigkeitsbegriff.
Becker: Nun soll am Freitag das sogenannte Tarifeinheitsgesetz den Bundestag passieren. Im Sommer, geht es nach dem Willen der Großen Koalition, könnte es in Kraft sein. Sehe die Lage anders aus, wenn das Tarifeinheitsgesetz schon in Kraft wäre?
Gesetz um ein Einigungsverfahren erweitern
Thüsing: Ich fürchte, so furchtbar anders würde die Lage nicht aussehen, denn die Begründung des Gesetzes sagt ausdrücklich, das Gesetz will das Arbeitskampfrecht nicht ändern. Das heißt zunächst einmal, arbeitskampfrechtlich soll alles bleiben, so wie es ist, und wenn das tatsächlich so von den Gerichten umgesetzt würde, dann würde das selbstverständlich auch keine Auswirkungen auf die Arbeitsniederlegungen der GDL haben. Ob man aus der Systematik, dem Ziel und vielleicht dem Gesamtzusammenhang des Gesetzes einschränkende Regelungen dennoch herauslesen würde, das ist zurzeit offen und das ist umstritten und das ist unklar. Faktum ist, der Gesetzgeber schweigt hierzu, und meines Erachtens täte er gut daran, wenn er den vorliegenden Gesetzesentwurf noch einmal in die Hand nimmt und um sinnvolle Maßnahmen erweitert, wie in solchen Situationen die Parteien besser ins Gespräch kommen können.
Becker: Dann stellt sich für Sie nicht das Problem, ob das Tarifeinheitsgesetz verfassungskonform ist ja oder nein, sondern ob es seinen Zweck erfüllt?
Thüsing: Beides hängt miteinander zusammen. Die Sachverständigen auch in der Bundestagsanhörung, Ausschussanhörung zu diesem Thema hatten zwar einen Zweifel an der Verfassungskonformität. Ich glaube aber, man kann diese Verfassungskonformität sichern und gleichzeitig etwas dafür tun, dass die Streiks vielleicht nicht ganz so häufig sind, indem man nämlich der GDL, die vielleicht sich deswegen nur so machtbewusst bewegt, weil sie Angst hat vor den zukünftigen Gesetzen, indem man ihr zum Beispiel die Möglichkeit gibt, zukünftig wie in allen anderen Gewerkschaften dort, wo mehrere Gewerkschaften miteinander konkurrieren, ein Einigungsverfahren zu erzwingen, dass der Arbeitgeber sich mit beiden Gewerkschaften an den Tisch setzen muss, um diese tarifpluralen Situationen aufzuklären und andererseits, ganz symmetrisch gedacht, dass der Arbeitgeber auch die Möglichkeit hat zu sagen, die beiden Gewerkschaften können es überhaupt nicht miteinander, aber dennoch habe ich ein gesetzgeberisches Recht, beide zusammen an einen Tisch zu bringen, und wenn wir uns nicht einigen, dann kann zumindest ein Schlichter einmal einen unverbindlichen - das ist ganz wichtig - Vorschlag machen. Aber der setzt dann erst mal eine Orientierung, wie eine vernünftige Lösung aussehen könnte. Daran muss sich niemand halten. Aber es kann vielleicht in dem einen oder anderen Fall dazu führen, dass der Arbeitskampf vermeidbar wäre.
Mein Vorschlag wäre in der Tat, den bisherigen Gesetzesentwurf um so etwas wie ein Einigungsverfahren zu erweitern. Das kann zum einen die Streikhäufigkeit mindern. Viel wichtiger aber noch: Es bringt die kleinere Gewerkschaft auf die gleiche Höhe mit der größeren Gewerkschaft und kann dadurch auch die Verfassungskonformität des Entwurfes sichern.
Bahn sitzt zwischen zwei Stühlen
Becker: Wenn Sie aber nun sagen, dass das Tarifeinheitsgesetz, so wie es jetzt gestrickt wird - und es gibt ja keine Anzeichen dafür, dass sich das noch ändert - die gegenwärtige Situation nicht ändern würde, dann stimmt auch die Vermutung nicht, die Bahn würde auf Zeit spielen, um dieses Gesetz praktisch wirken zu lassen und den Konflikt beziehungsweise die GDL zu neutralisieren?
Thüsing: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube nicht, dass die Bahn auf Zeit spielt. Ich bin natürlich nicht Ulrich Weber und ich bin nicht Deutsche Bahn, aber es ist doch wahrzunehmen, dass die Bahn selber zum Beispiel erklärt, unabhängig von dem Inkrafttreten des Gesetzes würden sie genauso weiterverhandeln wie vorher mit der GDL, und es wäre auch sehr unklug, nur im Hoffen auf ein Gesetz, das irgendwann und irgendwie vielleicht mal in Kraft treten würde, tatsächlich solche massive Arbeitskämpfe in Kauf zu nehmen. Ich glaube einfach, der Konflikt, der bei der Bahn schon immer bestand, dass zwei Gewerkschaften miteinander konkurrieren um die gleiche Arbeitnehmergruppe und jede für sich das exklusive Verhandlungsmandat für diese Arbeitnehmergruppe in Anspruch nimmt, der tritt jetzt einfach zu Tage und da ist keine Gewerkschaft bereit nachzugeben und die Bahn sitzt zwischen zwei Stühlen und muss den Konflikt irgendwie lösen und kann ihn nicht lösen, und das ist der Grund, warum momentan die Streikwellen immer weiter eskalieren.
Becker: Danke! - Einschätzungen von Gregor Thüsing waren das. Er lehrt Gesellschafts- und Arbeitsrecht an der Uni Bonn. Einen schönen Tag.
Thüsing: Herzlichen Dank.
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