S-Bahn, München - ein ganz gewöhnlicher Wochentag. Schulkinder fahren nach Hause. Frauen mit Kinderwagen kommen von einem Ausflug zurück. Anzugträger besteigen den Wagon. Die Türen schließen sich. Feierabendstimmung.
Auf einer Sitzbank macht es sich ein junges Pärchen bequem. Die beiden streiten. Ein Unbeteiligter mischt sich ein, muss sich vom Pärchen aber übel beschimpfen lassen: Er pöbelt herum, sie keift mit.
"Hey, Schnauze, führ dich nicht auf, du!"
"Sag mal, was fällt dir ein! Das finde ich Scheiße, Mann! Willst meine Freundin anmachen, was? Na also, dann dreh dich um und schau nach vorne!"
Die meisten Mitreisenden schauen weg. Sie blicken starr aus dem Fenster, verstecken sich hinter einem Buch oder einer Zeitung. Nur ein Mann mischt sich ein. Mit ruhiger, fester Stimme will er dem Streit die Aggressivität nehmen und wird ebenfalls attackiert:
"Hey, jetzt misch dich doch nicht ein. Das geht dich gar nichts an. Unglaublich. Okay, danke schön, danke schön."
Erleichtert atmen die Teilnehmer eines Zivilcouragekurses auf. Keiner ist handgreiflich geworden, keiner ist zu Schaden gekommen. Aus Alex, dem aggressiven Halbwüchsigen, und seiner flegelhaften Freundin Di werden wieder Alexander Schwandner und Diana Schöffel, Kursleiter und Hauptkommissare bei der Münchner Polizei. Gemeinsam mit 20 Frauen und Männern jeden Alters sitzen sie in einem ausrangierten S-Bahn-Wagon im Verkehrszentrum des Deutschen Museums. Es ist ein Rollenspiel – und doch eine Szene, wie sie sich in jeder S-Bahn abspielen könnte. Man wird verbal angepöbelt, vielleicht belästigt. Oder beobachtet eine ähnlich brenzlige Situation. Und fragt sich, wie man reagieren soll: Wegschauen? Weggehen? Sich einmischen? Aber wie? Einem potenziellen Opfer zur Seite stehen? Oder Hilfe rufen? Der Polizeibeamte Schwandner rät seinen Kursteilnehmern folgendes:
"Auf jeden Fall Selbstsicherheit ausstrahlen, den anderen auch mal anschauen, nicht verschämt den Blick senken und dann zum Anderen sagen: Fassen Sie mich nicht an. Laut, deutlich, Öffentlichkeit herstellen. Aufmerksamkeit schaffen, damit die anderen Leute, damit ich die in eine Helferrolle bringe, damit die nicht sagen können, ach, das geht mich nichts an. Nein, die müssen in eine Helferrolle rein. Wenn das nicht funktioniert Notrufknopf drücken, Notbremse ziehen oder andere Leute aktiv ansprechen: Hallo Sie mit dem roten Pullover – gehen Sie zum Fahrer, rufen Sie die Polizei. Also es liegt nur am Auftreten."
Der Geschäftsmann Dominik Brunner hatte ein selbstsicheres Auftreten. 12. September 2009, ein Samstagnachmittag. Nach den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen spielt sich folgendes ab: Drei angetrunkene junge Männer pöbeln auf einem Bahnsteig vier Teenager an, sie wollen Geld – 15 Euro, sie schubsen und schlagen die Schüler. Eine S-Bahn in Richtung Solln fährt ein. Die Kinder steigen zu. Sebastian L. und Markus S. folgen, lassen von den verängstigten 13- bis 15-Jährigen nicht ab. Dominik Brunner, auf dem Weg zu Bekannten, geht dazwischen, fordert Ruhe und verständigt aus der fahrenden S-Bahn per Handy die Polizei. Der damals 50-Jährige mischt sich ein, zeigt Zivilcourage - und bezahlt mit seinem Leben.
"Eigentlich hatte er nichts falsch gemacht, der Herr Brunner hatte alles richtig gemacht. Er hat die Jugendlichen, die da Opfer geworden sind, aus der Situation genommen, er ist mit ihnen ausgestiegen, hat die Polizei gerufen. Als Helfer hat er alles richtig gemacht. Und dann wurde er selbst Opfer. Im Nachhinein kann man immer sagen, er hätte, da hätte er mehr tun sollen, da weniger. Es ist halt immer sehr schwer, da im Nachhinein kluge Ratschläge zu geben."
Dominik Brunner bietet den Schülern an, sie zu beschützten - bis die Polizei eintreffen wird. Am S-Bahnhof im Münchner Stadtteil Solln steigen sie gemeinsam aus. Die jungen Männer folgen. Und dann eskaliert laut Staatsanwaltschaft die Situation: Der damals 17-Jährige und der 18-Jährige schlagen brutal zu. Mit Fäusten und Fußtritten prügeln sie zigfach auf den Manager ein. Er erliegt im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen. Die Tat - ein Schock für die Stadt, ein Schock für Deutschland. Dominik Brunner wird später posthum mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Ab kommenden Dienstag müssen sich die beiden Schläger vor dem Münchner Landgericht verantworten. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Mord.
Vor drei, vier Jahren kamen höchstens zehn Teilnehmer in Zivilcouragekurse der Münchner Polizei. Seit Dominik Brunner vor zehn Monaten aber mit unfassbarer Gewalt tot geprügelt worden ist, ist die Zahl der Anmeldungen sprunghaft gestiegen: über 3000 Bürger haben laut Polizei mittlerweile die mehrstündigen Seminare besucht. Ältere und jüngere Frauen, betagte Männer und sichtlich schüchterne Herren sind das Hauptklientel. Einige unter ihnen fühlten sich selbst schon bedroht: Sie sind verbal attackiert, beleidigt, geschubst, fast vergewaltigt worden und wussten sich nicht zu helfen:
"Ich möchte gerne helfen, aber auch nicht zum Opfer werden. Wie mache ich es richtig? Mir geht es darum, Zivilcourage in der Bevölkerung zu fördern. Im Grunde der Schock, dass andere anderen nicht helfen, ist der Grund, warum ich hier bin."
Auch Angst ist ein verständlicher Grund – durch statistische Zahlen belegt ist er jedoch nicht: Denn die Straftaten in den U- und S-Bahnen der bayerischen Landeshauptstadt sind im Jahr 2009 im Vergleich zu 2008 um 14 Prozent gesunken. Dieser Zahl allerdings stehen sich scheinbar häufende Berichte gegenüber – Berichte über schockierende Gewalttaten in München: Zum Jahreswechsel 2007/2008 etwa ist ein 76-jähriger Mann an der U-Bahn-Stadion Arabellapark auf brutalste Weise zusammengeschlagen und misshandelt worden. Bilder von der Tat – aufgenommen von Überwachungskameras - sind damals veröffentlicht worden. Der Rentner hatte zwei junge Männer zuvor nur gebeten, in der U-Bahn ihre Zigaretten auszumachen.
Im Oktober 2008 ein ähnlicher Vorfall in der Linie U6. Im Juni 2009, bei einer Massenschlägerei zwischen Jugendlichen stirbt ein Beteiligter. Im November 2009, nur zwei Monate nach dem Mord an Dominik Brunner, schlägt ein betrunkener 26-Jähriger ohne erkennbaren Grund mit einer Bierflasche auf eine 48-jährige Frau ein. Couragierte Passanten stellen den aggressiven Täter. Jüngster Vorfall im Juni 2010: Am Wettersteinplatz, U-Bahn-Linie U1, prügeln zwei junge Männer einen Iraki halb tot. Passanten greifen ein, übergeben die Täter der Polizei.
Die Deutsche Bahn, verantwortlich auch für die Münchner S-Bahn, stockte nach dem Brunner-Mord ihre Präsenzkräfte an den Bahnhöfen in fünf deutschen Großstädten um zehn Prozent auf. Die Ankündigung der Münchner Verkehrsgesellschaft, alle rund 580 U-Bahnwagen, 95 Straßenbahnzüge und 400 Omnibusse mit Videokameras auszurüsten sowie die "eigene" U-Bahn-Wache aufzustocken, trägt ebenfalls zu einem besseren Sicherheitsgefühl bei. Ferner hat die Verkehrsgesellschaft Ende 2009 auf den wichtigsten U-Bahnstrecken den Handyempfang eingerichtet, was Polizeisprecher Peter Reichel sehr hilfreich nennt:
"Nach den Vorfällen in Solln sind auch die Mitteilungen mehr geworden, die Leute sind mehr sensibilisiert. Sie sind eher bereit, einzugreifen. Das Thema Zivilcourage war ja wochenlang in den Medien das Hauptthema, und ich denke, das hat den einen oder anderen schon wachgerüttelt."
Um fast fünf Prozent sind in ganz München innerhalb der vergangenen zehn Jahre die sogenannten Rohheitsdelikte gestiegen - auf 14,6 Prozent, sagt Polizeisprecher Reichel. Eine wenig zuverlässige Statistik: Denn Straftaten, die in der Vergangenheit als Bagatellfälle abgetan worden sind, werden seit dem Fall Brunner hinzugezählt. Sehr viel häufiger als früher melden Passanten Vorfälle bei der Polizei; sehr viel schneller als früher wird in Öffentlichen Verkehrsmitteln die Notbremse gezogen. Laut Polizei nehmen auch die Fälle von Notwehr zu. Was rechtlich gesehen völlig in Ordnung sei, ermuntert der Polizeibeamte Alexander Schwandner in seinen Zivilcouragekursen die Teilnehmer:
"Sobald ich das Gefühl habe, ich werde Opfer, dann darf ich alles tun, um diesen Angriff abzuwehren, also verbal, körperlich. Schreien, kratzen, treten, beißen. Das darf man wirklich alles tun. Das ist rechtlich gedeckt. Nur haben wir oftmals das Problem, dass die Leute ihre Grenzen oft zu spät setzen. Aber das muss jeder selbst entscheiden. Ich muss wirklich auf mein Bauchgefühl hören oder wieder lernen zu hören, denn mein Bauchgefühl sagt mir schon: Jetzt ist es soweit."
Zivilcouragekurse der Polizei wie in München werden mittlerweile bayernweit angeboten. Kooperationen der Landeshauptstadt mit der Bundespolizei, mit der von seinen Freunden eigens ins Leben gerufenen Dominik-Brunner-Stiftung für Zivilcourage und der "Aktion Münchner Fahrgäste" machen das möglich. Die Teilnahme am Seminar ist immer kostenlos.
Von einem generellen Anstieg der Jugendkriminalität will der Sprecher des Münchener Polizeipräsidiums, Wolfgang Wenger, nicht reden. Unter den 1,3 Millionen Einwohnern Münchens, berichtet er, gäbe es nur eine ganz kleine Gruppe von jugendlichen Intensivtätern. Die sind zwischen 13 und 18 Jahren alt und haben 100 bis 150 Strafdelikte in ihren Akten.
"Da haben wir also derzeit 98 Leute da drin, ganz verschieden besetzt. 54 davon sind Nichtdeutsche, und von den 44 Deutschen sind 32 mit Migrationshintergrund. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, dass Ausländer krimineller sind als Deutsche, das ist völliger Unsinn. Nur: Wenn wir uns unsere auffälligen Täter anschauen und dann analysieren, feststellen, dass sehr viele gerade junge Männer aus dem ausländischen Bereich sind. Da gibt es eben Defizite, das ist ein gesellschaftliches Problem."
Markus S. und Sebastian L., zur Tatzeit 18 und 17 Jahre alt, haben weder einen Migrationshintergrund noch zählten sie im September 2009 zur Gruppe der Intensivtäter. Beide aber waren der Polizei sehr wohl bekannt: Im beim Justizministerium angesiedelten Bundeszentralregister werden sie mit Eigentumsdelikten, räuberischer Erpressung und leichten Körperverletzungen geführt.
Bei seinen Betreuern soll Sebastian als durchschnittlich gegolten haben: Also, als wenig selbstbewusst und immer auf der Suche nach dem schnellen Kick. Die Familie gab keinen Halt, mehrere Schulwechsel sorgten für Versagensängste, dann die Drogen und erste Verurteilungen. Mehrere Entzugstherapien hat er abgebrochen. Eine letzte Chance für Sebastian sahen die Richter bei "Condrobs", einem in Bayern tätigen überkonfessionellen Suchthilfeverein für Jugendliche, der seit 1971 mehr als 30 Einrichtungen betreibt. Einige Monate lang war der mittlerweile 18-Jährige in einem der Heime untergebracht, wo junge Männer leben, die massive Drogenprobleme und psychosoziale Schwierigkeiten haben.
Hans-Ulrich Pfaffmann, der Vize-Vorsitzender von Condrobs, bedauert die brutale Tat. Der Vorsitzende der Münchner SPD, der für seine Partei auch im bayerischen Landtag sitzt, räumt ein, dass die Jugendlichen das Heim eigentlich nur mit einer Begleitperson hätten verlassen dürfen. Am Tattag aber waren sie alleine unterwegs. Pfaffmann entschuldigt das nicht – aber er spricht von chronisch unterfinanzierten Jugendheimen und vom täglichen Kampf um junge Menschen wie Sebastian. Dem Jungen, erzählt Pfaffmann, sei ein guter Therapieverlauf bescheinigt worden; auf der Suche nach einer Lehrstelle sei er gewesen. Was am 12. September 2009 falsch gelaufen ist? Die Frage – so Pfaffmann - müsse im Prozess beantworten werden.
"Also die Rückmeldung der therapeutischen Einrichtung gab Anlass zur Hoffnung. Warum es dann doch eskaliert ist, wird der Prozess zeigen. Ich würde mal so sagen, da gab es verschiedene Umstände, die zu dieser Gewalteskalation geführt hat."
Dass seine Einrichtung eine Mitschuld trage an der Tat von Solln, weist Pfaffmann weit von sich. Natürlich hätte man im Nachhinein die Ereignisse evaluiert, was damals falsch gelaufen sei und verbessert werden müsse:
"Geändert hat sich sicherlich, dass wir noch intensiver diagnostizieren und Gefahrenpotenzial versuchen zu analysieren, aber Condrobs hat sich in der Causa Brunner nichts vorzuwerfen. Wir sind sehr gut aufgestellt, die Therapie für diese jungen Leute war gut. Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran. Es ist aber immer so, dass man immer noch einiges besser machen kann, aber eine bessere Therapie bedeutet mehr finanzielle Ressourcen."
Ab Dienstag sitzen die mutmaßlichen Täter auf der Anklagebank. An neun Sitzungstagen sollen 53 Zeugen gehört werden. Darunter die vier Schüler, die Dominik Brunner beschützte. Noch ist der Prozess vor der Jugendkammer des Münchner Landgerichts als öffentlich angekündigt. Das Gericht kann im letzten Moment aber entscheiden, dass nichtöffentlich verhandelt wird. Die Staatsanwaltschaft wirft den beiden Angeklagten Mord vor; das Mordmotiv: niedrige Beweggründe, im Fall Dominik Brunner wohl Rache. Zur Anklageschrift Gerichtssprecherin Margarete Nötzel.
"Also im Kernpunkt lautet die Anklage auf versuchte räuberische Erpressung. Das bezieht sich auf die Jugendlichen, die um ihr Geld erleichtert werden sollen und auf Mord zum Nachteil des Herrn Brunner."
Der Ausgang des Verfahrens ist völlig offen. Denn der Tathergang ist nach wie vor unklar. Was am 12. September 2009 auf dem S-Bahnsteig in Solln genau geschehen ist, steht bis heute nicht eindeutig fest. Noch sei nicht bewiesen, ob sein Mandant als erster zugeschlagen habe, betont der Verteidiger von Markus S., Maximilian Pauls. Der Anwalt verweist auf Zeugenaussagen: Verschiedene Personen, darunter der Zugführer, wollen gesehen haben, dass die jungen Männer beim Verlassen der S-Bahn einen ruhigen Eindruck gemacht hätten. Weiter sollen die Zeugen berichtet haben, dass Brunner nach dem Aussteigen seine Jacke abgelegt und als erster zugeschlagen hätte. Der Verteidiger hält es also für möglich, dass sich die mutmaßlichen Täter von ihrem späteren Opfer provoziert fühlten. Er hält es wohl auch für möglich, dass sich der Freizeitkickboxer Brunner von den jungen Männern gedemütigt fühlte oder sich noch immer bedroht sah.
Der Held von Solln also selbst schuld? Das ist zugespitzt die provokante Frage, die Verteidiger Maximilian Pauls vor Prozessbeginn aufwirft. Vor Gericht werden die Zeugenaussagen unter anderem des Zugführers eine wichtige Rolle spielen. Denn für die juristische Bewertung der Tat könnte der genaue Tatablauf entscheidend werden: Der Mordvorwurf der Staatsanwaltschaft könnte ins Wanken geraten, falls das Gericht zum Schluss kommen sollte, dass Dominik Brunner mit dem Schlagen angefangen hat.
Der Konfirmationspfarrer von Sebastian L. beispielsweise glaubt nicht an die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft. Er beschreibt Sebastian als einen schmächtigen Junge, den "jeder umpusten könne". Seinen Namen will der Pfarrer an dieser Stelle nicht hören, er glaubt aber zu wissen, dass Dominik Brunner dem Jungen zuerst das Nasenbein gebrochen hatte, danach "tickten die Jungs eben aus".
Doch entschuldigt das die Brutalität, mit der die beiden angetrunkenen Jugendlichen zugeschlagen haben? Laut Zeugen hätten sie noch auf den Geschäftsmann eingetreten, als der schon hilflos am Boden lag. Laut Obduktionsergebnis fügten sie ihrem Opfer innerhalb weniger Minuten 22 sehr schwere und 22 leichte Verletzungen zu. Die schweren Verletzungen hätten in ihrer Summe zum Tod von Dominik Brunner geführt. Am 29. Juli bereits soll am Münchner Landgericht voraussichtlich ein Urteil gesprochen werden. Gerichtsprecherin Nötzel zum möglichen Strafmaß:
"Wenn sie nach Jugendstrafrecht verurteilt werden, höchstens zehn Jahre. Einer von den beiden ist Jugendlicher, wird auf jeden Fall nach Jugendstrafrecht behandelt, der andere war zum Tatzeitpunkt Heranwachsender. Da muss das Gericht entscheiden, ob Jugendstrafrecht angewandt werden soll oder nicht. Wenn Erwachsenenstrafrecht angewandt würde, hätte er schlimmstenfalls eine lebenslange Freiheitsstrafe zu erwarten."
Der Bahnhof Solln im Juli 2010. Wer sich hier auf die Suche macht nach einer Erinnerung an den tödlichen Verfall vor zehn Monaten, findet nichts. Kein Hinweis, kein Schild, kein Gedenkstein. Ab und an sehe man am Tatort noch einen Strauss Blumen liegen, erzählt eine Anwohnerin. Wenige Tage vor Beginn des Prozesses gegen die mutmaßlichen Täter liegt dort nichts:
"Anfang der Woche lag vorne noch einer, ja alle zwei Wochen kommt da ein neuer dazu. Klar, man läuft ja hier jeden Tag vorbei. Das ist schon noch präsent."
Im Minutentakt halten die S-Bahnen in Solln. Im Bahnhofsstüberl wird eifrig über die Fußball-WM diskutiert. Das Leben geht weiter.
"Das ist tragisch. Natürlich denkt man dran, zwischendurch, aber nicht mehr jeden Tag. Das hat mich damals mehr bewegt, denn ich wohne 50 Meter Luftlinie von hier. Das hat mich überrascht, Solln ist ja nicht gerade die Bronx, aber, nein, das bewegt mich jetzt nicht mehr sehr, und ich denke nicht jedes Mal daran, wenn ich hier vorbei gehe."
Am Bahnhof in Solln soll bald eine Gedenktafel an das couragierte Verhalten von Dominik Brunner erinnern. In seinem niederbayerischen Heimatort Ergoldsbach trägt künftig eine Kindertagesstätte seinen Namen. Davor soll eine über zwei Meter hohe Skulptur stehen: ein Mann, der ein kleines Kind beschützt. Der 50-Jährige gilt als Held. Er ist einer, der sterben musste, weil er helfen wollte. Nicht nur in seinem Heimatort wollen die Menschen, dass Dominik Brunner zu einem Symbol für Zivilcourage wird. Am Tatort, in Münchner Stadtteil Solln ist ein 17-Jähriger skeptisch, er macht einen anderen Vorschlag:
"Ich weiß ja nicht, wie man der Berichterstattung glauben darf, die einen sagen, er war ein Held, aber dann heißt es im Gerichtsprotokoll, er hätte in Kampfhandlung dort gestanden. Ich weiß nicht, eigentlich nein. Ich finde, es sollte ein Mahnmal vielleicht geben, weil alle drum herum standen und zugeschaut haben. Aber den Mann zu verehren, weil er unglücklicherweise gestorben ist, das macht ihn für mich nicht gleich zum Helden."
Auf einer Sitzbank macht es sich ein junges Pärchen bequem. Die beiden streiten. Ein Unbeteiligter mischt sich ein, muss sich vom Pärchen aber übel beschimpfen lassen: Er pöbelt herum, sie keift mit.
"Hey, Schnauze, führ dich nicht auf, du!"
"Sag mal, was fällt dir ein! Das finde ich Scheiße, Mann! Willst meine Freundin anmachen, was? Na also, dann dreh dich um und schau nach vorne!"
Die meisten Mitreisenden schauen weg. Sie blicken starr aus dem Fenster, verstecken sich hinter einem Buch oder einer Zeitung. Nur ein Mann mischt sich ein. Mit ruhiger, fester Stimme will er dem Streit die Aggressivität nehmen und wird ebenfalls attackiert:
"Hey, jetzt misch dich doch nicht ein. Das geht dich gar nichts an. Unglaublich. Okay, danke schön, danke schön."
Erleichtert atmen die Teilnehmer eines Zivilcouragekurses auf. Keiner ist handgreiflich geworden, keiner ist zu Schaden gekommen. Aus Alex, dem aggressiven Halbwüchsigen, und seiner flegelhaften Freundin Di werden wieder Alexander Schwandner und Diana Schöffel, Kursleiter und Hauptkommissare bei der Münchner Polizei. Gemeinsam mit 20 Frauen und Männern jeden Alters sitzen sie in einem ausrangierten S-Bahn-Wagon im Verkehrszentrum des Deutschen Museums. Es ist ein Rollenspiel – und doch eine Szene, wie sie sich in jeder S-Bahn abspielen könnte. Man wird verbal angepöbelt, vielleicht belästigt. Oder beobachtet eine ähnlich brenzlige Situation. Und fragt sich, wie man reagieren soll: Wegschauen? Weggehen? Sich einmischen? Aber wie? Einem potenziellen Opfer zur Seite stehen? Oder Hilfe rufen? Der Polizeibeamte Schwandner rät seinen Kursteilnehmern folgendes:
"Auf jeden Fall Selbstsicherheit ausstrahlen, den anderen auch mal anschauen, nicht verschämt den Blick senken und dann zum Anderen sagen: Fassen Sie mich nicht an. Laut, deutlich, Öffentlichkeit herstellen. Aufmerksamkeit schaffen, damit die anderen Leute, damit ich die in eine Helferrolle bringe, damit die nicht sagen können, ach, das geht mich nichts an. Nein, die müssen in eine Helferrolle rein. Wenn das nicht funktioniert Notrufknopf drücken, Notbremse ziehen oder andere Leute aktiv ansprechen: Hallo Sie mit dem roten Pullover – gehen Sie zum Fahrer, rufen Sie die Polizei. Also es liegt nur am Auftreten."
Der Geschäftsmann Dominik Brunner hatte ein selbstsicheres Auftreten. 12. September 2009, ein Samstagnachmittag. Nach den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen spielt sich folgendes ab: Drei angetrunkene junge Männer pöbeln auf einem Bahnsteig vier Teenager an, sie wollen Geld – 15 Euro, sie schubsen und schlagen die Schüler. Eine S-Bahn in Richtung Solln fährt ein. Die Kinder steigen zu. Sebastian L. und Markus S. folgen, lassen von den verängstigten 13- bis 15-Jährigen nicht ab. Dominik Brunner, auf dem Weg zu Bekannten, geht dazwischen, fordert Ruhe und verständigt aus der fahrenden S-Bahn per Handy die Polizei. Der damals 50-Jährige mischt sich ein, zeigt Zivilcourage - und bezahlt mit seinem Leben.
"Eigentlich hatte er nichts falsch gemacht, der Herr Brunner hatte alles richtig gemacht. Er hat die Jugendlichen, die da Opfer geworden sind, aus der Situation genommen, er ist mit ihnen ausgestiegen, hat die Polizei gerufen. Als Helfer hat er alles richtig gemacht. Und dann wurde er selbst Opfer. Im Nachhinein kann man immer sagen, er hätte, da hätte er mehr tun sollen, da weniger. Es ist halt immer sehr schwer, da im Nachhinein kluge Ratschläge zu geben."
Dominik Brunner bietet den Schülern an, sie zu beschützten - bis die Polizei eintreffen wird. Am S-Bahnhof im Münchner Stadtteil Solln steigen sie gemeinsam aus. Die jungen Männer folgen. Und dann eskaliert laut Staatsanwaltschaft die Situation: Der damals 17-Jährige und der 18-Jährige schlagen brutal zu. Mit Fäusten und Fußtritten prügeln sie zigfach auf den Manager ein. Er erliegt im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen. Die Tat - ein Schock für die Stadt, ein Schock für Deutschland. Dominik Brunner wird später posthum mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Ab kommenden Dienstag müssen sich die beiden Schläger vor dem Münchner Landgericht verantworten. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Mord.
Vor drei, vier Jahren kamen höchstens zehn Teilnehmer in Zivilcouragekurse der Münchner Polizei. Seit Dominik Brunner vor zehn Monaten aber mit unfassbarer Gewalt tot geprügelt worden ist, ist die Zahl der Anmeldungen sprunghaft gestiegen: über 3000 Bürger haben laut Polizei mittlerweile die mehrstündigen Seminare besucht. Ältere und jüngere Frauen, betagte Männer und sichtlich schüchterne Herren sind das Hauptklientel. Einige unter ihnen fühlten sich selbst schon bedroht: Sie sind verbal attackiert, beleidigt, geschubst, fast vergewaltigt worden und wussten sich nicht zu helfen:
"Ich möchte gerne helfen, aber auch nicht zum Opfer werden. Wie mache ich es richtig? Mir geht es darum, Zivilcourage in der Bevölkerung zu fördern. Im Grunde der Schock, dass andere anderen nicht helfen, ist der Grund, warum ich hier bin."
Auch Angst ist ein verständlicher Grund – durch statistische Zahlen belegt ist er jedoch nicht: Denn die Straftaten in den U- und S-Bahnen der bayerischen Landeshauptstadt sind im Jahr 2009 im Vergleich zu 2008 um 14 Prozent gesunken. Dieser Zahl allerdings stehen sich scheinbar häufende Berichte gegenüber – Berichte über schockierende Gewalttaten in München: Zum Jahreswechsel 2007/2008 etwa ist ein 76-jähriger Mann an der U-Bahn-Stadion Arabellapark auf brutalste Weise zusammengeschlagen und misshandelt worden. Bilder von der Tat – aufgenommen von Überwachungskameras - sind damals veröffentlicht worden. Der Rentner hatte zwei junge Männer zuvor nur gebeten, in der U-Bahn ihre Zigaretten auszumachen.
Im Oktober 2008 ein ähnlicher Vorfall in der Linie U6. Im Juni 2009, bei einer Massenschlägerei zwischen Jugendlichen stirbt ein Beteiligter. Im November 2009, nur zwei Monate nach dem Mord an Dominik Brunner, schlägt ein betrunkener 26-Jähriger ohne erkennbaren Grund mit einer Bierflasche auf eine 48-jährige Frau ein. Couragierte Passanten stellen den aggressiven Täter. Jüngster Vorfall im Juni 2010: Am Wettersteinplatz, U-Bahn-Linie U1, prügeln zwei junge Männer einen Iraki halb tot. Passanten greifen ein, übergeben die Täter der Polizei.
Die Deutsche Bahn, verantwortlich auch für die Münchner S-Bahn, stockte nach dem Brunner-Mord ihre Präsenzkräfte an den Bahnhöfen in fünf deutschen Großstädten um zehn Prozent auf. Die Ankündigung der Münchner Verkehrsgesellschaft, alle rund 580 U-Bahnwagen, 95 Straßenbahnzüge und 400 Omnibusse mit Videokameras auszurüsten sowie die "eigene" U-Bahn-Wache aufzustocken, trägt ebenfalls zu einem besseren Sicherheitsgefühl bei. Ferner hat die Verkehrsgesellschaft Ende 2009 auf den wichtigsten U-Bahnstrecken den Handyempfang eingerichtet, was Polizeisprecher Peter Reichel sehr hilfreich nennt:
"Nach den Vorfällen in Solln sind auch die Mitteilungen mehr geworden, die Leute sind mehr sensibilisiert. Sie sind eher bereit, einzugreifen. Das Thema Zivilcourage war ja wochenlang in den Medien das Hauptthema, und ich denke, das hat den einen oder anderen schon wachgerüttelt."
Um fast fünf Prozent sind in ganz München innerhalb der vergangenen zehn Jahre die sogenannten Rohheitsdelikte gestiegen - auf 14,6 Prozent, sagt Polizeisprecher Reichel. Eine wenig zuverlässige Statistik: Denn Straftaten, die in der Vergangenheit als Bagatellfälle abgetan worden sind, werden seit dem Fall Brunner hinzugezählt. Sehr viel häufiger als früher melden Passanten Vorfälle bei der Polizei; sehr viel schneller als früher wird in Öffentlichen Verkehrsmitteln die Notbremse gezogen. Laut Polizei nehmen auch die Fälle von Notwehr zu. Was rechtlich gesehen völlig in Ordnung sei, ermuntert der Polizeibeamte Alexander Schwandner in seinen Zivilcouragekursen die Teilnehmer:
"Sobald ich das Gefühl habe, ich werde Opfer, dann darf ich alles tun, um diesen Angriff abzuwehren, also verbal, körperlich. Schreien, kratzen, treten, beißen. Das darf man wirklich alles tun. Das ist rechtlich gedeckt. Nur haben wir oftmals das Problem, dass die Leute ihre Grenzen oft zu spät setzen. Aber das muss jeder selbst entscheiden. Ich muss wirklich auf mein Bauchgefühl hören oder wieder lernen zu hören, denn mein Bauchgefühl sagt mir schon: Jetzt ist es soweit."
Zivilcouragekurse der Polizei wie in München werden mittlerweile bayernweit angeboten. Kooperationen der Landeshauptstadt mit der Bundespolizei, mit der von seinen Freunden eigens ins Leben gerufenen Dominik-Brunner-Stiftung für Zivilcourage und der "Aktion Münchner Fahrgäste" machen das möglich. Die Teilnahme am Seminar ist immer kostenlos.
Von einem generellen Anstieg der Jugendkriminalität will der Sprecher des Münchener Polizeipräsidiums, Wolfgang Wenger, nicht reden. Unter den 1,3 Millionen Einwohnern Münchens, berichtet er, gäbe es nur eine ganz kleine Gruppe von jugendlichen Intensivtätern. Die sind zwischen 13 und 18 Jahren alt und haben 100 bis 150 Strafdelikte in ihren Akten.
"Da haben wir also derzeit 98 Leute da drin, ganz verschieden besetzt. 54 davon sind Nichtdeutsche, und von den 44 Deutschen sind 32 mit Migrationshintergrund. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, dass Ausländer krimineller sind als Deutsche, das ist völliger Unsinn. Nur: Wenn wir uns unsere auffälligen Täter anschauen und dann analysieren, feststellen, dass sehr viele gerade junge Männer aus dem ausländischen Bereich sind. Da gibt es eben Defizite, das ist ein gesellschaftliches Problem."
Markus S. und Sebastian L., zur Tatzeit 18 und 17 Jahre alt, haben weder einen Migrationshintergrund noch zählten sie im September 2009 zur Gruppe der Intensivtäter. Beide aber waren der Polizei sehr wohl bekannt: Im beim Justizministerium angesiedelten Bundeszentralregister werden sie mit Eigentumsdelikten, räuberischer Erpressung und leichten Körperverletzungen geführt.
Bei seinen Betreuern soll Sebastian als durchschnittlich gegolten haben: Also, als wenig selbstbewusst und immer auf der Suche nach dem schnellen Kick. Die Familie gab keinen Halt, mehrere Schulwechsel sorgten für Versagensängste, dann die Drogen und erste Verurteilungen. Mehrere Entzugstherapien hat er abgebrochen. Eine letzte Chance für Sebastian sahen die Richter bei "Condrobs", einem in Bayern tätigen überkonfessionellen Suchthilfeverein für Jugendliche, der seit 1971 mehr als 30 Einrichtungen betreibt. Einige Monate lang war der mittlerweile 18-Jährige in einem der Heime untergebracht, wo junge Männer leben, die massive Drogenprobleme und psychosoziale Schwierigkeiten haben.
Hans-Ulrich Pfaffmann, der Vize-Vorsitzender von Condrobs, bedauert die brutale Tat. Der Vorsitzende der Münchner SPD, der für seine Partei auch im bayerischen Landtag sitzt, räumt ein, dass die Jugendlichen das Heim eigentlich nur mit einer Begleitperson hätten verlassen dürfen. Am Tattag aber waren sie alleine unterwegs. Pfaffmann entschuldigt das nicht – aber er spricht von chronisch unterfinanzierten Jugendheimen und vom täglichen Kampf um junge Menschen wie Sebastian. Dem Jungen, erzählt Pfaffmann, sei ein guter Therapieverlauf bescheinigt worden; auf der Suche nach einer Lehrstelle sei er gewesen. Was am 12. September 2009 falsch gelaufen ist? Die Frage – so Pfaffmann - müsse im Prozess beantworten werden.
"Also die Rückmeldung der therapeutischen Einrichtung gab Anlass zur Hoffnung. Warum es dann doch eskaliert ist, wird der Prozess zeigen. Ich würde mal so sagen, da gab es verschiedene Umstände, die zu dieser Gewalteskalation geführt hat."
Dass seine Einrichtung eine Mitschuld trage an der Tat von Solln, weist Pfaffmann weit von sich. Natürlich hätte man im Nachhinein die Ereignisse evaluiert, was damals falsch gelaufen sei und verbessert werden müsse:
"Geändert hat sich sicherlich, dass wir noch intensiver diagnostizieren und Gefahrenpotenzial versuchen zu analysieren, aber Condrobs hat sich in der Causa Brunner nichts vorzuwerfen. Wir sind sehr gut aufgestellt, die Therapie für diese jungen Leute war gut. Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran. Es ist aber immer so, dass man immer noch einiges besser machen kann, aber eine bessere Therapie bedeutet mehr finanzielle Ressourcen."
Ab Dienstag sitzen die mutmaßlichen Täter auf der Anklagebank. An neun Sitzungstagen sollen 53 Zeugen gehört werden. Darunter die vier Schüler, die Dominik Brunner beschützte. Noch ist der Prozess vor der Jugendkammer des Münchner Landgerichts als öffentlich angekündigt. Das Gericht kann im letzten Moment aber entscheiden, dass nichtöffentlich verhandelt wird. Die Staatsanwaltschaft wirft den beiden Angeklagten Mord vor; das Mordmotiv: niedrige Beweggründe, im Fall Dominik Brunner wohl Rache. Zur Anklageschrift Gerichtssprecherin Margarete Nötzel.
"Also im Kernpunkt lautet die Anklage auf versuchte räuberische Erpressung. Das bezieht sich auf die Jugendlichen, die um ihr Geld erleichtert werden sollen und auf Mord zum Nachteil des Herrn Brunner."
Der Ausgang des Verfahrens ist völlig offen. Denn der Tathergang ist nach wie vor unklar. Was am 12. September 2009 auf dem S-Bahnsteig in Solln genau geschehen ist, steht bis heute nicht eindeutig fest. Noch sei nicht bewiesen, ob sein Mandant als erster zugeschlagen habe, betont der Verteidiger von Markus S., Maximilian Pauls. Der Anwalt verweist auf Zeugenaussagen: Verschiedene Personen, darunter der Zugführer, wollen gesehen haben, dass die jungen Männer beim Verlassen der S-Bahn einen ruhigen Eindruck gemacht hätten. Weiter sollen die Zeugen berichtet haben, dass Brunner nach dem Aussteigen seine Jacke abgelegt und als erster zugeschlagen hätte. Der Verteidiger hält es also für möglich, dass sich die mutmaßlichen Täter von ihrem späteren Opfer provoziert fühlten. Er hält es wohl auch für möglich, dass sich der Freizeitkickboxer Brunner von den jungen Männern gedemütigt fühlte oder sich noch immer bedroht sah.
Der Held von Solln also selbst schuld? Das ist zugespitzt die provokante Frage, die Verteidiger Maximilian Pauls vor Prozessbeginn aufwirft. Vor Gericht werden die Zeugenaussagen unter anderem des Zugführers eine wichtige Rolle spielen. Denn für die juristische Bewertung der Tat könnte der genaue Tatablauf entscheidend werden: Der Mordvorwurf der Staatsanwaltschaft könnte ins Wanken geraten, falls das Gericht zum Schluss kommen sollte, dass Dominik Brunner mit dem Schlagen angefangen hat.
Der Konfirmationspfarrer von Sebastian L. beispielsweise glaubt nicht an die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft. Er beschreibt Sebastian als einen schmächtigen Junge, den "jeder umpusten könne". Seinen Namen will der Pfarrer an dieser Stelle nicht hören, er glaubt aber zu wissen, dass Dominik Brunner dem Jungen zuerst das Nasenbein gebrochen hatte, danach "tickten die Jungs eben aus".
Doch entschuldigt das die Brutalität, mit der die beiden angetrunkenen Jugendlichen zugeschlagen haben? Laut Zeugen hätten sie noch auf den Geschäftsmann eingetreten, als der schon hilflos am Boden lag. Laut Obduktionsergebnis fügten sie ihrem Opfer innerhalb weniger Minuten 22 sehr schwere und 22 leichte Verletzungen zu. Die schweren Verletzungen hätten in ihrer Summe zum Tod von Dominik Brunner geführt. Am 29. Juli bereits soll am Münchner Landgericht voraussichtlich ein Urteil gesprochen werden. Gerichtsprecherin Nötzel zum möglichen Strafmaß:
"Wenn sie nach Jugendstrafrecht verurteilt werden, höchstens zehn Jahre. Einer von den beiden ist Jugendlicher, wird auf jeden Fall nach Jugendstrafrecht behandelt, der andere war zum Tatzeitpunkt Heranwachsender. Da muss das Gericht entscheiden, ob Jugendstrafrecht angewandt werden soll oder nicht. Wenn Erwachsenenstrafrecht angewandt würde, hätte er schlimmstenfalls eine lebenslange Freiheitsstrafe zu erwarten."
Der Bahnhof Solln im Juli 2010. Wer sich hier auf die Suche macht nach einer Erinnerung an den tödlichen Verfall vor zehn Monaten, findet nichts. Kein Hinweis, kein Schild, kein Gedenkstein. Ab und an sehe man am Tatort noch einen Strauss Blumen liegen, erzählt eine Anwohnerin. Wenige Tage vor Beginn des Prozesses gegen die mutmaßlichen Täter liegt dort nichts:
"Anfang der Woche lag vorne noch einer, ja alle zwei Wochen kommt da ein neuer dazu. Klar, man läuft ja hier jeden Tag vorbei. Das ist schon noch präsent."
Im Minutentakt halten die S-Bahnen in Solln. Im Bahnhofsstüberl wird eifrig über die Fußball-WM diskutiert. Das Leben geht weiter.
"Das ist tragisch. Natürlich denkt man dran, zwischendurch, aber nicht mehr jeden Tag. Das hat mich damals mehr bewegt, denn ich wohne 50 Meter Luftlinie von hier. Das hat mich überrascht, Solln ist ja nicht gerade die Bronx, aber, nein, das bewegt mich jetzt nicht mehr sehr, und ich denke nicht jedes Mal daran, wenn ich hier vorbei gehe."
Am Bahnhof in Solln soll bald eine Gedenktafel an das couragierte Verhalten von Dominik Brunner erinnern. In seinem niederbayerischen Heimatort Ergoldsbach trägt künftig eine Kindertagesstätte seinen Namen. Davor soll eine über zwei Meter hohe Skulptur stehen: ein Mann, der ein kleines Kind beschützt. Der 50-Jährige gilt als Held. Er ist einer, der sterben musste, weil er helfen wollte. Nicht nur in seinem Heimatort wollen die Menschen, dass Dominik Brunner zu einem Symbol für Zivilcourage wird. Am Tatort, in Münchner Stadtteil Solln ist ein 17-Jähriger skeptisch, er macht einen anderen Vorschlag:
"Ich weiß ja nicht, wie man der Berichterstattung glauben darf, die einen sagen, er war ein Held, aber dann heißt es im Gerichtsprotokoll, er hätte in Kampfhandlung dort gestanden. Ich weiß nicht, eigentlich nein. Ich finde, es sollte ein Mahnmal vielleicht geben, weil alle drum herum standen und zugeschaut haben. Aber den Mann zu verehren, weil er unglücklicherweise gestorben ist, das macht ihn für mich nicht gleich zum Helden."